Gibt es einen Ausweg aus der Eskalation?

Gibt es einen Ausweg aus der Eskalation?

von Karl Müller

Am 3. September hat der russische Präsident Wladimir Putin einen Sofortplan vorgestellt, der Vorschläge macht, wie der kriegerische Konflikt in der Ukraine gestoppt werden kann (siehe Kasten). Der russische Präsident hat diesen Plan einen Tag vor Beginn des Nato-Gipfels in Wales vorgelegt, aber die Reaktionen der Nato-Politiker und der westlichen Medien auf diesen Plan bewegten sich zwischen Ignoranz und Ablehnung. Die Nato war in Wales nicht zusammengekommen, um den Frieden in der Ukraine und eine Einigung mit Russland zu suchen. Statt dessen sollten Beschlüsse gefasst werden, die dem neuen «Feindbild Russland» folgen und mit militärischer Aufrüstung verbunden sind.
Einen Tag, nachdem der russische Präsident seinen Plan vorgelegt hatte, blieben auch der US-amerikanische Präsident Barack Obama und der britische Premierminister David Cameron mit einem gemeinsamen Beitrag für die britische Zeitung «Times» bei ihrer bisherigen Tonlage gegen Russland. Erneut warfen sie der russischen Regierung vor, sie habe mit «der illegalen Annexion der Krim und der Entsendung von Truppen auf ukrainisches Gebiet die Regeln verletzt» und «das Fundament eines souveränen Staates untergraben».
Schon mit den Formulierungen der beiden Politiker wurden Unterstellungen als Tatsachenbehauptungen in den Raum gestellt; denn weder gibt es zur Volksabstimmung und zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation eine einheitliche und international anerkannte rechtliche Beurteilung, noch ist es richtig, dass die russische Regierung Truppen auf ukrainisches Gebiet entsandt hat. Die Souveränität der Ukraine wird schon seit Jahren durch die Einmischung verschiedener Regierungen und ihrer Vorfeldorganisationen in die inneren Angelegenheiten des Landes untergraben. Zu dieser Einmischung gehört auch das Assoziierungsabkommen mit der EU, gehören auch die Bestrebungen, das Land enger an die Nato zu binden.
Der Artikel des US-Präsidenten und des britischen Premierministers ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie umstrittene Wertungen und Unterstellungen als Tatsachenbehauptungen ausgegeben werden und wie mit gezielter Wortwahl Manipulation betrieben werden soll. Das offensichtliche Ziel ist, die eigene politische Position als die «gute» und die der anderen als die «böse» erscheinen zu lassen. Um Sachlichkeit und Aufklärung bemühte westliche Leitmedien würden dabei nicht mitmachen, sondern bei einer umstrittenen Sachlage die gegensätzlichen Positionen zu Wort kommen lassen, sich jeder Einseitigkeit enthalten und auf keinen Fall Öl ins Feuer giessen. Wenn international gelesene Zeitschriften wie das US-amerikanische Foreign Affairs in diese Richtung gehen (vgl. Artikel von John J. Mearsheimer auf Seite 1), ist dies ein Silberstreifen am Horizont.
Man könnte noch sehr vieles in diese Richtung sagen. Aber am wichtigsten ist das Fazit: So wird der Konflikt nicht gelöst werden. Im Gegenteil, so wird er eskalieren, und der Preis, den alle zu zahlen haben werden, wird sehr hoch sein. Wann kehrt die Einsicht ein, dass es eine Sackgasse ist, in diesem Konflikt auf «Sieg» zu setzen und dem anderen eine «Niederlage» bereiten zu wollen, den gleichberechtigten ehrlichen Dialog aber zu verweigern?
1969 und ergänzt im Jahr 1971 hat der namhafte Schweizer Historiker Jean ­Rodolphe von Salis ein ausführliches Gutachten für das damalige Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn erstellt. Es trägt den Titel «Kalter Krieg und Entspannung zwischen West und Ost» und kann in der 1971 herausgegebenen Aufsatzsammlung «Geschichte und Politik. Betrachtungen zur Geschichte und Politik. Beiträge zur Zeitgeschichte» auf den Seiten 257 bis 370 nachgelesen werden. Der Umfang von fast 120 Seiten deutet schon in seiner Ausführlichkeit an, wie sorgfältig sich der Schweizer Historiker mit dieser zeitgeschichtlichen und damals hochaktuellen Frage beschäftigt hat.
