Das Recht auf Arbeit – Einfluss auf die Bundesverfassung

Das Recht auf Arbeit – Einfluss auf die Bundesverfassung

Die Bedeutung der direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens (Teil 6)

von Dr. rer. publ. W. Wüthrich

Ein kurzes Résumé zu Beginn: Im Teil 1 dieser Artikelfolge (Zeit-Fragen Nr. 14 vom 26. Mai) wurde aufgezeigt, wie sich in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und ihren Organisationen und der politischen Führung der Schweiz immer mehr verschärften und schliesslich im November 1918 der Generalstreik ausgerufen wurde. Nach dieser Staatskrise haben zahlreiche Volksabstimmungen beigetragen, den sozialen Frieden herzustellen.
Teil 2 (Zeit-Fragen Nr. 15/16 vom 9. Juni) ist zu den Wurzeln unserer Wirtschaftsverfassung vorgedrungen und hat die grosse Bedeutung der direkten Mitsprache des Volkes in Wirtschaftsbelangen für die Entwicklung der Volkswirtschaft und für die Bewahrung des sozialen Friedens untersucht.
Teil 3 (Zeit-Fragen Nr. 17 vom 23. Juni) hat aufgezeigt, wie Bundesrat und Parlament nach dem Ersten Weltkrieg die Volksrechte im Bereich der Wirtschaft allzuoft über das Notrecht aushebelten und wie die Bevölkerung sich dagegen wehrte.
Teil 4 (Zeit-Fragen Nr. 19/20 vom 21. Juli) hat das Friedensabkommen von 1937 in der Maschinen- und Metallindustrie und seine Bedeutung für die Schweiz dargestellt.
Teil 5 (Zeit-Fragen Nr. 24 vom 15. September) zeigte die Bedeutung der Volksrechte als Instrument zur Krisenbewältigung und zum Erhalt des sozialen Friedens in der schweren Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre. Auch damals ging die Krise von den USA aus.
Detailinformationen zu den zahlreichen Abstimmungen und Volksinitiativen sind abrufbar unter www.admin.ch bei der Chronologie der Volksinitiativen oder Volksabstimmungen.

Das Recht auf Arbeit gehört zu einem menschenwürdigen Leben und ergibt sich – naturrechtlich betrachtet – aus dem Recht auf Existenz. 1948 ist dieses Recht als Menschenrecht in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno aufgenommen worden: «Jede Person hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.» (Art. 23)
Verbindlicher ist die Uno-Konvention vom 19. Dezember 1966 über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. So verpflichtet Art. 21 den Staat, «einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit […] unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Massnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Massnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen».

Geschichtliches

In der Menschheitsgeschichte war das Recht auf Arbeit keineswegs immer gewährleistet. Im Altertum und im Mittelalter waren es Sklavenarbeit oder Leibeigenschaft, die das Leben vieler Menschen bedrückte. Ihre Arbeit war mit Zwang und Rechtlosigkeit verbunden. In den freien Städten im Mittelalter war das Recht auf Arbeit oft an die Mitgliedschaft in einer Zunft oder einer Berufsgemeinschaft gebunden. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit – so wie wir es heute kennen – ist in der Zeit der industriellen Revolution entstanden, die im 18. Jahrhundert begonnen und die Gesellschaft überall stark verändert hat. In der stürmischen, aber auch oft unsteten Wirtschaftsentwicklung der letzten zwei Jahrhunderte kam es immer wieder vor, dass kleinere, aber auch grössere Teile der Bevölkerung ihre Arbeit verloren. Auch heute ist die Arbeitslosigkeit in manchen Ländern ein drückendes Problem und zu einem Dauer­thema in der Politik geworden.

Grundsätzliches

In einer privatwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung kann der Staat Arbeit nicht direkt zuweisen. Er kann jedoch dem Arbeitslosen den Verdienstausfall zum mindesten teilweise ersetzen, ihn unterstützen und ihm bei der Arbeitssuche helfen. Er kann ganz allgemein die Arbeit schützen, indem er Vorschriften erlässt zum Beispiel über die Arbeitszeit, den Schutz der Gesundheit oder vor ungerechtfertigter Kündigung. Der Staat kann Arbeitsbeschaffungsprogramme beschliessen. Und er kann seine Wirtschaftspolitik ganz allgemein auf die Vollbeschäftigung ausrichten, wobei sich Ökonomen und Politiker über den Weg oft nicht einig sind. So verstanden ist das Recht auf Arbeit weniger ein Anspruch, der eingeklagt werden kann, als eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die in die Verfassung gehört.
Zum ersten Mal ist dies in Frankreich geschehen. Am 24. Juni 1793 nahm die französische Nationalversammlung nicht nur die Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 17) als Grundrecht, sondern auch die Unterstützungspflicht (dette sacré) für diejenigen in die Verfassung auf, die die Arbeit verlieren und in Not geraten (Art. 21). Die ersten Artikel dieser eindrücklichen Verfassung lauten wie folgt:

Art. 1 Le but de la société est le Bonheur commun. – Le gouvernement est instituté pour garantir à l'homme la jouissance des ses droits naturels et imprescriptibles.
Art. 2 Ces droits sont l'égalité, la liberté, la sûreté, la propriété. […]
Art. 3 Tous les hommes sont égaux par la nature et devant la loi. […]
Art. 17. Nul genre de travail, de culture, de commerce, ne peut être interdit à l industrie des citoyens.
Art. 21. Les secours publics sont une dette sacré. La société doit la subsistence aux citoyens malheureux, soit en leur procurant du travail, soit en assurance les moyens d'exister à ceux qui sont hors d'état de travailler.

Dieses frühe Verfassungswerk macht deutlich, dass die wirtschaftsrelevanten Grundrechte nicht einfach da sind, um dem Einzelnen die Freiheit zu geben, sich wirtschaftlich zu betätigen. Sondern sie sollen zum Gemeinwohl (Bonheuer commun) beitragen – dem obersten Ziel der Gesellschaft (but de la société). Weitere Artikel enthielten sogar Ansätze zur direkten Demokratie (Referendumsrecht). Diese Verfassung aus der Zeit der Französischen Revolution war ihrer Zeit weit voraus und blieb leider nicht lange in Kraft. Sie sollte aber nach 1830 in der Schweiz der Regenerationszeit manchen Politiker inspirieren, die Verfassung in seinem Kanton zu erneuern (vgl. Teil 2 der Artikelfolge vom 9. Juni).

Das Recht auf Arbeit in der Lehre des Sozialismus und Kommunismus

Sozialisten und Kommunisten verstanden oder verstehen das Recht auf Arbeit oft anders. Sie sind der Meinung, dass das Recht auf Arbeit in einer privatwirtschaftlichen Ordnung letztendlich nicht wirklich umgesetzt werden kann, sondern die kapitalistische Wirtschaftsordnung müsse als Ganzes abgeschafft und die Arbeit neu organisiert werden. Das Recht auf Arbeit wird somit Teil eines neuen Gesellschaftsmodells. Darüber ist viel geschrieben, sind viele Ideen entwickelt und auch praktische Versuche gemacht worden. Dazu einige Beispiele:

Charles Fourier

Frühsozialisten wie Charles Fourier (1772–1837) hatten nicht nur die Wirtschaft im Auge, sondern schlugen neue Lebens- und Gesellschaftsformen vor. Gruppen von etwa 1500 Personen könnten ihr Leben gemeinschaftlich einrichten, indem sie in Wohngenossenschaften zusammenleben und in Produktiv- und Konsumgenossenschaften arbeiten und sich versorgen. Jeder hat seinen Platz, und Kapital und Arbeit würden so in einem harmonischen Verhältnis stehen. Auch sein Schüler Victor Considérant (1808–1893) machte ähnliche Vorschläge. Es gab etliche praktische Versuche. Der Zürcher Frühsozialist Karl Bürkli (1823–1901) zum Beispiel reiste mit einer Auswanderergruppe nach Texas. Sie kauften 10 Quadratkilometer Land und bauten dort – quasi auf der grünen Wiese – ihr «Utopia» auf, das heisst eine Lebensgemeinschaft im Sinne Fouriers. Sie hatten jedoch längerfristig keinen Erfolg, weil Schwierigkeiten – auch im zwischenmenschlichen Bereich – auftraten, die ihren Enthusiasmus schwinden liessen. Bürkli kehrte nach Zürich zurück und half hier mit, den Konsumverein aufzubauen, und er setzte sich erfolgreich für das Genossenschaftswesen und die direkte Demokratie ein. Der 18. April 1869 war für ihn ein ganz besonderer Tag. Mit einer Stimmbeteiligung von über 90 Prozent sagte das Zürcher Volk ja zu einer revolutionären Verfassung, die nicht nur ein weitgehendes Initiativ- und Referendumsrecht enthielt, sondern auch das Genossenschaftswesen speziell förderte:

Art. 23: Der Staat fördert und erleichtert die Entwicklung des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschaftswesens. Er erlässt auf dem Wege der Gesetzgebung die zum Schutz der Arbeiter nötigen Bestimmungen.

Es war ein Signal für andere Kantone und für die Eidgenossenschaft, die – wie der Name schon sagt – politisch auf der Genossenschaftsidee aufbaut. Das Genossenschaftswesen wird heute auf allen politischen Ebenen gefördert. – Der Bürkli-Platz am Zürichsee erinnert heute an das Wirken des Schweizer Frühsozialisten.

Louis Blanc

Der Frühsozialist Louis Blanc (1811–1882) regte an, dass der Staat den Arbeitslosen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. 1839 publizierte er seine Reformideen in der Schrift «L’organisation de travail». Nach der Februar­revolution von 1848 wurde er Arbeitsminister der provisorischen Regierung Frankreichs und bekam Gelegenheit, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Das von Sozialisten dominierte Parlament fügte das Recht auf Arbeit als Grundrecht in die neue Verfassung ein. Gestützt darauf liess Louis Blanc eine Vielzahl von Nationalwerkstätten errichten, in denen 100 000 Franzosen Arbeit finden sollten. Schnell traten Schwierigkeiten auf. Oft entsprachen die hergestellten Produkte nicht den Wünschen der Konsumenten. Oft war unklar, was sie überhaupt produzieren sollten, oder die Werkstätten konkurrierten mit privaten Betrieben und machten diesen das Leben schwer. Das Projekt scheiterte nach relativ kurzer Zeit. Die Sozialisten verloren die nächsten Wahlen, und es kam in Paris zu schweren Unruhen mit einigen Tausend Toten. Das französische Parlament entfernte das so verstandene Recht auf Arbeit wieder aus der Verfassung und ersetzte es durch eine Unterstützungspflicht für Arbeitslose.

Karl Marx

Karl Marx war noch weit radikaler. Das Problem der Arbeitslosigkeit könne – so Marx – nur als Ganzes gelöst werden, indem die Arbeiterschaft und ihre Führer die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vollständig umgestalten. Sie müssten die Klassengegensätze abschaffen, indem sie den Klassenkampf führen, in einer Revolution die Macht übernehmen und die Fabriken und Einrichtungen des Gewerbes verstaatlichen. Danach würden die Behörden die Produktion, die Arbeit und die Wirtschaftsabläufe zentral und systematisch planen. Aus dem Recht auf Arbeit würde so ein Plan der Arbeit und für den Einzelnen eine Pflicht zur Arbeit.
Die Schwachstellen dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sind heute bekannt. Der Hauptirrtum liegt wohl im Menschenbild. «Das Sein bestimmt das Bewusstsein» ist ein zentraler Lehrsatz von Marx. Für den Bereich der Arbeit heisst dies konkret: Die neuen Produktionsverhältnisse, in denen es keine Klassenunterschiede mehr gibt, würden einen neuen Menschen hervorbringen. Dazu Marx: Der Mensch würde «von Religion, Eigentum und dem Egoismus des Gewerbes» befreit, und es wird ein «neuer Mensch» entstehen, der den Menschen, «wie er geht und steht», ablöst. Danach würde der Staat allmählich absterben.
Der Marxismus und seine Umsetzung sollten noch zu weit grösseren gesellschaftlichen Spannungen führen als das Experiment von Louis Blanc im Jahr 1848. Im 20. Jahrhundert wurde ungefähr ein Drittel der Menschheit mehr oder weniger unfreiwillig in eine solche Ordnung gezwängt.
Wie wurde das heiss diskutierte Recht auf Arbeit in der direktdemokratisch geprägten Schweiz umgesetzt? Wen wundert’s – es war mehrere Mal Thema von Volksinitiativen. Es lohnt sich, diese genauer zu betrachten.

Eidgenössische Volksinitiative «Recht auf Arbeit» von 1893

Die schweizerische Arbeiterbewegung war weltanschaulich von verschiedenen Denk­richtungen geprägt. So wollten die einen die liberale Wirtschaftsordnung sozialer gestalten, andere sie ganz umbauen. Es sollte nicht lange gehen, bis die erste Volksinitiative lanciert wurde. 1893 kündigte Albert Steck, Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, die Volksinitiative «Recht auf Arbeit» an. Es war eine Pioniertat in zweifacher Hinsicht: Es war die erste Volksinitiative, die lanciert wurde, nachdem 1891 dieses Volksrecht in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Und es war die erste Volksinitiative der wenige Jahre zuvor neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei der Schweiz SPS. Steck sprach sich gegen den Klassenkampf aus und betonte, es gehe ihm nicht um den Umsturz der bestehenden staatlichen Ordnung. Die Initiative verlange nur das «Mögliche, das heisst das, was ohne Änderung der Grundlagen unserer heutigen Wirtschaftsordnung thunlich ist». Steck setzte sich gegen revolutionär gesinnte Genossen in seiner Partei durch und liess den liberalen Kern der Wirtschaftsverfassung unangetastet. Er schlug jedoch zahlreiche Ergänzungen und Abänderungen vor – zum Beispiel: Verkürzung der Arbeitszeit, öffentlicher Arbeitsnachweis (das heisst Einrichtung von öffentlichen Arbeitsvermittlungsstellen), Massnahmen zum Schutz gegen ungerechtfertigte Entlassung, ausreichende Unterstützung Arbeitsloser und Garantie des Rechts, gewerkschaftlich tätig zu werden. Weiter sollte die Arbeit in den Fabriken und in staatlichen Einrichtungen demokratischer organisiert werden.
Die Initiative wurde am 3. Juni 1894 vom Volk mit fast 80 Prozent Nein-Stimmen deutlich abgelehnt. Die Gegnerschaft kam von zwei Seiten: Bürgerliche Kreise argumentierten, das Recht auf Arbeit sei in einer Privatwirtschaft gar nicht durchführbar und die vorgeschlagenen Änderungen würden schrittweise zum Sozialismus führen. Teile der Arbeiterschaft wehrten sich gegen Reformen dieser Art, weil sie nicht das «System» verbessern, sondern es grundlegend ändern wollten. Der Marxismus, der damals auf Klassenkampf und Eroberung der Macht ausgerichtet war, erschwerte eine ruhige, demokratische Auseinandersetzung.

Auswirkung auf die Rechtsentwicklung

Die meisten der in der Volksinitiative der SP enthaltenen Massnahmen fanden im Lauf der Jahre Eingang in die schweizerische Gesetzgebung, ohne die privatwirtschaftliche Wirtschaftsordnung jemals zu gefährden. Die Entwicklung verlief jedoch in kleinen Schritten und im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Volksinitiative von 1894 war ihrer Zeit weit voraus. Sie wurde jedoch zum Startschuss für spätere Sozialreformen. Dazu an dieser Stelle nur einige Stichworte: Bereits 1863 hatten sich an der Landsgemeinde in Glarus 6000 Bürger unter freiem Himmel versammelt und das damals fortschrittlichste Fabrikgesetz in Europa beschlossen. 1876 sagten die Stimmbürger der ganzen Schweiz ja zum eidgenössischen Fabrikgesetz, das die Vorgaben aus dem Kanton Glarus im wesentlichen übernahm. Der Fabrikinspektor in Glarus, der Arzt Fridolin Schuler, wurde zum eidgenössischen Fabrikinspektor ernannt. 1914 wurde das Fabrikgesetz revidiert und auch später immer wieder ergänzt und erweitert, bis es 1963 zu einem umfassenden Arbeitsgesetz für alle Betriebe (und nicht nur für Fabriken) erweitert wurde.
Auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung waren die Schritte klein: Die Gemeinden und Kantone waren zuständig für die Arbeitslosenfürsorge. Eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit konnte freiwillig abgeschlossen werden. Sie wurde anfänglich vor allem von den Gewerkschaften geführt – später auch von den Gemeinden. 1919 beschloss das Parlament Bundesbeiträge für die Arbeitslosenfürsorge und 1924 Subventionen für die Arbeitslosenversicherungen. In den dreissiger Jahren waren etwa 30 Prozent der Arbeitnehmer versichert. Ein eidgenössisches Gesetz über die Arbeitslosenversicherung gibt es jedoch erst seit 1951. 1976 sagten die Stimmbürger mit 68 Prozent deutlich ja zur obligatorischen Arbeitslosenversicherung, wie wir sie heute haben.
Die Volksinitiative der Sozialdemokraten «Recht auf Arbeit» von 1894 hat die Poli­tik sensibilisiert und bewirkt, dass sich die Bevölkerung der sozialen Frage bewusster wurde und die Notwendigkeit anerkannte, in der freiheitlichen Wirtschaftsordnung Korrekturen vorzunehmen.

Recht auf Arbeit in der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre

In der grossen Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre war die Arbeitslosigkeit weltweit zu einem Massenphänomen geworden. In der «Volksinitiative zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise» der Gewerkschaften von 1935 war das Recht auf Arbeit zentral. So hiess es im Initiativtext: Der Bund sorgt für «planmässige Beschaffung von Arbeit und zweckmässige Ordnung des Arbeitsnachweises.» Die Volksinitiative wurde zwar mit 56 Prozent Nein abgelehnt (vgl. Teil 5 der Artikelfolge vom 15. September), die Forderungen nach staatlichen Arbeitsbeschaffungsmassnahmen verstummten jedoch nicht.
Der schweizerische Bundesrat hatte zwar schon einiges unternommen. So schuf er eine Zentralstelle für Arbeitsbeschaffung und forcierte den Bau von SBB-Strecken, von Grenzanlagen und Alpenstrassen. 1934 sorgten freisinnige Kreise mit der Volks­initiative «Ausbau der Alpenstrassen und der Zufahrtsstrassen» für Druck. Im Bereich der Wirtschaft unterstützte der Bundesrat die Textil- und die Uhrenindustrie, manche Banken sowie die Landwirtschaft. Das in diesen Jahren stark gewachsene staatliche Engagement kommt im Anstieg der sogenannten Staatsquote zum Ausdruck. Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandprodukt hatte sich von etwa 10 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg auf 20 Prozent im Jahr 1939 verdoppelt (heute 35 Prozent).
Der Bundesrat führte trotz Krise seine Finanzen wie ein «guter Hausvater» und bemühte sich, seinen Haushalt ohne Schulden auszugleichen. Dies gelang fast immer. Auch dazu ein Vergleich: Vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Bund noch keine Schulden, 1939 waren sie auf 1,5 Milliarden Franken angewachsen (heute über 100 Milliarden). Dieser «Mini-Schuldenberg» war wirklich bescheiden, auch wenn man berücksichtigt, dass der Geldwert damals deutlich höher war.
Die «Sparpolitik» des Bundesrates wurde jedoch vor allem von Kreisen kritisiert, die sich an der Lehre des englischen Ökonomen John Maynard Keynes orientierten, der vor allem in den USA die Politik bestimmte. Keine neuen Steuern war seine Devise, sondern schuldenfinanzierte Mehrausgaben sollen die Nachfrage ankurbeln und Arbeit schaffen. Die Schweiz «tickte» anders: 1932 reichte der Schweizerische Gewerkschaftsbund und der Föderativverband der Angestellten die Volksinitiative «Für eine ausserordentliche eidgenössische Krisensteuer» ein, um die «Löcher» im Staatshaushalt zu stopfen und um einen Lohnabbau beim Personal zu verhindern. Der Bundesrat nahm das Anliegen auf und beschloss im Jahr 1934 notrechtlich die Krisenabgabe, eine befristete und progressive Einkommensteuer, die hohe Einkommen deutlich stärker belastete. 1938 stärkte das Volk dem Bundesrat den Rücken und stimmte der Krisensteuer an der Urne mit 72 Prozent Ja sehr deutlich zu.

Schulterschluss vor dem Zweiten Weltkrieg

Für die Sozialdemokraten genügten die Anstrengungen der Behörden zur Arbeitsbeschaffung jedoch bei weitem nicht. Sie hatten 1937 mit 280 000 Unterschriften die Volksinitiative «Nationales Arbeitsbeschaffungsprogramm» eingereicht, das sie aus den Reserven der Nationalbank finanzieren wollten. Nun gelang der Landesregierung ein Kunststück. Die Zeiten hatten sich geändert. Hitler war in Österreich einmarschiert, und die Bedrohung aus dem Norden war offensichtlich geworden. Im Frühjahr 1938 stellte Bundesrat Rudolf Minger in der Landesverteidigungskommission fest: «Bis heute war der Fall eines isolierten Angriffs einer Grossmacht gegen uns undenkbar, heute müssen wir diese Gefahr wenigstens als möglich ins Auge fassen und bedenken, dass wir in Zukunft auf uns selbst angewiesen sind.» Das Zusammenspiel von Bundesrat, Parlament und Volk funktionierte nun ausgezeichnet. Die Landesregierung verband das Anliegen der Volksinitiative mit der Landesverteidigung und beantragte insgesamt 415 Millionen Franken: 200 Millionen waren bestimmt für den Kauf von Kampfflugzeugen und der Rest für Arbeitsbeschaffungsmassnahmen. Das Volk stimmte am 4. Juni 1939 mit eindrücklichen 70 Prozent Ja zu. Die Sozialdemokraten waren sich des Ernsts der Lage bewusst und zogen ihre Volksinitiative noch am gleichen Tag zurück. Wenige Wochen später begann der Zweite Weltkrieg.

Sozialdemokratische Volksinitiative von 1943 «Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit»

Auch während des Krieges kam es immer wieder zu Volksinitiativen. Als sich im Jahre 1943 nach der Schlacht von Stalingrad die Wende im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, machten sich manche Politiker bereits Gedanken über die Nachkriegszeit. Die SP Schweiz war der Meinung, dass die «alte Welt zusammenkrachen» und das sozialistische Gedankengut nach der Niederlage des Nationalsozialismus Aufwind bekommen würde. Sie beschloss das Programm «Neue Schweiz». Die «Befreiung von der Herrschaft des Kapitals soll dem gesamten Schweizervolk Wohlstand und Kultur sichern.» Der Staat sollte ein gerechtes Wirtschaftssystem einrichten, die Wirtschaftsabläufe vermehrt systematisch planen, Grosskonzerne in Gemeineigentum überführen, den Boden und die Wohnhäuser der Spekulation entziehen, das Recht auf Arbeit gewährleisten und manches mehr. (vgl. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz, 1988, S. 55, 346)
Parallel dazu lancierte die SP eine Volksinitiative mit dem Titel «Wirtschaftsreform und Rechte der Arbeit» und reichte sie mit mehr als 150 000 Unterschriften ein. Während im Jahr 1894 die Volksinitiative «Recht auf Arbeit» der SP die liberale Wirtschaftsverfassung sozialer ausgestalten wollte, hatte diese Initiative das Ziel, die Wirtschaftsordnung in der Bundesverfassung auf einen neuen Boden zu stellen. Die Garantie der Handels- und Gewerbefreiheit in Artikel 31 sollte aufgehoben und durch eine staatliche Wirtschaftslenkung ersetzt werden.

Art. 31 Abs. 1
1.    Die Wirtschaft ist Sache des ganzen Volkes.
2.    Das Kapital ist in den Dienst der Arbeit, des allgemeinen wirtschaftlichen Aufstieges und der Volkswohlfahrt zu stellen.
3.    Der Bund ist befugt, die zu diesem Zweck erforderlichen Massnahmen in Aufbau und Organisation der nationalen Wirtschaft anzuordnen.
4.    Die Existenz der Bürger und ihrer Familien ist zu sichern.
5.    Das Recht auf Arbeit und deren gerechte Entlöhnung sind zu gewährleisten.
6.    […]

Volksinitiativen sind immer auch ein Stück Parteiengeschichte. 1894 waren die Sozialdemokraten noch eine schwache Partei, die mit Jakob Vogelsanger aus Zürich einen einzigen Vertreter im Nationalrat hatte. Ihre erste Volksinitiative «Recht auf Arbeit» reichte sie 1883 mit 53 000 Unterschriften ein – nur wenig mehr als verlangt. 1943 – sechzig Jahre später – war die Situation ganz anders. Die SP war zur wählerstärksten Partei herangewachsen, die für ihre Volksinitiativen jeweils ein Vielfaches der verlangten Unterschriften sammelte. Sie war mit einem Anteil von gegen 30 Prozent auf dem Zenit in der Wählergunst (heute 19 Prozent). 1943 war Ernst Nobs als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt worden – ein längst überfälliges Ereignis.
Die neue Volksinitiative der SP zum Recht auf Arbeit war ein sozialistischer Gegenvorschlag zu den Wirtschaftsartikeln in der Bundesverfassung, die das Parlament kurz zuvor revidiert hatte und über die das Volk nach dem Krieg abstimmen sollte. Der Entwurf des Parlamentes hielt an der Handels- und Gewerbefreiheit fest und sah jedoch zahlreiche Möglichkeiten vor, in verschiedenen Bereichen davon abzuweichen. Der Bundesrat lehnte die Volksinitiative ab. Der Staat könne dem einzelnen Bürger nicht ausreichend lohnende Arbeit verschaffen, ohne das Wirtschaftsleben gesamthaft zu organisieren.

Volksinitiative des Landesrings der Unabhängigen von 1943 «Recht auf Arbeit»

Die SP war jedoch nicht allein mit dem Plan, den revidierten Wirtschaftsartikeln des Parlaments in der Abstimmung einen Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Der Landesring der Unabhängigen lancierte fast gleichzeitig mit der SP ebenfalls eine Volksinitiative mit dem fast gleichen Namen «Recht auf Arbeit».
Der von Gottlieb Duttweiler geführte Landesring verfolgte jedoch ein ganz anderes Ziel als die Sozialdemokraten. Zwar fand auch er, der Abbau der Arbeitslosigkeit müsse in den Gemeinden, in den Kantonen und im Bund das oberste Ziel sein. Das sei zu erreichen, jedoch nicht mit mehr, sondern mit weniger Gesetzen und mit mehr Wirtschaftsfreiheit. Die neuen Wirtschaftsartikel enthielten zu viele Gebote und Verbote. Der «alte» Wirtschaftsliberalismus sollte nicht mit einer Vielzahl neuer staatlicher Regeln korrigiert werden, sondern sich verbinden mit einem Mehr an ethischer Gesinnung und sozialer Verantwortung. Kurz zuvor hatte Duttweiler seine Migros von einer AG in eine Genossenschaft umgewandelt, indem er sie seinen treuen Kundinnen und Kunden schenkte. (vgl. dazu mehr in Teil 5 der Artikelfolge vom 15. September).
Für die Arbeitslosen sah er folgendes vor: Falls jemand die Arbeit verliert, soll er die Möglichkeit haben, innert kurzer Zeit wieder zu Arbeit zu kommen. In der Zwischenzeit erhält er eine Entschädigung für den Verdienst­ausfall – verbunden mit Fortbildungs- und Umschulungskursen. Diese sei eine Ersatzleistung der Gesellschaft und ein Ausfluss des Rechts auf Arbeit und nicht bloss eine Unter­stützung. Diese Ideen sollten später die Grundlage der heutigen Arbeitslosenversicherung bilden.
Eine weitere Volksinitiative zum Thema Recht auf Arbeit, ebenfalls aus dem Jahr 1943, darf nicht vergessen werden:
Die Bauernheimat-Bewegung reichte die Initiative zum «Schutz des Bodens und der Arbeit durch Verhinderung der Spekulation» ein. Landwirtschaftlichen Boden sollte nur noch erwerben dürfen, wer ihn selbst bearbeitet und als Grundlage für seine Existenz bewirtschaftet, forderten die Jungbauern. Diese Initiative sollte den Anstoss geben für ein neues bäuerliches Bodenrecht.
Die zahlreichen Volksinitiativen, die seit 1894 das Recht auf Arbeit auf diese oder andere Art zum Inhalt hatten, stehen für wichtige Phasen in der Geschichte der Schweiz, in denen die Bevölkerung um eine Lösung der sozialen Frage und um eine sozialverträgliche Wirtschaftspolitik gerungen hat.

Bundesverfassung mit neuem Leitbild

Wie ging es weiter? Fast gleichzeitig mit den drei Volksinitiativen aus dem Jahr 1943, die das Recht auf Arbeit zum Thema hatten, wurden zwei weitere Volksinitiativen eingereicht, die soziale Ziele verfolgten. In der einen ging es um eine neue Ausrichtung der Altersversorgung und in der anderen um eine neue Familien­politik.
So kam es nach dem Krieg innerhalb kurzer Zeit zu zahlreichen Volksabstimmungen über grundlegende wirtschaftliche und soziale Anliegen aus der Bevölkerung. Drei Vorschläge zur Reform der Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung standen sich gegenüber, die sich im Kern wesentlich unterschieden: Das Parlament hielt in seinem Entwurf an der Handels- und Gewerbefreiheit als individuelles Grundrecht (und als Leitsatz für die Wirtschaftsordnung) fest, sah aber zahlreiche Möglichkeiten vor, davon abzuweichen. Die Sozialdemokraten dagegen beseitigten die Wirtschaftsfreiheit aus der Verfassung und ersetzten sie durch die Regelung, dass der Staat die Wirtschaft lenkt. Der Landesring der Unabhängigen mit Gottlieb Duttweiler sahen dies anders. Sie forderten nicht weniger, sondern mehr Wirtschaftsfreiheit. Der «alte» Liberalismus sollte nicht mit mehr Gesetzen, sondern mit einem Mehr an Ethik und Verantwortung korrigiert werden. Zu all dem würde das Volk über ein neues bäuerliches Bodenrecht und über eine neue Landwirtschaftspolitik entscheiden. Damit nicht genug: Nicht weniger wichtig waren die Abstimmungen über eine neue Familienpolitik und über eine neue Altersversorgung.
Das Volk sollte nach dem Krieg innert kurzer Zeit in zahlreichen Urnengängen über die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft der Schweiz abstimmen, wie wir sie heute kennen. Es sollte eine Totalrevision der Bundesverfassung im kleinen werden – ein Aufbruch in eine neue Zeit (in der wir heute leben). Man konnte gespannt sein.     •

Quellen:
Alfred Kölz. Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte (mit Quellenbuch), Bern 2004; 100 Jahre Sozialdemokratische Partei, Zürich, 1988
Häner Isabelle. Nachdenken über den demokra­tischen Staat und seine Geschichte, Beiträge für
Alfred Kölz, Zürich 2003
W. Linder, C. Bolliger, Y. Rielle. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007, 2010
Bruno Hofer. Volksinitiativen der Schweiz, 2012
Kriele Martin. Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, München 1987
Erich Gruner. Arbeiterschaft und Wirtschaft
in der Schweiz 1880–1914, Zürich 1988
René Rhinow, Gerhard Schmid, Giovanni Biaggini, Felix Uhlmann. Öffentliches Wirtschaftsrecht,
Basel 2011
und manches mehr.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK