Agrarpolitik darf nicht auf Wettbewerb und offene Grenzen reduziert werden

Agrarpolitik darf nicht auf Wettbewerb und offene Grenzen reduziert werden

von Reinhard Koradi

In einzelnen Wirtschaftsbereichen mögen offene Grenzen sowohl für Anbieter als auch Nachfrager durchaus Vorteile bringen. Internationale Wirtschaftsbeziehungen sind schliess­lich die Folge unterschiedlicher Ressourcenvorkommen, Produktionsbedingungen, aber auch Produktionsfähigkeiten respektive -kapazitäten. Unter diesem Blickwinkel ist der freie Marktzugang bestimmt als Fortschritt zu werten. Allerdings zeigen die Kriege um die Ressourcen nur zu deutlich, dass der freie Markt vielfach der Herrschaft des Stärkeren weichen muss. Märkte sind eben nur wirklich frei, wenn Gleichwertigkeit, Fairness und Transparenz uneingeschränkt vorhanden sind. Zur freien Marktwirtschaft müsste zwingend die Freiheit gehören, als souveräner Staat autonom über Beteiligung und Ausmass an der Liberalisierung und Deregulierung zu entscheiden. Der Vorwurf «Rosinenpicker» dürfte dann zwar umgehend die Runde machen; aber wenn auf jeder Seite das Recht wahrgenommen würde, als souveräner Staat die Interessen seiner Bürger wahrzunehmen, dann kann ja die Gegenseite das «Rosinenpicken» einfach zurückweisen.

Freihandel zersetzt nationale Souveränität

Es gibt mehrere Gründe, die die Bedingungen eines effektiv freien Marktes sabotieren. Eine der wesentlichsten Ursachen ist die Verletzung der nationalen Souveränität. Das allumfassende (Wirtschafts-)Regime durch WTO, IWF, Weltbank und OECD ist durch schwerwiegende Mängel belastet. Zur Parteilichkeit kommt vor allem die fehlende Bereitschaft, differenziert zu denken und zu handeln. Die bewusste Ausblendung unterschiedlicher Ausgangslagen und Rahmenbedingung sowie der Anspruch auf Unfehlbarkeit verstossen gegen das Selbstbestimmungsrecht souveräner Völker. Unter diesem Aspekt sind auch die auf dem Verhandlungstisch liegenden transnationalen Abkommen (TTIP, TiSA) als bedenklich zu erklären. Sollten sie einmal in Kraft treten, begeben sich die Nationalstaaten und damit deren Regierungen weiter in die Abhängigkeit kommerzieller Interessen transnationaler Konzerne. Mit dem Abschluss solcher Abkommen ordnen die ­politischen Gremien und Behörden die Autonomie ihrer Staaten den globalen, eigennützigen und machtkonzentrierten Zielen einer kapitalstarken Minderheit unter. Die ­Politik verliert damit ihre Unabhängigkeit und läuft Gefahr, sich voll in den Dienst des Eigennutzes der Hochfinanz zu stellen.
Entsprechende Korrekturen sind dringend notwendig, indem die Staaten wieder vermehrt auf ihrem Selbstbestimmungsrecht bestehen und sich dem selbstherrlichen Herrschaftsanspruch der Konzernbosse und (Wirtschafts-)Lobbyisten energisch entgegenstellen. Abgestimmt auf die spezifischen Bedürfnisse der Länder und der ansässigen Bevölkerung gilt es, global angeordnete Vertragsinhalte und Verpflichtungen zu durchbrechen und, falls notwendig, zu kündigen. Alternativ zu prüfen wäre dann der Abschluss von entsprechenden Verträgen zwischen zwei souveränen Vertragspartnern oder die Eigenleistung durch selbstverantwortliches Gestalten und Handeln.

Demokratische Kontrolle und Solidarität geraten unter Druck

Dies gilt vor allem, wenn es um die Grundversorgung geht. Die Verantwortung für eine optimale Grundversorgung liegt bei der «öffentlichen Hand». In der Schweiz also beim Bund, bei den Kantonen und den Gemeinden. Innerhalb der Diskussionen rund um die Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung, Wettbewerbsfähigkeit und Public Management hat die Gewährleistung der Versorgung mit existenzsichernden respektive lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen erheblichen Schaden genommen. Immer mehr setzte sich das Dogma durch, der Staat sei ineffizient, Wettbewerb fördere den Wohlstand und der freie Markt sei der effizienteste Marktregulator. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine von der öffentlichen Hand aufgebaute und unterhaltene Infrastruktur eine solide Garantie für Versorgungssicherheit, Zuverlässigkeit, hohe Qualität und Chancengleichheit gewährleistet und damit wesentlich zur Standortattraktivität eines Landes oder einer Region beiträgt. Durch die Kommerzialisierung der öffentlichen Aufgaben (Energie- und Wasserversorgung, Verkehr, Bildung, Gesundheitswesen, Verwaltung und Sicherheit) wird auch in vielen Tätigkeitsbereichen das sehr effiziente Milizsystem, die wertvolle Freiwilligenarbeit unterhöhlt. Dabei geht die demokratische Kontrolle über diese existentiellen Versorgungsaufgaben verloren, und die Solidarität innerhalb der Bevölkerung gerät durch das vorherrschende Wettbewerbsdenken unter Druck.

Die Landwirtschaft als Rückversicherung

Für die Grundversorgung ist eine produzierende Landwirtschaft von zentraler Bedeutung. Seit Jahrzehnten wird diese Bedeutung für eine sichere Grundversorgung sträflich vernachlässigt und eine lückenhafte – nur noch auf Wettbewerb und offene Grenzen reduzierte Agrarpolitik – verfolgt. Übrigens geschickt getarnt mit einem mainstreamfähigen ökologischen Mäntelchen. Tatsache ist, dass diese Politik weder staatspolitischen, sicherheits-, sozial- noch wirtschaftspolitischen Ansprüchen gerecht werden kann.
Die Folge dieser Politik ist, dass die Bauern, nicht nur in der Schweiz, um ihre Existenz kämpfen und sich dabei auch gegenseitig beargwöhnen. Die aktuelle Agrarpolitik blendet die versorgungspolitischen und damit die infrastrukturerhaltenden Fakten einer inländischen Lebensmittelproduktion völlig aus und mutiert je länger je mehr zu einem Labor neoliberaler Feldversuche. Dabei geraten die Bauern allmählich in eine bedrohliche Existenzkrise. Sie finden sich zwischen Hammer und Amboss. Auf der einen Seite steigen die Produktionskosten, vor allem auch wegen der immer zahlreicher werdenden Produktions- und Qualitätsvorschriften und dem entsprechenden Kontrollaufwand. Auf der andern Seite sinken die Preise – politisch gewollt – für ihre Erzeugnisse laufend. Durch die auf politischer Ebene bewusst vorangetriebene Strukturbereinigung werden die Landwirte in eine Investitionsfalle gedrängt. Kleinere Betriebseinheiten verlieren ihre Existenzgrundlage infolge sinkender Einkommen und werden zur Betriebsaufgabe oder zu Betriebserweiterungen mit entsprechenden Investitionen gezwungen. Die dadurch gesteigerten Produktionsmengen heizen den Preiszerfall weiter an. Die Spirale dreht sich immer weiter und beschleunigt die versorgungspolitisch sehr gefährliche Ausdünnung der produzierenden Landwirtschaftsbetriebe. Dieser Prozess setzt sich fort und führt im Endergebnis zur Industrialisierung der Landwirtschaft – auch in der Schweiz. Die Industrialisierung mag unappetitlich sein. Was aber viel schwerer wiegt, sind der Verlust der Ernährungssouveränität in unserem Land und die vielen schwerwiegenden persönlichen Schicksale der betroffenen Bauernfamilien. Als Begründung dieser Politik rücken Schlagworte wie Wettbewerbsfähigkeit, günstigere Preise für Lebensmittel in der Schweiz in den Vordergrund. Die politische Brisanz dieser Lenkung der Landwirtschaft bleibt jedoch unter dem Teppich. Destabilisierung der Versorgungsicherheit, Abhängigkeit vom Ausland, Verlust von sehr wertvollen Arbeitsplätzen und die Preisgabe der Selbstbestimmung über Lebensmittelproduktion und -konsum. Offen bleibt auch die Frage, wer denn die Effizienzgewinne letztlich generiert? Beim Konsumenten, wenn auch oft beschworen, landen sie auf jeden Fall nicht.
Ändern wird sich kaum etwas. Es sei denn, die Bürger setzen sich ernsthaft mit dem Szenario auseinander, dass eines Tages die Teller auf dem Mittagstisch einfach leer bleiben, weil in der Schweiz nicht mehr produziert wird, die Einfuhr aus dem Ausland wegen politischer «Unstimmigkeiten» gestört ist und vielleicht auch weil ganz schlicht die Kaufkraft fehlt? Denn die Konzentration in der Landwirtschaft endet nicht bei den Bauern. Vor- und nachgelagerte Branchen leiden unter dieser Politik ebenso und erfahren denselben Strukturwandel, was konsequenterweise den Werkplatz Schweiz und die damit verbundenen Arbeitsplätze erheblich gefährden wird.

Umdenken in Sicht?

Die Vereinten Nationen erklärten das Jahr 2014 zum Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe und das Jahr 2015 zum Internationalen Jahr des Bodens. Mit der Erklärung soll die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Bodens für die Biodiversität, die Ernährungssicherung, die Landwirtschaft und weitere wichtige, zum Teil unbekannte Leistungen des Bodens gerichtet werden. Verschiedene Bundesämter, Vertreterinnen und Vertreter von Fach- und Branchenorganisationen sowie Nichtregierungsorganisationen (NGO) führen in der Schweiz über das Jahr hinweg verschiedene Aktivitäten zum Thema Boden durch.
Die Einsicht, dass der Boden ein sehr kostbares und dazu noch ein begrenztes Gut ist, zwingt uns, sehr sorgfältig und verantwortungsvoll mit der immer knapper werdenden Grundlage sämtlicher wirtschaftlicher Aktivitäten umzugehen. Der Ausgleich zwischen Nutzung und Schutz der natürlichen Ressource Boden stellt daher sehr hohe Anforderungen an die zuständigen Akteure auf allen Ebenen. Besonders gefordert sind die Bauern, da diese jedoch sehr genau wissen, was der Boden für sie als Existenzgrundlage bedeutet, können wir sehr wohl auf Wissen, Erfahrung und Erfüllen der Sorgfaltspflicht der Landwirte vertrauen. Das Kulturland gerät aber immer mehr unter Druck. Die Verstädterung (Siedlungsbauten), Umnutzung, Erholungsräume, Renaturierung von Flüssen und Seeufern sowie Natur- und Umweltschutz werden nicht selten gegen die Produktion von Agrargütern ausgespielt. Dabei mögen kommerzielle Interessen meist eine viel grössere Rolle spielen als die vorgeschobenen ideellen Werte. In einer nachhaltigen und zeitgemässen Agrarpolitik muss das Gleichgewicht zwischen produzierender Landwirtschaft und dem ökologischen Ausgleich gesucht und gefunden werden. Es geht nicht an, Ökologie gegen die existenzsichernde Lebensmittelproduktion in unserem Land auszuspielen.
Im Internationalen Jahr des Bodens muss auch die nationale Hoheit über die Bodennutzung thematisiert werden. Die Verfügungsgewalt über die nationalen Ressourcen – und dazu gehört unbedingt der Boden – muss unantastbar bleiben respektive werden.
Der Boden mit all seinen natürlichen Schätzen muss zur unanfechtbaren Lebensgrundlage für die Menschen erklärt werden, die in den entsprechenden Ländern leben, und kann daher niemals als normales «Handelsgut» und Spekulationsobjekt genutzt oder gar missbraucht werden. Die Aufkäufe von fruchtbarem Ackerland (Land-Grabbing) in den weniger entwickelten Ländern durch internationale Investoren und reiche Staaten muss gestoppt werden. Statt in fremden Ländern Land zu kaufen, gilt es, die eigenen Ressourcen umsichtig zu nutzen und die Selbstversorgung durch die Inlandproduktion durch zielführende Mass­nahmen auszubauen und zu sichern.

Mehr Eigenverantwortung auch in der Schweiz

Immer mehr Menschen erkennen die Bedeutung der Selbstversorgung für die innere Stabilität und die Souveränität eines Volkes. Verschiedene Volksbegehren sind in der Pipeline. Sämtliche Initiativen fordern eine Stärkung der Selbstversorgung mit einheimischen Lebensmitteln. Sowohl der Schweizer Bauernverband als auch Uniterre und die Grünen drücken durch ihre Begehren ihr stetig steigendes Unbehagen über die aktuelle Agrarpolitik in unserem Land aus. Die überwältigende Zahl der Bürger-Unterschriften bestätigt zudem, dass sich dieses Unbehagen auch im Volk immer mehr festsetzt.
In demselben Kontext ist die Feststellung von Nationalrat Ernst Schibli zu sehen. So lautet seine Anfrage an den Bundesrat: «Obwohl die Schweiz in Europa den tiefsten Selbstversorgungsgrad aufweist, ist die Schweizer Agrarpolitik des Bundes auf eine noch stärkere Extensivierung ausgerichtet. Eigentlich sollte auf Grund von in- und ausländischen Tatsachen das Gegenteil der Fall sein.»
Er fragt den Bundesrat, ob er den engen Zusammenhang zwischen der produzierenden Landwirtschaft und den vor- und nachgelagerten Branchen zur Erhaltung einer vielfältigen, ausreichenden einheimischen Nahrungsmittelversorgung erkennen kann. Weiter fragt er nach der Bereitschaft der Landesregierung, die Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass die Leistungserbringer der gesamten Wertschöpfungskette reelle Perspektiven haben, um ihren Auftrag langfristig zu erfüllen, und zwar auch durch Betriebe mit gewerblichen Strukturen. Zudem möchte Nationalrat Schibli auch ein Bekenntnis des Bundesrates zu einer ausreichenden Versorgung mit qualitativ hochwertigen einheimischen Nahrungsmitteln.
Noch steht die Antwort des Bundesrates aus. Die Zeichen aus der Bevölkerung unterstreichen jedoch die Dringlichkeit und Bedeutung des vorgebrachten Anliegens.

Es liegt an uns

Die Grundlage für die schweizerische Agrarpolitik ist der Landwirtschaftsartikel in der Bundesverfassung (Artikel 104):
1    Der Bund sorgt dafür, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag leistet zur:
a.    sicheren Versorgung der Bevölkerung;
b.    Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft;
c.    dezentralen Besiedlung des Landes.
Die Schweizer Bürger sind aufgerufen, ihre politischen Rechte zu nutzen, um die Umsetzung des Artikels 104 einzufordern. Zu einer modernen und nachhaltigen (im Sinn der Erhaltung der Produktionsfähigkeit) Agrar­politik gehören unbedingt der Schutz und die Förderung bestehender Produktions- und Versorgungsstrukturen. Durch entsprechende Rechtsgrundlagen und Verordnungen ist gegenüber der Landwirtschaft respektive den Bauern eine zuverlässige und langfristig ausgerichtete Existenzgrundlage als verbindlich zu garantieren. Die laufenden «Reformen» verhindern eine langfristig ausgerichtete Betriebsplanung und -führung und bergen vor allem auch bei der Nachfolgeregelung ein erhebliches Risiko in sich. Gefordert werden muss zudem, dass sämtliche, teilweise auch etwas verharmlost dargestellten Instrumente, (Regelung der Direktzahlungen, Bemessungsgrundlagen und deren Anwendung) die letztlich nur der Strukturbereinigung dienen und zu einem weiteren Bauernsterben führen, ausgemustert werden.
Wir müssen uns von der «Schönwetter­politik» verabschieden und differenziert in Krisenszenarien denken. Nur so gelingt es, die wirkliche Bedeutung der Landwirtschaft für unsere politische Unabhängigkeit und Versorgungssicherheit wieder richtig einzuordnen und die Bereitschaft zu fördern, die notwendigen «Risikoprämien» für eine Struktur­politik zur Förderung der Ernährungssicherheit in unserem Land breit abzustützen.
Noch haben wir die Zeit dazu.
Ein Lichtblick ist die breite Ablehnung des Gegenvorschlages vom Bundesrat zur Initiative «Ernährungssicherheit» des Schweizer Bauernverbandes. Um 180 Grad drehte der Bundesrat das Anliegen der Initianten. Statt den Schweizer Bauernfamilien eine Perspektive zu geben und die Versorgung der Schweizer Bevölkerung mit einheimischen Lebensmitteln sowie das für die Agrarproduktion unerlässliche Kulturland zu schützen, propagiert der Bundesrat den Zugang zum Agrarfreihandel. Eine derartige Umdeutung einer eidgenössischen Volksinitiative wurde aber von den Teilnehmern an der Vernehmlassung zum Gegenvorschlag des Bundesrates nicht goutiert.
Eine erste Chance, die einheimische Landwirtschaft zu stärken, eröffnet sich nun dem Stimmbürger mit der eidgenössischen Abstimmung über die Ernährungssicherheits-Initiative. Nutzen wir die Gelegenheit, die Agrarpolitik in unserem Land in eine zukunftstaugliche und versorgungspolitisch verlässliche Richtung zu lenken.    •

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