Angriff auf die Neutralität

Seit wann vernachlässigen die österreichischen Regierungen die Neutralität?

von Daniel Jenny, Österreich

Am 14. Juli 1984 richtete der österreichische Aussenminister Alois Mock (ÖVP) ein Schreiben an seinen französischen Amtskollegen und amtierenden Präsidenten des Rates der Europäischen Gemeinschaften, Roland Dumas, mit dem Österreich offiziell ein Gesuch auf Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften stellt. Er schreibt: «Österreich geht bei der Stellung dieses Antrages von der Wahrung seines international anerkannten Status der immerwährenden Neutralität aus, die auf dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 beruht, sowie davon, dass es auch als Mitglied der Europäischen Gemeinschaften auf Grund des Beitrittsvertrages in der Lage sein wird, die ihm aus seinem Status als immerwährend neutraler Staat erfliessenden rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortzusetzen.»
  Die damalige Regierung mit Bundeskanzler Fred Sinowatz (SPÖ) und Vizekanzler Norbert Steger (FPÖ) hatte den Wunsch der Österreicher, auch bei einem Eintritt in die damaligen Europäischen Gemeinschaften neutral zu bleiben, respektiert und das Beitrittsgesuch mit einem Neutralitätsvorbehalt versehen.
  In den Jahren 1988 und 1989 sind folgende Parteien und Institutionen für einen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften:

  • die FPÖ1,
  • der Österreichische Gewerkschaftsbund stellt zwar Forderungen für den Beitritt, ist aber nicht dagegen,2
  • die ÖVP3,
  • Die Vereinigung Österreichischer Industrieller4.

Gegen einen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften sprechen sich aus:

  • die Grünen5,
  • die KPÖ6.

Am 31. Juli 1992 antwortete die EG-Kommission zum Beitrittsantrag Österreichs, der 1989 ohne formellen Neutralitätsvorbehalt gestellt wurde, mit einer Stellungnahme7. Die EU ging auf die Vereinbarkeit mit der dauernden Neutralität Österreichs wie folgt ein:
  «Mögliche Lösungen für die aus der Neutralität Österreichs resultierenden Probleme: Die Lösungen für die oben aufgezeigten rechtlichen Probleme müssen in den Beitrittsverhandlungen erarbeitet werden, und zwar

  1. entweder durch eine Neudefinierung des Neutralitätsstatus durch Österreich (die den Partnern notifiziert werden müsste)
  2. oder durch eine in der Beitrittsakte verankerte Ausnahme vom Vertrag.»

Diese Stellungnahme ist aufschlussreich. Die EG-Kommission wies Österreich auf zwei Möglichkeiten hin:

  1. Im ersten Fall hätte Österreich seinen Neutralitätsstatus so neu definieren müssen, dass er mit der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der in Entstehung begriffenen EU vereinbar ist, und alle anderen Staaten darüber informieren müssen.
  2. Im zweiten Fall wurde Österreich der Weg aufgezeigt, in den Beitrittsakten Österreichs Ausnahmen zum «Vertrag über die Europäische Union» zu verhandeln.

Am 1. Februar 1993 wurden die formalen Beitrittsverhandlungen gestartet8, die bis zu ihrem Abschluss am 12. April 19949 gedauert haben. Österreich hatte damals die Regierung mit Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und Vizekanzler Erhard Busek (ÖVP)10. Offensichtlich ist damals die Entscheidung gefallen, die zweite Option nicht weiter zu verfolgen und keine Ausnahmeregelung zu erwirken. Österreich hat keine Vertragsausnahme erwirkt, wie es andere Staaten wie Dänemark und Grossbritannien erreicht haben. Diese Länder haben gezeigt, dass es möglich war, Ausnahmen aus den Verträgen zugestanden zu bekommen (Grossbritannien z.B. «Briten-Rabatt», Dänemark z.B. «EU-Verteidigungsvorbehalt», der mit Volksabstimmung 2022 aufgegeben wurde).
  Österreich hat das nicht erreicht, höchstwahrscheinlich auch gar nicht versucht – die Verhandlungen waren vertraulich –, weil es de facto ein vereinbarter Neutralitätsvorbehalt gewesen wäre. Einen Neutralitätsvorbehalt hat Alois Mock (ÖVP) damals aber dezidiert ausgeschlossen. Die «irische Klausel» und die «konstruktive Enthaltung» waren zwar Möglichkeiten, die den neutralen Staaten in der EU für ein eigenständiges neutrales Verhalten zugestanden wurden. Diese bildeten aber keine «in den Beitrittsakten vereinbarte Ausnahme»11. Es ist kaum zu glauben: Offensichtlich haben die österreichischen Verhandlungsführer die erste Option, die einer Aufgabe der Neutralität innerhalb der EU gleichkam, gewählt! Seitdem sprechen die Regierungen davon, dass man neutral ist, meinen damit aber nur neutral ausserhalb der EU, was mit dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht unvereinbar ist. Daher tut man bis zum heutigen Tag im Gleichklang mit der EU alles. Das verletzt aber die völkerrechtlichen Neutralitätspflichten. Die österreichischen Regierungen vertreten bis heute nicht ernsthaft und ehrlich diese Pflichten der Neutralität. 

Die Neutralität von
 Österreich bleibt trotzdem aufrecht

Auch heute sind sich 80% der Österreicher einig, an der Neutralität festhalten zu wollen.12 Für sie stellt die Neutralität ein friedensstiftendes und für die ganze Welt sinnvolles Instrument dar, das auch ein Teil der eigenen Identität geworden ist.
  Wie Univ. Prof. Dr. Michael Geistlinger am 28. März 2023 bei einem öffentlichen Vortrag in Ansfelden ausführte, sind die Vertragsbestimmungen der Europäischen Union nichts anderes als ein Gründungsvertrag einer regionalen internationalen Organisation13: «Die Europäische Union wird gerne als Superstar gesehen, aber rein rechtlich, rein völkerrechtlich, ist sie nichts anderes als eine regionale internationale Organisation. Als regionale internationale Organisation ist die Europäische Union ans Völkerrecht gebunden. Im EU-Vertrag bekennt sie sich ausdrücklich zu den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen.» (Übrigens wäre es besser, wenn sich die EU an die Satzung der Vereinten Nationen hielte, anstelle nur an deren Grundsätze.) Auch wenn es vom österreichischen Bundespräsidenten geäussert wird, ist es nicht richtig zu sagen, dass die Solidaritätspflichten aus der EU den Völkerrechtspflichten vorgehen. Das ist gerade nicht der Fall. Prof. Geistlinger weiter: «Sondern das universelle Völkerrecht geht der regionalen internationalen Organisation vor. Unsere Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität ist eine Pflicht aus dem universellen Völkerrecht. Wenn wir gegenüber der Europäischen Union Verpflichtungen eingehen, die mit unseren universellen Verpflichtungen nicht übereinstimmen, sind wir gegenüber der EU zwar schuldig, aber vom universellen Völkerrecht her ist es geboten, auch gegen die Europäische Union zu handeln.» Der Völkergemeinschaft gegenüber gelten also die Pflichten und Rechte für den neutralen Staat nach wie vor. Leider höhlen unsere Regierungen die Neutralität aus, da wir die Pflichten der Neutralität zu wenig ernst nehmen.

Vorauseilender Gehorsam

Anstatt wegen des neutralen Status während der Beitrittsverhandlungen mit den EG/der EU Ausnahmeregelungen zu erwirken, wählte die damalige Regierung einen anderen Weg: Man diente sich der EU an, als im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen der Zweite Golf-Krieg heraufzog.
  Der Zweite Golf-Krieg begann mit der Eroberung Kuwaits durch den Irak am 2. August 1990. Die inszenierte Aussage einer kuwaitischen Diplomatentochter am 10. Oktober 1990 vor dem US-Kongress über die angebliche Tötung von Neugeborenen durch irakische Soldaten hatte erheblichen Einfluss auf die amerikanische öffentliche Meinung und führte zu einer weitgehenden Befürwortung eines Kriegseinsatzes in den USA. Der Uno-Sicherheitsrat erliess eine Resolution, in der – ausnahmsweise – auch der Einsatz von militärischer Gewalt zugelassen wurde: Die Resolution 67814 vom 29. November 1990 «ermächtigt[e] die Mitgliedsstaaten, die mit der Regierung Kuwaits kooperieren, für den Fall, dass Irak die […] genannten Resolutionen bis zum 15. Januar 1991 nicht […] vollständig durchführt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990)15 [gemeint ist der Abzug aus Kuwait] [… ] Geltung zu verschaffen […] und die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen». Ab dem 16. Januar 1991 begann eine Koalition, angeführt von den USA und legitimiert durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrates, mit Kampfhandlungen die Befreiung Kuwaits.16 Allerdings war in dieser Resolution auch enthalten, dass alle Staaten ersucht werden, «die […] ergriffenen Massnahmen in geeigneter Weise zu unterstützen». Mit «geeignet» war gemeint, dass neutrale Staaten auf Grund ihres völkerrechtlich akzeptierten Status davon ausgenommen sind.
  Leider sah die damalige Regierung mit Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und Vizekanzler Josef Riegler (ÖVP) dies anders und meinte, dass wir uns nicht beteiligen können, aber die Flüge über unser Bundesgebiet wegen der Resolution zulassen. Dieses Verhalten passt aber nicht zur Neutralität. Gerade deshalb hat der Sicherheitsrat ausdrücklich formuliert: «in geeigneter Weise zu unterstützen». Die Respektierung der österreichischen Neutralität wäre nötig gewesen. Damals wurden aber nicht nur die Überflüge, sondern auch Transporte gutgeheissen. Die durch Österreich transportierten Panzer waren «Bergepanzer» und keine «normalen» Panzer. Die Regierung hat sich der EU angedient. Warum? Wollte man die EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen überzeugen, dass man auf den neutralen Status verzichtet, falls es erforderlich ist? Hat der transatlantische Hegemon über die EU-Strukturen verlangt, dass Österreich  auf die Neutralität verzichten soll? Wurde Druck ausgeübt?

Erzwungene Gefolgschaft

Ein ähnlicher Ablauf war bei der Ost-Erweiterung der Nato und der EU zu beobachten. Sämtliche Staaten des ehemaligen militärischen Beistandsbündnisses «Warschauer Pakt» wurden etappenweise zuerst in die Nato und in einem zweiten Schritt in die EU aufgenommen. Die erste Nato-Ost-Erweiterung der Beitrittsrunde von Polen, Tschechien und Ungarn erfolgte am 12. März 1999. Die zweite Nato-Ost-Erweiterung mit Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien geschah in der Beitrittsrunde vom 29. März 2004. Einzig Malta und Zypern waren von einer Nato-Mitgliedschaft verschont geblieben.
  Beim völkerrechtswidrigen Angriff der USA im Frühjahr 2003 auf den Irak im Dritten Golf-Krieg mussten ausnahmslos alle zehn neu aufgenommenen Länder die USA politisch und militärisch als Koalition der Willigen17 unterstützen. Nur Malta, Österreich und Zypern blieben von der direkten Teilnahme an der Koalition verschont.
  Erst in einem späteren Schritt, am 1. Mai 2004, erreichten die zehn Länder, dass sie nach dem Erfüllen der «Kopenhagener Kriterien»18 nun die «Fähigkeit mitbringen, den mit einer EU-Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen nachzukommen und zum Beispiel alle EU-Vorschriften umzusetzen und die Ziele der EU zu unterstützen». Diese zehn waren Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Malta und Zypern. Am 1.Januar 2007 sind schliesslich Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten.
  Ist es Zufall, dass zuerst ihr Beitritt in die Nato erfolgte, dann ein Kriegseinsatz erzwungen wurde und erst anschliessend die «Kopenhagener Kriterien» der EU erfüllt wurden? Es macht den Anschein, dass die EU nur den politischen Arm der Nato bildet. Könnte dies der Grund sein, warum Österreich bereits 1991 die drei Neutralitätspflichten, die 1955 im Rahmen eines «einseitigen Rechtsgeschäftes» mit der Völkergemeinschaft vereinbart wurden, nicht einhalten durfte? Die drei Pflichten sind Abstinenzpflicht, Gleichbehandlungspflicht und keine Zurverfügung-stellung österreichischen Territoriums für Kriegsführende. Ist das so schwierig?
  Wir meinen, die Sicherheit eines Staates nimmt in einem Bündnis ab, da man nicht mehr selbst über Krieg und Frieden entscheiden kann. Allianzen wollen stets grösser werden. Sie sind der Macht, nicht dem Frieden verpflichtet. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Neutralitätsverpflichtungen einhalten. Friedensstifter sind gefragt.  •