Es ist hier nicht der Platz, diese hochgradig differenzierte Analyse angemessen wiederzugeben – man muss sie von vorne bis hinten selbst studieren. Aber das Fazit der Analyse soll hier zitiert werden – weil es nichts von seiner Aktualität verloren hat: «Es ist auffallend, dass immer öfter unsere Erde als ‹Planet›, die Politik als ‹planetar› bezeichnet werden. Auch der Spürsinn der Dichter und Schriftsteller (obgleich die Politiker kaum auf sie hören) hat diese unheimliche Schicksalsgemeinschaft der Erdbewohner in ihren Werken den Zeitgenossen eindringlich ins Bewusstsein gerufen; es ist symptomatisch, wenn ein grosser Dramatiker unserer Tage [Friedrich Dürrenmatt] sein Bühnenwerk, dessen Handlung das bedrängte, bittere und zerrissene Dasein der Erdbewohner mit dem kosmischen Geschehen konfrontiert, ‹Portrait eines Planeten› betitelt. Die faktische Solidarität der heutigen und künftigen Bewohner unseres Planeten ist – über alles Trennende, über Hass und Elend hinweg – unentrinnbar geworden. Die Stunde der historischen Wahrheit gebietet, dass die politischen Angelegenheiten der Völker, Staaten und Kontinente im Massstab des Planeten gesehen werden und bedacht werden und dass die Verantwortlichen aus dieser unbestreitbaren Erkenntnis die richtigen Folgerungen ziehen.»
Von Salis zitiert in seiner Analyse erstaunliche Aussagen damaliger Politiker und Militärs aus West und Ost, die von einem intensiven Ringen um die Frage zeugen, wie der auch schon damals fatale Kalte Krieg überwunden werden könnte, und dass dabei an erster Stelle der Versuch stand, auch die Sichtweise und die Argumentation der anderen Konfliktpartei(en) ernsthaft in Betracht zu ziehen und zu berücksichtigen. Ein Beispiel für viele von damals: «Wir müssen einsehen, wie tief und aufrichtig die russischen Befürchtungen wegen der Sicherung ihrer Heimat gegen eine Invasion von aussen sind. In einer wahren Einheit Europas muss Russland seine Rolle erhalten … Wir würden unüberlegt und tadelnswert handeln, wollten wir versuchen, das Problem der europäischen Einheit […] durch einen Gewaltstreich zu lösen. Wir müssen Gewalt mit jedem uns zur Verfügung stehenden Mittel vermeiden. Die einzige Einheit, die der Gewalt entspringen könnte, wäre eine Einheit von Asche und Tod …» Das sagte der ehemalige britische Premier- und Kriegsminister Winston Churchill schon im Jahr 1956 bei der Verleihung des Aachener Karlspreises.
Auch heute, fast 60 Jahre später, weiss die grosse Mehrheit der Menschen, auch in den Staaten des Westens, dass die Behauptung, von der russischen Politik gehe eine Bedrohung anderer europäischer Staaten aus, nicht richtig ist, und dass die westliche Politik der vergangenen 20 Jahre doch allzu sehr von Hochmut und einem Streben nach Vormacht in der Welt geprägt war. Die grosse Mehrheit weiss zudem, dass die weitere Eskalation des Konfliktes mit Russland alle Beteiligten, vor allem die Europäer, sehr teuer zu stehen kommen wird. Und sie weiss, dass es keine realistische Alternative zu einer Verhandlungslösung und Verständigung zwischen den Konfliktparteien gibt.
Es ist nicht nachvollziehbar, wie die gegenwärtige Politik der USA, der Nato und der EU dem gerecht werden soll. Welcher Logik diese Politik folgt, kann man als Bürger ohne intime Kenntnisse des Innenlebens unserer Regierungen nur erfragen: Wollen die USA, die Nato und die EU Russland in einem Krieg besiegen? Soll Russland so in die Enge getrieben und unter Druck gesetzt werden, dass es zu einer Kurzschlusshandlung oder zu inneren Unruhen in Russland kommen soll? Soll der europäische Kontinent erneut geteilt werden? Sollen die Verbindungen der anderen europäischen Staaten nach Russland gekappt werden, so dass sich jene Staaten wieder enger an die USA binden und die USA als militärische Vormacht des Westens eine verlorengegangene Vormachtstellung insgesamt zurückerobern kann? …
Was auch immer unsere europäischen ­Politiker antreiben mag, diesen falschen Weg mitzugehen – als Bürger dürfen wir das nicht einfach hinnehmen. Vor allem nicht, weil dieser Weg verhängnisvoll ist und es andere Wege gibt. Vielleicht sind das Wege, die sich in anderen Dimensionen als Sieg oder Niederlage, Macht oder Ohnmacht, wir oder die anderen bewegen. Verhandlungslösungen – und nur solche kann die Menschheit heute akzeptieren – setzen Gleichberechtigung und echten Dialog voraus. Das ist ein Ausweg aus der Eskalationsspirale.    •

Der «Putin-Plan» zur Beilegung des Konfliktes in der Ukraine

3. September 2014
Am Ende seines Arbeitsbesuches in der Mongolei gab Wladimir Putin im Gespräch mit Journalisten einen Überblick über den Plan:
Ich glaube, um das Blutvergiessen zu stoppen und die Situation im Südosten der Ukraine zu stabilisieren, sollten sich die Konfliktparteien sofort auf die folgenden Schritte einigen und diese koordinieren:
1.    Beenden der aktiven Angriffsoperationen durch bewaffnete Streitkräfte, bewaffnete Einheiten und Milizgruppen in der Südostukraine in der Region Donezk und Lugansk.
2.    Rückzug der Einheiten der ukrainischen Streitkräfte auf eine Distanz, die es unmöglich machen würde, mit Artillerie und allen Typen von Mehrfach-Raketen-Abschuss-Systemen auf bewohnte Gebiete zu schiessen.
3.    Zulassen voller und objektiver internationaler Überwachung der Einhaltung des Waffenstillstandes und Beobachtung der Situation in der durch den Waffenstillstand geschaffenen Sicherheitszone.
4.    Ausschluss jeden Einsatzes von Militärflugzeugen gegen Zivilisten und bewohnte Gebiete in der Konfliktzone.
5.    Organisieren des Austausches von Einzelpersonen, die gewaltsam gefangen genommen wurden auf einer Basis «alle für alle» ohne jede Vorbedingung.
6.    Offene humanitäre Korridore für Flüchtlinge und für die Lieferung humanitärer Frachten in Städte und bewohnte Gebiete im Donbass – den Regionen von Donezk und Lugansk.
7.    Ermöglichen, dass Reparaturbrigaden Zugang zu beschädigten Siedlungen in der Region Donbass erhalten, um soziale Einrichtungen und lebensnotwendige Infrastruktur wiederherzustellen und die Region dabei zu unterstützen, sich auf den Winter vorzubereiten.

Quelle: <link http: eng.kremlin.ru transcirpts>eng.kremlin.ru/transcirpts/22899
(Übersetzung Zeit-Fragen)

Waffenruhe

km. Am 5. September haben Vertreter der ukrainischen Regierung und der Landesteile, die sich im Mai nach einer Volksabstimmung für unabhängig erklärt hatten, einen Vertrag über eine Waffenruhe unterzeichnet. Dieser Waffenruhe sind monatelange, zum Teil sehr schwere und mörderische kriegerische Auseinandersetzungen innerhalb dieser Landesteile vorausgegangen, deren Folgen schwerste Zerstörungen, zig Tausende von Verletzten und ebenso viele Tote – auch unter der Zivilbevölkerung – waren.
Die Waffenruhe, so muss man wohl sagen, war erst möglich geworden, nachdem die ukrainische Regierung und auch die Nato – schon am 1. September titelte Spiegel Online: «Analyse der militärischen Lage: Nato sieht Ukraine bereits als Verlierer des Konflikts» – nicht mehr auf einen Sieg in der Ukraine setzen konnten.
Wie dem auch sei: Jeder Mensch, der noch ein wenig bei Verstand ist und noch einen Funken Mitgefühl hat, hofft darauf, dass es in diesem Konflikt keine weiteren menschlichen Opfer und Zerstörungen gibt. Zig tausend Tote bisher schon – das ist doch ein Wahnsinn!
Leider muss man an dieser Stelle aber auch an den vielgerühmten «Westfälischen Frieden» von 1648 erinnern. Leider war auch dieser Friedensschluss erst möglich geworden, nachdem keine der Kriegsparteien mehr auf einen Sieg hoffen konnte. Die Verhandlungen und deren Vorbereitungen zogen sich insgesamt über 11 Jahre hin. Und immer dann, wenn eine der Kriegsparteien wieder einmal glaubte, sie könnte doch noch siegen, versiegten die Verhandlungen – bis endlich alle Seiten so erschöpft waren, dass ein Ende des Krieges zwingend wurde.
Hoffentlich sind wir heute ein wenig weiter als damals. Hoffentlich gibt es auch bei den verantwortlichen Politikern und Militärs einen Rest von Gewissen und Einsicht, dass jede weitere Minute des Mordens ein Menschheitsverbrechen ist.

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