Kompetenzorientierung am Pranger

Kompetenzorientierung am Pranger

von Rainer Werner*

In der letzten Februarwoche 2015 wurden die Ergebnisse des Grundschultests «Vera 3» in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht. Getestet wurden die Rechtschreibleistungen der Drittklässler. Das Ergebnis ist schockierend: Mehr als ein Drittel der Schüler (37,4 %) erreichen nicht einmal den Mindeststandard, den die Kultusministerkonferenz festgelegt hat. Weitere 25,9 % erreichen dieses Minimum nur knapp. Man kann also davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte der Grundschüler der 3. Klasse in diesem Bundesland die deutsche Rechtschreibung nicht oder nur unzureichend beherrscht. Ein niederschmetterndes Resultat. Entsprechend zerknirscht gab sich Kultusminister Brodkorb (SPD), als er die Ergebnisse vorstellen und kommentieren musste. Er führte die Ausfälle auf eine didaktische Methode zurück, die seit einigen Jahren in die Grundschulen Einzug gehalten hat: das «lautgerechte Schreiben». Um Schreibbarrieren bei den Kindern abzubauen, dürfen sie zwei Jahre lang ohne Regeln schreiben. Sie schreiben phonetisch, so wie sie die Laute hören. Der dabei entstehende Text-Kauderwelsch ist oft nur schwer verständlich («Rehnade hatt eine bunde Bluhse an.»). Experten haben vor diesem Verfahren schon immer gewarnt, weil es in den Köpfen die falsche Schreibweise zuerst verfestige, die man dann wieder mühsam dem regelgerechten Schreiben anpassen müsse – ein unsinniger Umweg. In Spiegel Online bezeichnete ein Kommentator die Lernmethode «Schreiben nach Gehör» als «unterlassene Hilfeleistung» (vgl. 5.3.2015).
Der Bildungsminister führte die schlechten Rechtschreibleistungen noch auf eine andere Ursache zurück: auf die Kompetenzorientierung, die an allen Schulformen inzwischen in Konkurrenz zu den Inhalten getreten ist. Sein Land, so der Minister, werde «wieder stärker Fachinhalte vorschreiben, wozu auch ein Kanon deutscher Literatur» zähle. «Die Relativierung der Fachinhalte durch Kompetenzbeschreibungen» will der Minister nicht länger hinnehmen. Als Lehrer reibt man sich verwundert die Augen. In den letzten Jahren wurden die Lehrkräfte, die die Dominanz der Kompetenzen im Fachunterricht als Irrweg bezeichneten, als «rückständig», «ewig-gestrig» usw. gebrandmarkt. Jetzt gibt man ihnen recht, weil die Wissenslücken und Leistungsmängel bei den Schülern nicht mehr zu verbergen sind. Mich erinnert das Verhalten des Ministers an die Karikatur von Roland Beier, die Karl Marx nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (1990) in peinlich berührter Pose zeigt: Tut mir leid, Jungs! War halt nur so’ne Idee von mir …
Der Vorrang der Kompetenz vor dem Fachinhalt hat viel Schaden angerichtet. Ich habe Referendare erlebt, die so unter dem Zwang standen, den Kompetenzraster abzuarbeiten, dass sie darüber die Fachinhalte vernachlässigten. Ein Referendar fragte mich nach einem geeigneten Text für eine Lehrprobe in einer 10. Klasse des Gymnasiums. Ich meinte, mit einem Text von Franz Kafka – «Eine kaiserliche Botschaft» oder «Vor dem Gesetz» – könne er nichts falsch machen. An diesen berühmten Parabeln könnten die Schüler ihre Interpretationskunst erproben und ihr Sprachgefühl schärfen. Traurig blickte mich der junge Mann an: Das gehe nicht, die Fachseminarleiterin wolle die Methode «Lernen an Stationen» und die Kompetenz «Selbstorganisation des Lernens» sehen. Ich gab ihm recht. Kafka könne man nicht «an Stationen» lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof. Solche absurden formalen (!) Vorgaben setzen die Methode des Unterrichtens und eine abstrakte Kompetenz über die kluge Auswahl des Inhalts. Die derzeit grassierenden «schülerzugewandten Lehrmethoden» haben es ausserdem an sich, dass man schwierige Sachverhalte mit ihnen gar nicht unterrichten kann. Anspruchsvolle Autoren wie Friedrich Hölderlin, Franz Kafka, Georg Büchner und Heinrich von Kleist fallen dann durch den Rost. Sie wären nur mit der Methode vermittelbar, die die moderne Didaktik anmassend als «gestrig» etikettiert – das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch, die effektivste Lehr- und Lernmethode, die ich kenne.
In einer bekannten überregionalen Tageszeitung wurde in einer Reportage der Unterricht am Franz-Stock-Gymnasium im westfälischen Arnsberg geschildert. Das Gymnasium gilt als vorbildlich mit digitalen Lernmitteln ausgestattet. Wenn denn vorhanden, müssen die teuren Laptops und iPads dann natürlich auch eingesetzt werden. Im Deutschunterricht (die Klassenstufe wurde nicht genannt) drehen die Schüler mit ihren iPads einen Film über Schillers Ballade «Der Handschuh». Die Schüler transformieren den historischen Stoff in einen heutigen Kontext: Sie fechten mit Star-Wars-Schwertern. Auch hier kann man beobachten, wie ein technisches Hilfsmittel die Didaktik der Unterrichtsstunde bestimmt. Diese anspruchsvolle und keinesfalls leicht verständliche Ballade herunterzubrechen auf das Niveau eines Hollywood-Schinkens, wird ihrem Gehalt mit Sicherheit nicht gerecht. Ich fände es interessant zu erfahren, ob die Schüler den schwierigen Gehalt der Ballade vom Missbrauch der Liebe («Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht. ‹Den Dank, Dame, begehr ich nicht›, und verlässt sie zur selben Stunde») geistig durchdrungen haben, bevor sie sich als Filmregisseure betätigten.
Wie wird eine anspruchsvolle Lehrkraft ihre Textauswahl für den Literaturunterricht treffen? Nehmen wir das Gedicht «An den Mond» von Johann Wolfgang von Goethe («Füllest wieder Busch und Tal/Still mit Nebelglanz …»). Dieses Gedicht wäre für mich immer erste Wahl. Zum einen ist es eines der wertvollsten Gedichte Goethes aus seiner klassischen Periode (Anspruch); zum anderen ist es makellos schön, vollendet in Gehalt, Form und sprachlicher Gestalt (Ästhetik); zum dritten hat es eine Botschaft, die jungen Menschen auch in unserer modernen Zeit etwas Wichtiges vermitteln kann: Ein erfülltes Leben gibt es auch jenseits des grossen Weltgetriebes («Selig wer sich vor der Welt/Ohne Hass verschliesst …») (Sinnstiftung, Orientierung). Wäre es wirklich vertretbar, eine solche Kostbarkeit unter den Tisch fallen zu lassen, weil sie wegen ihrer schwierigen Erschliessbarkeit den «schülerzugewandten Lehrmethoden» widerstrebt? Man muss es sich vergegenwärtigen: Gerade das, was die Qualität der klassischen (kanonischen) Texte ausmacht, erweist sich als Hindernis für die Behandlung im Unterricht moderner Prägung. Der Stuttgarter Geschichtslehrer Eberhard Keil hat diese Fehlorientierung in seiner Kritik am «Bildungsplan 2015» von Baden-Württemberg treffend auf den Punkt gebracht: «Es hat den Anschein, auf ein bestimmtes Wissen komme es nun nicht mehr an, kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten könnten ohne oder mittels beliebiger Inhalte geschult werden.» (Eberhard Keil, «Reform in Permanenz», 2014).
Bis zum Beginn der Kompetenz-Euphorie im Pisa-Jahr 2001 legte der lernzielorientierte Unterricht eindeutig die Priorität auf die Inhalte des Unterrichts. So war es im Deutschunterricht nicht egal, mit welchen Texten man die Schüler vertraut machte. Hochwertige und bewährte (kanonische) Texte standen im Mittelpunkt, auch wenn sie sprachlich sperrig waren und quer zur Erfahrungswelt der Schüler standen. Im Geschichtsunterricht wurde Wert darauf gelegt, den Schülern die unübersehbar grosse Fülle historischer Ereignisse verständlich zu machen, indem ein chronologischer und struktureller Orientierungsrahmen vermittelt wurde. Das, was man heute Kompetenzen nennt, die «instrumentellen Lernziele», hat kein vernünftiger Lehrer dabei jemals vernachlässigt. Auch in der «alten Zeit» mussten Schüler Texte markieren, thesenartig zusammenfassen, kurze Vorträge darüber halten. Allerdings legten die Lehrkräfte stets Wert darauf, dass das Verständnis der Inhalte im Vordergrund stand. Mit «Faktenhuberei», wie diese Unterrichtsmethode heute gerne denunziatorisch genannt wird, hat das nichts zu tun. Eher mit dem Postulat Goethes aus seinem Drama «Faust»: «Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,/Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.» – («Faust I», Vers 2565f.). Wenn man die Oberfläche – die Technik der Präsentation – für wichtiger hält als die Substanz – das Verständnis des Gegenstands –, kann man nicht ausschliessen, dass die Schüler etwas «präsentieren», das sie geistig nicht oder nur halb durchdrungen haben. Der Philosoph Martin Heidegger warnte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts davor, das Blendwerk der Worte für die Sache selbst zu nehmen: «Das Gerede ist die Möglichkeit, alles zu verstehen, ohne vorgängige Zueignung der Sache.» (Martin Heidegger, «Sein und Zeit», 1927). Dieses «Gerede» ist für ihn ein Beleg für Halbbildung. Können wir das in der Schule wirklich wollen?
In der deutschen Literaturgeschichte gibt es ein krasses Beispiel dafür, wie sich Schriftsteller – des Wortes durchaus kundig – von der Oberfläche eines Textes – dessen Vortrag – so blenden lassen, dass sie dessen Inhalt auf eklatante Weise verkennen. Im Jahre 1952 trug der jüdische Schriftsteller Paul Celan bei einer Tagung der «Gruppe 47» in Niendorf an der Ostsee sein Gedicht «Todesfuge» vor. Sein expressionistisch aufgeladener, von jiddischen Sprachlauten durchsetzter Vortragsstil irritierte die versammelten Dichter so sehr, dass sie sagten: «Der liest ja wie Goebbels.» Dabei war ihnen entgangen, dass sie eben das beste Gedicht in deutscher Sprache über den Holocaust gehört hatten. Mangelnde Kompetenz (des Vortrags) schlägt Inhalt (Gehalt des Gedichts) – so könnte man es sarkastisch ausdrücken.
Es bleibt abzuwarten, ob die Selbstkritik des Bildungsministers aus Mecklenburg-Vorpommern ein Einzelfall bleibt oder ob die Lehrplan-Macher aller Bundesländer die Kompetenzlastigkeit ihrer Pläne bald korrigieren. Kritische Rückmeldungen aus den Schulen könnten dabei hilfreich sein. Bis dahin sollten die Lehrkräfte die Freiräume, die ihnen die Pläne bieten, dazu nutzen, unverzichtbare Inhalte auf alle Fälle im Unterricht zu vermitteln. Die Fachbereiche/Fachschaften der Schulen könnten dies dadurch unterstützen, dass sie interne Curricula beschliessen, in denen solche inhaltlichen Festlegungen getroffen werden. Als Deutschlehrer würde ich es zum Beispiel begrüssen, wenn jede Schule einen für ihre Schülerschaft angemessenen Literaturkanon auflegte. Kein Abiturient sollte die Schule verlassen, ohne Goethes «Werther», seinen «Faust», Schillers «Räuber» (oder ein anderes seiner Dramen) und je eine Novelle von Heinrich von Kleist und von Thomas Mann gelesen zu haben. Dabei sollten sie nach dem altbewährten Motto verfahren: Ein guter Text sucht sich seine Methode von selbst.    •

Quelle: <link https: guteschuleblog.wordpress.com>guteschuleblog.wordpress.com/2015/03/

* Rainer Werner unterrichtete bis zu seiner Pensionierung an Berliner Gymnasien Deutsch und Geschichte. Von ihm erschien im Frühjahr 2014 das Buch «Lehrer machen Schule». Er betreibt den Blog, dem der Text entnommen ist.

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