1 https://www.cvce.eu/de/obj/entschlie%C3%9Fungsantrag_der_fpo_betreffend_die_aufnahme_von_beitrittsverhandlungen_mit_der_eg_27_november_1987-de-101722dd-877a-4b8c-aa04-0a05e79cae96.html
2 https://www.cvce.eu/de/obj/europa_memorandum_des_osterreichischen_gewerkschaftsbundes_6_dezember_1988-de-17d7fc58-bc40-4435-b75c-ac8cd04b3f87.html
3 https://www.cvce.eu/de/obj/europa_manifest_der_osterreichischen_volkspartei_ovp_23_mai_1988-de-30e56e53-2fcb-4ab7-b33d-0fc096b757e1.html 
4 https://www.cvce.eu/de/obj/stellungnahme_der_vereinigung_osterreichischer_industrieller_zur_europaischen_integration_europa_unsere_zukunft_wien_1987-de-51284fca-1239-4766-aba2-fd0ee07c7752.html
https://www.cvce.eu/de/obj/europamanifest_der_osterreichischen_grunen_alternative_februar_1989-de-9ad04f3d-2c40-44c1-bb83-944a04e6e5ac.html
6 https://www.cvce.eu/de/obj/denkschrift_der_kommunistischen_partei_osterreichs_hinsichtlich_des_eg_beitritt_osterreichs_1988-de-7e7e8587-8c06-40e2-b83e-ae70e03c9eb9.html 
7 https://www.cvce.eu/de/obj/stellungnahme_der_kommission_zum_beitrittsantrag_osterreichs_31_juli_1992-de-e22a3d78-7ef1-46e1-8dbb-f4db7c584fc4.html
8 https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/at25eu/hintergrundinfo/oesterreichs-weg-in-die-eu.html
9 Mit dem In-Kraft-Treten des Vertrages gliederten sich am 1. November 1993 die Europäischen Gemeinschaften in die Europäische Union (EU) ein. Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Europ%C3%A4ischen_Union
10 https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/geschichte/regierungen-seit-1945.html
11 E-Mail vom 1.2.2024, 16:00 Uhr
12 https://exxpress.at/exxpress-umfrage-bestaetigt-eindeutig-80-wollen-neutralitaet-behalten/
13 https://nfoe.at/2023/03/28/vortrag-mit-univ-prof-dr-michael-geistlinger-28-3-2023/
14 https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_90/sr678-90.pdf
15 https://de.wikipedia.org/wiki/Resolution_660_des_UN-Sicherheitsrates
16 https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Golfkrieg
17 https://de.wikipedia.org/wiki/Koalition_der_Willigen
18 https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/eu-enlargement_de

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