Europa braucht keine deutsche «Macht in der Mitte»

Europa braucht keine deutsche «Macht in der Mitte»

Politische Dimensionen der Griechenlandkrise

von Karl Müller

Die Art und Weise, wie in Deutschland (und leider nicht nur dort) über die Entwicklung der griechischen Staatsschulden, der griechischen Politik und des Verhältnisses Griechenlands zu den anderen Staaten der Europäischen Union, insbesondere zu Deutschland, geschrieben und gesprochen wird, erfüllt verschiedene Zwecke. Einer davon ist der Kampf um die künftigen Machtverhältnisse in der EU und in Europa. Dass hierbei das deutsch-griechische Verhältnis im Zentrum steht, ist kein Zufall. Denn es geht um die Stellung Deutschlands innerhalb der EU und in Euro­pa und darum, wie dieses Deutschland mit anderen souveränen Staaten Europas umzugehen gedenkt. Griechenland ist nur ein Präzedenzfall.
Die insbesondere in Deutschland weit verbreitete Deutungsversion lautet, die Griechen hätten sich den Zugang zum Euro mit gefälschten Statistiken erschlichen. Sie hätten die niedrigen Zinsen im Euro-Raum missbraucht, um über ihre eigenen Verhältnisse zu leben. Sie seien in einem Sumpf von Korruption, Misswirtschaft und horrender Verschuldung versunken. Nun, wo alles offenbar geworden ist, bräuchten sie eine starke Hand von aussen, vor allem eine starke deutsche Hand, um zur Räson gebracht zu werden. Der Widerstand der Griechen dagegen sei verwerflich; denn niemand, insbesondere Deutschland nicht, sei länger bereit, einem Land und einem Volk Geld in den Rachen zu werfen, das nur auf Kosten anderer, vornehmlich der Deutschen, ein gutes Leben führen und dabei auch noch eigene Wege gehen wolle.
Es ist hier nicht der Ort, alle diese Unterstellungen zu untersuchen und zu widerlegen beziehungsweise genauer hinzuschauen und zu differenzieren. Viel interessanter ist die Frage nach dem Zweck und der Gesinnung hinter solchen Unterstellungen.
Der Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, hat im November 2011 auf dem Parteitag der CDU in Leipzig mit wenigen Worten eine deutliche Ansage gemacht: «Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen.»
Die dieser Ansage folgenden Forderungen des deutschen Bundespräsidenten Gauck, der deutschen Verteidigungsministerin von der Leyen und des deutschen Aussenministers Steinmeier, Deutschland müsse mehr «Verantwortung» in der Welt übernehmen, beziehen sich eben nicht nur auf Kriegseinsätze überall in der Welt, sondern auch auf die Deutschland von diesen Politikern zugedachten «Aufgaben» in der EU und in Eu­ropa.
Deutscher Professor fordert: Deutschland muss «Zuchtmeister» der EU sein
Jüngstes und bislang ausführlichstes Menetekel der Deutschland zugedachten Rolle ist das neueste Buch von Herfried Münkler, «Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa». Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin und mitten drin in den deutschen Macht-Netzwerken. Wie Gauck, von der Leyen und Steinmeier spricht auch Münkler von mehr deutscher «Verantwortung» und «Verpflichtung», aber Münkler ist trotz aller beschönigenden Rhetorik und zahlreicher Spins «offener» als die deutschen Politiker und fordert, im Rahmen dieser «Verantwortung» alle verfügbaren deutschen Machtmittel einzusetzen. Macht ist bekanntlich die Fähigkeit, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen.
Münklers These ist, kurz gesagt, folgende: Das Projekt eines politisch vereinten Europas ist gescheitert, die Zentrifugalkräfte innerhalb der EU haben spätestens seit der Euro-Krise stark zugenommen, und es drohe ein europäisches Chaos: innerhalb der EU, aber auch an den Randgebieten der EU (Nord­afrika, Levante und Osteuropa/Ukraine). EU-Europa benötige deshalb eine Führungs- und Ordnungsmacht, die alle ihre Machtmittel einsetzt, um den Zentrifugalkräften entgegenzuwirken – einen neuen Hegemon.
Dieser Hegemon könne nur Deutschland sein. Und dass Deutschland, nicht zuletzt wegen seiner Geschichte, nur ein «verwundbarer Hegemon» sein könne, habe sein Gutes; denn deshalb würden die deutschen Machtmittel nur mit Mass und Vernunft eingesetzt und auch eher von den anderen Ländern der EU hingenommen. Nichtsdestoweniger gelte für den deutschen «Nettozahler» der EU: «‹Zahlmeister› kann auf Dauer nur sein, wer auch bereit ist, die schwierige Rolle eines ‹Zuchtmeisters› zu spielen». Münkler listet im letzten Kapitel seines Buches «das Portfolio der Machtsorten» auf, spricht von der wirtschaftlichen, der ideologisch-kulturellen und der sehr wichtigen, in Deutschland aber «leider» umstrittensten, der militärischen Macht, um mit einem letzten Spin zu enden: «Die Macht in der Mitte ist um so einflussreicher, je weniger der Raum, dessen Mitte sie ist, in militärische Konflikte verstrickt ist und sich gegen Bedrohungen zur Wehr setzen muss. Die Macht in der Mitte verfolgt ihre Interessen am besten, wenn sie als Friedensmacht handelt. Ob die Umstände ihr das erlauben, steht freilich auf einem anderen Blatt.»
Soll Griechenland der Präzedenzfall sein? Und geht es bei allem wirklich um deutsche Interessen? In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die offensichtliche «Führungs- und Ordnungsmacht» im nicht zum Warschauer Pakt gehörenden Teil Europas – die einzige Ausnahme war Jugoslawien. Mit dem Ende des Kalten Krieges gab es die kurze Chance, aus Europa einen Kontinent souveräner Nationen zu machen, in dem die Völker und Staaten gleichberechtigt und in Frieden miteinander leben, zusammenwirken und Konflikte allein am Verhandlungstisch lösen. Die 1990 von den KSZE-Staaten verabschiedete Charta von Paris brachte diesen Wunsch zum Ausdruck.
Die USA haben diesen Wunsch sehr schnell missachtet. Aber die direkten Machtmittel der USA wurden überstrapaziert. Heute sind die USA zwar noch eine starke Militärmacht, deren Rüstungsausgaben so hoch sind wie die aller anderen Staaten zusammen, aber deren Kräfte sind überdehnt, und das Land selbst ist ausgelaugt. Der ursprüngliche Plan der «einzigen Weltmacht» ist nicht aufgegangen. Aber das Ziel, die Welt zu beherrschen, wurde nicht aufgegeben. Zbigniew Brzezinski hatte in den neunziger Jahren den Plan, die US-amerikanische Herrschaft über Eurasien durch ein deutsch-französisches Führungsduo in Europa zu sichern. Frankreich scheint ausgefallen zu sein. Ist das Gerede von der «Macht in der Mitte» also nur alter Wein in neuen Schläuchen?
Oder gibt es einen originären, auch gegen die USA gerichteten Machtanspruch deutscher Eliten, der zwar keineswegs dem Willen der Deutschen entspricht – das zeigen alle demoskopischen Untersuchungen, direkt entscheiden dürfen die Deutschen ja nicht –, der aber trotzdem stark nach Verwirklichung drängt? Oder ist das «Spiel» noch perfider, wie schon einmal in der deutschen Geschichte: Soll eine Hybris erzeugt werden, damit wieder Krieg in Europa toben kann …, damit jemand der lachende Dritte sein kann?
Wie dem auch sei, alle solchen Pläne sind ein Schlag gegen die geschichtliche Erfahrung und den Willen der Völker Europas. Ob nun im Auftrag und Interesse der USA oder auf Grund eigener Machtlüsternheit: Europa und seine Völker werden die Leidenden sein, auch das deutsche Volk. Europa verträgt und erträgt es nicht mehr, wenn ein Staat den Ton angeben will, gerade auch, wenn dies auf eine subtile Art und Weise geschehen soll, wie man bei Herfried Münkler sehr gut nachlesen kann. Die anderen Völker Europas spüren sehr genau, dass von Deutschland ein Streben nach Vorherrschaft ausgeht, mag es sich auch hinter zahlreichen Beschönigungen verstecken. Es gibt deshalb viele Gründe für Wohlwollen mit Griechenland und den Griechen und viele Gründe für eine grosse Skepsis gegenüber den «neuen Aufgaben Deutschlands in Europa».    •

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