«Automatisierter Mord»: Israels «KI» in Gaza

von Patrick Lawrence und Cara Marianna*

«Der technologische Wandel hilft der Menschheit zwar, die Herausforderungen zu bewältigen, die die Natur uns auferlegt, führt aber zu einem Paradigmenwechsel: Wir sind nicht mehr, sondern weniger in der Lage, unsere intellektuellen Fähigkeiten zu nutzen. Langfristig schränkt er unseren Verstand ein. Wir streben danach, uns zu verbessern, und riskieren gleichzeitig einen Rückfall in die Steinzeit, wenn unsere immer komplexere, immer fragilere technologische Infrastruktur zusammenbricht.»**

Das sagte Hans Köchler, ein renommierter Wiener Wissenschaftler und Präsident der International Progress Organization1, einer weltweit tätigen Denkfabrik, am Donnerstagabend, dem 4. April, bei einem Vortrag. Das Datum ist bezeichnend: Am Tag vor Köchlers Rede berichteten +972 Magazine und Local Call2, zwei unabhängige israelisch-palästinensische Publikationen, dass die israelischen Streitkräfte bei ihrer brutalen Invasion des Gaza-Streifens ein Programm der künstlichen Intelligenz namens Lavender einsetzen, das bisher etwa 37 000 Palästinenser als Tötungsziele markiert hat. In den ersten Wochen der israelischen Belagerung, so die von +972 zitierten israelischen Quellen, «erteilte die Armee den Offizieren die pauschale Erlaubnis, die Tötungslisten von Lavender zu übernehmen, ohne gründlich zu überprüfen, warum die Maschine diese Entscheidungen traf, oder die nachrichtendienstlichen Rohdaten zu untersuchen, auf denen sie beruhten.»

Entmenschlichende Auswirkungen

Diese Enthüllungen beruhen auf vertraulichen Interviews mit sechs israelischen Geheimdienstmitarbeitern, die direkt am Einsatz von KI zur Ermordung von Palästinensern beteiligt waren. Es war erschreckend, von Hans Köchler ein paar Nachrichtenzyklen danach zu hören: «Der Einsatz von Technologien zur Lösung all unserer Probleme verringert unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen», so Köchler. «Wir sind nicht mehr in der Lage, Probleme zu durchdenken. Sie entziehen uns dem realen Leben.»
  Hans Köchler nannte seinen Vortrag «Die Trivialisierung des Öffentlichen», und sein Thema war, kurz gesagt, die Auswirkung von Technologien wie digitaler Kommunikation und KI auf unsere Gehirne, unser Verhalten und insgesamt unsere Menschlichkeit. Es war ernüchternd, um es milde auszudrücken, zu erkennen, dass Israels Belagerung des Gaza-Streifens, die an sich schon abgrundtief verwerflich ist, uns die entmenschlichenden Auswirkungen dieser Technologien auf alle, die von ihnen abhängig sind, direkt vor Augen führt.
  Schauen wir mit Entsetzen zu, und sehen wir darin unsere Zukunft!

KI ist keine Intelligenz

Wir sehen in den IDF [Israel Defence Forces], um es anders auszudrücken, einen Bruch in der Moral, der menschlichen Intelligenz und der Verantwortung, wenn die menschliche Aufsicht durch die Algorithmen vermittelt wird, die KI-Systeme steuern. Es gibt einen Bruch zwischen Kausalität und Ergebnis, Aktion und Konsequenz. Und genau das ist es, was die fortgeschrittenen Technologien für den Rest der Menschheit bereithalten. Künstliche Intelligenz ist, wie Köchler es ausdrückt, keine Intelligenz: «Sie ist ‹simulierte Intelligenz›, denn sie kann kein Selbstbewusstsein generieren.» Sie sei nicht fähig, moralische Entscheidungen zu treffen oder ethische Verantwortung zu übernehmen.

«Lavender» –
 wahllose Tötungen ganzer Familien

Im Fall von Lavender3 wurden die von ihm erzeugten Daten akzeptiert und so behandelt, als wären sie von einem Menschen erzeugt worden, ohne dass eine tatsächliche menschliche Aufsicht oder eine unabhängige Überprüfung stattfand. Ein zweites KI-System mit dem sadistischen Namen Where’s Daddy?4 – und wie krank ist das? – wurde dann eingesetzt, um Hamas-Verdächtige zu ihren Häusern zu verfolgen. Die IDF nahmen verdächtige Kämpfer absichtlich ins Visier, während sie sich bei ihren Familien aufhielten, und verwendeten dabei ungelenkte Raketen oder «stumme» Bomben. Diese Strategie hatte den Vorteil, dass Israel seine teureren präzisionsgelenkten Waffen, die «intelligenten» Bomben, behalten konnte.
  Wie eine der Quellen von +972 dem Magazin mitteilte:
  «Wir waren nicht daran interessiert, [Hamas]-Aktivisten nur dann zu töten, wenn sie sich in einem militärischen Gebäude befanden oder an einer militärischen Aktivität beteiligt waren […].» Im Gegenteil, die IDF bombardierten sie ohne zu zögern in ihren Häusern, als erste Option. Es ist viel einfacher, das Haus einer Familie zu bombardieren. Das System ist so aufgebaut, dass es in diesen Situationen nach ihnen sucht.
  Sobald Lavender einen potentiellen Verdächtigen identifiziert hatte, hatten die IDF-Mitarbeiter etwa 20 Sekunden Zeit, um sich zu vergewissern, dass es sich bei der Zielperson um einen Mann handelte, bevor sie die Entscheidung zum Angriff trafen. Es gab keine weitere menschliche Analyse der «geheimdienstlichen Rohdaten». Die von Lavender generierten Informationen wurden wie ein «Befehl» behandelt, so Quellen gegenüber +972 – ein offizieller Befehl zum Töten. Angesichts der Strategie, Verdächtige in ihren Häusern ins Visier zu nehmen, legten die IDF akzeptable Tötungsquoten für ihre Bombardierungskampagnen fest: 20 bis 30 Zivilisten für jeden Hamas-Aktivisten der unteren Ebene. Bei Hamas-Führern mit dem Rang eines Bataillons- oder Brigadekommandeurs, so die Quellen von +972, «hat die Armee bei mehreren Gelegenheiten die Tötung von mehr als 100 Zivilisten bei der Ermordung eines einzigen Kommandeurs genehmigt».
  Mit anderen Worten: Die israelische Politik, die von der KI-Technologie gelenkt und unterstützt wurde, machte es unvermeidlich, dass Tausende von Zivilisten, viele von ihnen Frauen und Kinder, getötet wurden.

«Vermarktung von automatisiertem Mord»

Es gibt offenbar keine Aufzeichnungen über den Einsatz von KI-Programmen wie Lavender und Where’s Daddy? durch andere Militärs. Aber es ist reine Naivität anzunehmen, dass sich diese teuflische Nutzung fortschrittlicher Technologien nicht auch anderswo ausbreiten wird. Israel ist bereits der weltweit führende Exporteur von Überwachungs- und digitalen Forensik-Tools. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete bereits im Februar5, dass Israel den Gaza-Streifen als Waffentestgelände nutzt, um diese Instrumente als kampferprobt zu vermarkten. Antony Lowenstein, ein Autor, den Anadolu zitiert, nennt dies die Vermarktung von «automatisiertem Mord».
  Und hier befinden wir uns: Die israelische Tageszeitung «Haaretz» berichtete am 5. April6, dass «intelligente» Waffen, die sich im Gaza-Streifen als wirksam erwiesen haben, die Hauptattraktion waren, als Israel sie letzten Monat auf der Singapore Airshow, dem grössten Waffenbasar Ostasiens, vorstellte.
  Hans Köchler, der sich seit vielen Jahren mit den Auswirkungen der digitalen Technologien befasst, hat den Bericht des Magazins +972 offenbar nicht gelesen, bevor er letzte Woche seinen Vortrag hielt. Um so beunruhigender waren seine Äusserungen. Er beschrieb nicht – nicht speziell – die Mörder, die Lavender und andere derartige Technologien in Gaza einsetzen. Wir alle werden durch diese faustischen Technologien leben und sterben: Dies, unser gemeinsames Schicksal, war das Thema von Köchler. In den vergangenen sechs Monaten hat Israel nämlich die Entmenschlichung angekündigt, die uns alle erwartet, denn KI-Systeme sind Technologien, gegen die wir uns kaum wehren können. «Das selbstbestimmte Handeln weicht der digitalen Kompetenz», sagte Köchler. «Wir verlieren die Fähigkeit, zwischen ‹real› und ‹virtuell› zu unterscheiden.»

Weitere «israelische Verderbtheiten»
 und ihre Narrative im Westen

Neben dem +972-Bericht über den Einsatz von künstlicher Intelligenz gab es in dieser Woche weitere erschütternde Nachrichten über israelische Verderbtheiten. In seiner Ausgabe vom 3. April enthüllte «The Guardian»7, dass die IDF absichtlich Scharfschützen und Quadcopter – ferngesteuerte Scharfschützen-Drohnen – einsetzt, um Kinder zu töten. Der Beweis dafür stammt von US-amerikanischen und kanadischen Ärzten, die während ihres Einsatzes im Gaza-Streifen viele Kinder mit Wunden behandelten, die mit denen von Scharfschützenkugeln übereinstimmen und leicht als solche zu identifizieren sind. Diese sind grösser als die üblicherweise im Kampf verwendete Munition, da sie eher zum Töten als zum Verwunden gedacht sind. 
  Das Biden-Regime geht nie auf diese barbarischen Entwicklungen ein, und unsere Medien, mit seltenen Ausnahmen wie dem soeben zitierten Artikel im «Guardian», berichten fast nichts darüber. Die offiziellen und medialen Darstellungen der Ereignisse in Gaza, ihre «Narrative» stehen in krassem Widerspruch zu diesen Realitäten. Wie, so müssen wir uns fragen, kommen sie mit diesen tagtäglichen Unehrlichkeiten durch? Dies war die offensichtliche Frage in der letzten Woche, angesichts der Extreme, zu denen sich die Kriminalität der IDF jetzt ausweitet.
  Wenn Sie Lavender und «The New York Times» googeln, erhalten Sie «Lavender Oil Might Help You Sleep» und ähnlich frivole Schlagzeilen. Auch die «Times» hat die Untersuchung von +972 mit keinem Wort erwähnt. Wenn man die detaillierten Berichte über die Luftangriffe auf die drei Fahrzeuge der World Central Kitchen (WCK) vom 1.April liest, bei denen sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation getötet wurden, ist es offensichtlich, dass das israelische Militär systematisch einen Lastwagen nach dem anderen ins Visier nahm, bis alle drei zerstört waren – und das, nachdem die WCK den Einsatz der Fahrzeuge sorgfältig mit den israelischen Behörden abgestimmt hatte. Diese Tötungen stehen ganz im Einklang mit der Direktive8, die Yoav Gallant, Israels abscheulicher Verteidigungsminister, am 9. Oktober herausgab: «Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, keinen Treibstoff geben, alles wird geschlossen.»
  Und was haben wir in den Mainstream-Medien über diesen Vorfall gelesen?
  Wie üblich war das israelische Militär befugt, gegen das israelische Militär zu ermitteln – eine Absurdität, die von keinem US-Beamten und keinem Medienbericht in Frage gestellt wurde. Am 5. April gab die IDF bekannt, dass zwei Offiziere entlassen und drei weitere wegen «falscher Handhabung kritischer Informationen» verwarnt wurden. Präsident Biden erklärte, er sei «untröstlich». Die «New York Times» bezeichnete den Angriff als «verpfuschte Operation»9 und erklärte, dass die höchsten Offiziere der IDF «gezwungen waren, eine Reihe von tödlichen Fehlern und Fehleinschätzungen zuzugeben». Immer wieder hören wir den Refrain, dass Israel «nicht genug tut, um Zivilisten zu schützen».
  Es handelte sich also um einen bedauerlichen Unfall, wie wir feststellen müssen. Israel tut sein Bestes. Es hat die ganze Zeit sein Bestes getan. Dem gegenüber steht die nackte Statistik: Die IDF hat seit Beginn der Belagerung im vergangenen Oktober mehr als 220 humanitäre Helfer getötet, wenn man nach der Zählung der Vereinten Nationen geht. Wie kann man nur glauben, dass es sich dabei um mehr als 220 Unfälle handelt? «Um es ganz klar zu sagen. Dies ist keine Anomalie», sagte ein Oxfam-Mitarbeiter, Scott Paul, nach dem WCK-Angriff. «Die Tötung von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen in Gaza hat System.»

Leben in virtuellen Welten

Es gibt eine Realität und eine Meta-Realität. Wie stehen die beiden nebeneinander? Auf welche Weise erweist sich die letztere, die beschworene «Realität», als so wirkungsvoll? Wie kommt es, dass so viele das «Narrativ» der über 220 Unfälle akzeptieren? Warum akzeptieren so viele Menschen Propaganda und Lügen, obwohl sie unterschwellig wissen, dass sie ständig mit Lügen und Propaganda gefüttert werden?
  Ich möchte noch einmal auf Hans Köchler zurückkommen. In seinem Vortrag und in verschiedenen seiner zahlreichen Bücher argumentiert er, dass die elektronischen Medien – allen voran das Fernsehen – die Menschen darauf konditioniert haben, sich für Informationen auf Bilder und Bildfolgen zu verlassen, anstatt zu lesen. «Sie verlieren die Fähigkeit, Texte zu analysieren, und damit die Fähigkeit, Probleme zu verstehen», sagte er. «Die Menschen leben in virtuellen Welten.»
  Wir können uns keine bessere Beschreibung für die «Narrative» vorstellen, die das Biden-Regime vorantreibt und die von den Konzernmedien verbreitet werden: Sie präsentieren uns eine virtuelle Welt – wohl wissend, dass die meisten von uns, die an Bilder und Bildfolgen gewöhnt sind, diese virtuelle Welt mit der Realität verwechseln werden, genau wie Köchler warnt. Wie ist es möglich, einen Völkermord in Echtzeit zu beobachten, ohne dass jemand etwas sagt? Wissen hat keinen Wert mehr. Alles ist möglich, und wenn alles möglich ist, ist nichts möglich.

Völkermord von US-Gnaden

Das Biden-Regime versorgt Israel mit Waffen, damit es seine kriminelle Belagerung der 2,3 Millionen Palästinenser im Gaza-Streifen  verfolgen kann. Es gibt dem Apartheidsstaat diplomatischen Schutz bei den Vereinten Nationen und rechtlichen Schutz beim Internationalen Gerichtshof. Es verzerrt und verschleiert das «steinzeitliche» Verhalten der IDF. All dies verlangt von uns, dass wir jetzt nicht von Israels Völkermord sprechen, sondern von dem israelisch-amerikanischen Völkermord.
  Aber das Biden-Regime ist auch schuld daran, dass der Menschheit diese vielfachen Wunden in einer anderen Dimension zugefügt werden, die wir nicht übersehen dürfen. Mit seinen unaufhörlichen Versuchen, uns in eine von ihm geschaffene virtuelle Realität zu versetzen, die weit entfernt ist von dem, was es in unserem Namen tut, führt es uns in die entmenschlichte, grotesk technologisierte Zukunft, die Hans Köchler ebenso sicher beschreibt wie es die Israeli tun, die mit KI-Waffen Menschen in grossem Stil ermorden und unschuldige Kinder mit ferngesteuerten Scharfschützendrohnen töten.  •

Erstveröffentlichung in ScheerPost vom 9.4.2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)



** Die Übersetzung der Zitate von Hans Köchler folgt dem englischsprachigen Artikel in Scheerpost und nicht der schriftlichen Ausarbeitung des Vortrags von Hans Köchler: https://i-p-o.org/Koechler-DIE-TRIVIALISIERUNG-DES-OEFFENTLICHEN-Vortrag-04-04-24-IPO-2024.pdf

1 https://i-p-o.org
2 https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/
3 ebenda
4 https://www.businessinsider.com/israel-ai-system-wheres-daddy-strikes-hamas-family-homes-2024
5 https://www.aa.com.tr/en/middle-east/israel-testing-new-weapons-in-gaza-for-global-sales-laying-blueprint-for-automated-murder-with-ai-expert/3137263
6 https://www.haaretz.com/israel-news/2024-04-05/ty-article-magazine/.highlight/at-singapore-airshow-the-gaza-war-was-a-selling-point-for-israeli-weapon-manufacturers/0000018e-aa7f-dc75-afde-faff383b0000
7 https://www.theguardian.com/world/2024/apr/02/gaza-palestinian-children-killed-idf-israel-war#:~:text=“This%20is%20not%20a%20normal,stain%20on%20our%20shared%20humanity.”
8 https://www.aljazeera.com/opinions/2024/4/7/dont-feed-the-palestinians
9 https://www.nytimes.com/2024/04/04/world/middleeast/israel-wck-gaza-iran-embassy.html

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein neuestes Buch «Journalists and Their Shadows» ist 2023 bei Clarity Press erschienen. Seine Webseite lautet patricklawrence.us.
Cara Marianna ist Autorin und Mitherausgeberin von The Floutist, einem Online-Newsletter, den sie zusammen mit ihrem Mann Patrick Lawrence herausgibt. Cara gibt ihren eigenen Newsletter namens Winter Wheat heraus. Sie ist Künstlerin und hat einen Ph.D. in Amerikanistik.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK