«Die Krise in der Ukraine ist komplex, brisant und dauert an»

«Die Krise in der Ukraine ist komplex, brisant und dauert an»

«Humanitäre Aspekte der Krise in der Ukraine» – Briefing der russischen Uno-Vertretung in Genf

von Dr. Eva-Maria Föllmer-Müller

In der vergangenen Woche befasste sich auch die russische Botschaft bei den Vereinten Nationen mit der humanitären Situation in der Ukraine und veranstaltete am 1. Oktober an der Uno in Genf ein Briefing zum Thema «Humanitäre Aspekte der Krise in der Ukraine».
«Der Informationskrieg dauert an. Die Nachrichtenblockade ist noch da. Es ist schwer, die Wahrheit an die westlichen Medien zu bringen», sagte Konstantin Dolgov, Menschenrechtsbeauftragter des russischen Aussenministeriums, vor den ca. 200 Teilnehmern des Briefings.
Neben – zumeist russischen – Medienschaffenden waren Vertreter zahlreicher Botschaften und internationaler Organisationen gekommen: Thailand, Kuwait, Litauen, Niederlande, Armenien, Kambodscha, Weissruss­land, Myanmar, Irak, Grossbritannien, Indonesien, Bulgarien, Vertreter der EU, Tadschikistan, Österreich, Algerien, USA, Italien, Luxemburg, Deutschland, Ukraine, des UN-Welternährungsprogramms (WFP) sowie der Internationalen Organisation für Migration (IOM), der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) und andere.
Zur humanitären Krise in der Ukraine referierten neben Konstantin Dolgov Vladimir Stepanov, stellvertretender Zivilschutzminister vom russischen Ministerium für Zivilschutz, Notstände und die Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen (EMERCOM), und Nikolai Smorodin, stellvertretender Direktor der russischen Einwanderungsbehörde FMS. Geleitet wurde die Veranstaltung von Alexey Borodavkin, dem russischen Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf. Grund für das Briefing seien die vielen Fragen von Journalisten und NGO zur Situation in der Ukraine gewesen, sagte Botschafter Borodavkin bei der Eröffnung. Er hob die humanitäre Herausforderung und den dringenden Wunsch nach Frieden hervor.
Vladimir Stepanov gab einen Überblick über die Situation der Flüchtlinge, insbesondere aus dem Südosten der Ukraine. Er betonte, dass alle Menschen, die bislang nach Russland geflohen sind, aufgenommen wurden; hierfür stehen bislang 926 Feldzentren zur Verfügung. Dort wird den Flüchtlingen jegliche humanitäre Hilfe zuteil. Während der Sommermonate waren es Hundertausende, viele kamen zu Fuss, mit dem Zug oder wurden über eine Luftbrücke aus der Ukraine geholt. Jetzt sind noch etwa 55 000 Flüchtlinge in den Feldzentren. Russland hat zehntausende Hilfspakete nach Donezk und Lugansk geschickt. Nun werden die Hilfspakete der einbrechenden Winterzeit angepasst. Laut russischem Gesundheitsministerium suchten ca. 200 000 Flüchtlinge medizinische Hilfe, unter ihnen viele Kinder, etwa 5000 schwangere und stillende Frauen. Die Bevölkerung in Russland ist um das Wohlergehen der Flüchtlinge sehr besorgt, sie geben, was sie können.
Ergänzt wurde der Bericht von Vladimir Stepanov durch die Ausführungen des Vize-Chefs der Einwanderungsbehörde, Nikolai Smorodin. Er gab mit seiner Statistik auch Laien einen Einblick, was es bedeutet, Flüchtlinge im Land zu betreuen. Die ukrainischen Flüchtlinge werden auch über den Winter hinweg gut betreut werden, sagte er zu Beginn. Sie erhalten neben medizinischer und psychologischer Betreuung auch Rechtsberatung, Vorschul- und Schulplätze werden zur Verfügung gestellt (bislang 25 000, auch Ausbildungsplätze). Rentner, Behinderte, kranke Flüchtlinge, alle bekommen volle medizinsche Hilfe. Nach seinen Angaben haben bislang 200 000 Ukrainer vorübergehend Asyl in Russland beantragt. Asyl erhalten hätten bisher 158 000. Bis Jahresende erwartet die russische Migrationsbehörde weitere 400 000 Asylanträge. Seit Anfang August sind die Asylantragsverfahren erleichtert. Inzwischen sind 64 000 Flüchtlinge über das Land verteilt, damit sie eine Bleibe haben. Trotz Waffenruhe kommen täglich 2000 bis 2500 Flüchtlinge ins Land. Circa 43 000 Flüchtlinge haben bisher die russische Staatsbürgerschaft beantragt. Auch dieses Verfahren ist seit Juli diesen Jahres erleichtert worden. Botschafter Borodavkin fügte hinzu, dass die Russische Föderation die hierfür notwendigen finanziellen Mittel aufbringt, aber auch NGO und öffentliche Stiftungen mithelfen, «es könnte eine panrussische Bewegung werden».
«Die Krise in der Ukraine ist komplex, brisant und dauert an», begann der Menschenrechtsbeauftragte Konstantin Dolgov seine Ausführungen. Es fänden massive Menschenrechtsverletzungen, Völkerrechtsverletzungen und Verletzungen des Humanitären Völkerrechts statt. «Tausende Menschen, vor allem Zivilisten, werden von den ukrainischen Behörden getötet, auch in diesem Augenblick fallen Bomben auf Schulen, heute ist Schulanfang» (Er bezog sich auf den Beschuss einer Schule am 1. Oktober, bei dem 10 Menschen getötet worden waren, Anm. d. Verf.). Mit dem Waffenstillstand habe es wirklich Hoffnung gegeben. «Was ist mit dem Recht und dem Schutz des Lebens?», fragte er. «Das muss aufhören.» Er berichtete von den Massengräbern in Donezk, von den Menschen, die durch Kopfschuss getötet wurden, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, und fügte an, dass Donezk zu dem Zeitpunkt der Kontrolle der ukrainischen Behörden unterstellt war. Man dürfe auch nicht den Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa vergessen. Und auch nicht die Aktionen der Scharfschützen auf dem Euromaidan, die sowohl auf die Demonstranten als auch auf die Polizisten geschossen haben. Alle diese Vorgänge müssten untersucht und strafrechtlich verfolgt werden. Das könne überall wieder geschehen. Das sind kriminelle Vorfälle, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vor allem starben Zivilisten. Auf die Zivilbevölkerung wurde gezielt geschossen. Die Rechte der Individuen müssen gewahrt werden. Die Pressefreiheit in der Ukraine wurde massiv verletzt: So seien 15 russische Fernseh- und Rundfunk-Stationen verboten worden. Journalisten wurden getötet. «Was ist mit der Zurückhaltung vieler westlicher Kollegen? Sehen sie nicht, was los ist?» fragte Dolgov. In der Ukraine seien Faschisten und Neo-Nazis am Werk, das führe zu sozialen Spannungen. Es gibt Repressionen gegen Parlamentarier. Dolgov erinnerte daran, dass die Ukraine den Pakt der bürgerlichen und politischen Rechte unterzeichnet hat. Die internationale Gemeinschaft forderte er auf, endlich zu reagieren. Alle Verletzungen des Völkerrechts müssten geahndet werden. «Es geht nicht nur darum zu dokumentieren, sondern darum zu handeln.» Bis heute fehlten zu all den Vorgängen die Untersuchungsergebnisse von Seiten der ukrainischen Behörden. Sie fehlten auch zum Absturz der MH 17. Dolgov erinnerte an die Nürnberger Prinzipien: «Wir haben die Bilder von ‹Kämpfern›, die gegen Zivilisten kämpfen», die Fakten sind vorhanden. Mit dem Verweis auf die zweibändige Dokumentation der Vorgänge in der Ukraine seit dem November 2013 «White book – On Violations of Human Rights and the Rule of Law in Ukraine», in dem eine Vielzahl der Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit dokumentiert sind, schloss er seine Ausführungen. Für die begangenen Verbrechen gebe es keine Straffreiheit. Es sei auch eine Frage des Gewissens der internationalen Gemeinschaft. Er erinnerte daran, was die Europäische Gemeinschaft nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien geäussert hatte: So etwas darf auf unserem Kontinent nie wieder geschehen. Er forderte eine internationale Antwort auf die Vorgänge, die internationale Gemeinschaft habe hierfür alle Instrumente zur Verfügung.
In der anschliessenden Diskussion hob Botschafter Borodavkin die vom IKRK geleistete Hilfe hervor und betonte die Bedeutung der OSZE, die vor Ort die Sachverhaltsaufklärungen (fact-finding) voranbringt.
Die Vertreterin der ukrainischen Botschaft äusserte unter anderem, dass die humanitäre Hilfe über anerkannte internationale Organisationen erfolgen müsse, und beklagte die antiukrainische Propaganda von Seiten Russ­lands. Sie forderte Russland auf, sich vollständig zurückzuziehen; sobald sich Russ­land zurückziehe, gebe es Hilfe.
Botschafter Borodavkin wies darauf hin, dass Wladimir Putin und Petro Poroschenko in Minsk einen Konsens erzielt hätten.
Der Vertreter der EU begann seine Stellungnahme mit einer Polemik: Er hoffe, dass die russische Botschaft ihrerseits alle Medien eingeladen habe … Jede Form von militärischer Unterstützung solle von Russland unterlassen werden, die russischen Soldaten sollten sich zurückziehen. Es bräuchte keine schnellen humanitären Konvois (sic!). Auf seine Frage, ob Russland an die internationale Gemeinschaft zahlen würde, antwortete der russische Botschafter, dass Russland viel bilaterale Hilfe gebe und bezüglich der Ukraine mit dem IKRK und mit relevanten Uno-Organisationen zusammenarbeite und auch sonst seine Verpflichtungen erfülle.
Der anwesende Sprecher der USA machte allein die Separatisten für das Desaster verantwortlich und forderte Geldbeiträge (cash-contributions) für die humanitäre Hilfe. Dolgov antwortete, er habe Zweifel, dass das Geld gerecht verteilt werde, vor allem jetzt, da der Winter komme.
Der Vertreter aus Weissrussland fragte nach dem Treffen der Ukraine-Arbeitsgruppe der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, die Russland initiiert hatte. Botschafter Borodavkin antwortete, er habe soeben erfahren, dass die Ukraine ihre Teilnahme abgesagt habe (ebenso Polen, die USA, Frankreich und die Türkei, Anm. d. Verf.).
Auf die Frage des Medienvertreters der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti, ob Russland die Verletzungen des Waffenstillstands angesichts der Situation selbst untersuche, antwortete Dolgov, Russland beobachte die Geschehnisse sehr genau, betonte jedoch, es brauche den politischen Willen der internationalen Gemeinschaft, alles zu untersuchen.     •

Uno warnt vor verheerenden humanitären Folgen

ef. Trotz des am 5. September geschlossenen Waffenstillstands ist die humanitäre Situation in der Ukraine und vor allem in der Ostukraine nach wie vor verheerend. Gemäss UN-Angaben sind in dem Konflikt bereits mehr als 3500 Menschen ums Leben gekommen. Die anhaltenden Kämpfe haben zu einer Massenflucht geführt. Die Vereinten Nationen gingen schon Anfang September von über einer Millionen Menschen aus, die vor den Kämpfen geflüchtet sind. 814 000 Menschen hätten bereits Zuflucht in Russland gesucht und rund 260 000, so die vermutlich untertriebenen Schätzungen, seien im Land auf der Flucht vor den Kämpfen. Die tatsächliche Zahl der Vertriebenen liegt nach UN-Schätzungen weitaus höher, weil viele bei Freunden und Verwandten untergekommen sind und sich nicht bei den Behörden melden. Das berichtete das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Antonio Guterres, UN-Flüchtlingskommissar, äusserte sich besorgt: Ohne die rasche Beendigung der Krise drohten «verheerende humanitäre Folgen». Die Krise habe «das Potenzial, die ganze Region zu destabilisieren». Am 9. September warnte die WHO davor, dass in der Ostukraine ein Gesundheitsnotstand droht. Hunderttausende Menschen seien wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes auf der Flucht. Viele von ihnen müssten in nicht winterfesten Behausungen unter prekären hygienischen Verhältnissen leben. Die Krankenhäuser seien nicht vollständig funktionsfähig, und Medikamente und Impfstoffe werden knapp. Die WHO bereite eine gesundheitliche Notversorgung der Bevölkerung vor.
Inzwischen wird von Massengräbern berichtet mit z. T. über 400 Toten, zumeist Zivilisten. Viele seien so zugerichtet, dass sie nur schwer identifiziert werden können. Die Gräber befänden sich in Gebieten, die zuvor von der ukrainischen Armee kontrolliert worden waren. Am 1. Oktober wurden 10 Zivilisten beim Beschuss einer Schule getötet, am 2. Oktober wurde ein Schweizer IKRK Mitarbeiter in Donezk durch Granatenbeschuss getötet. Der UN-Sicherheitsrat hat in seiner Sitzung vom 4. Oktober die Ermordung scharf verurteilt und eine objektive, gründliche Untersuchung der Todesumstände gefordert.

ARD und Spiegel gerügt

ef. Die westliche Berichterstattung in den Leitmedien ist zumeist einseitig und auffallend scharf gegen Russland gerichtet. Nachdem in Deutschland der Druck von Bürgern immer stärker wurde, hat sich nun zumindest die öffentlich rechtliche Rundfunkanstalt ARD für eine Falschberichterstattung vom Mai diesen Jahres entschuldigt, in dem die Tötung zweier Zivilisten den sogenannten Separatisten in die Schuhe geschoben worden war. Die ARD hat diesen Medienbeitrag vom Internet übernommen. Der Programmbeirat der ARD hatte auf seiner Sitzung im Juni die Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt deutlich kritisiert. Die ausgestrahlten Inhalte seien «tendenziell gegen Russland und die russische Position» gerichtet. Sie seien «fragmentarisch», «tendenziös», «mangelhaft» und «einseitig». Der Spiegel wurde bereits vom Deutschen Presserat wegen eines grob antirussischen Artikels gerügt.

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