Den Kindern den Weg ins Leben zeigen

Den Kindern den Weg ins Leben zeigen

Anleiten und erziehen sind die Aufgaben der Erwachsenen

Interview mit Dr. med. Michael Winterhoff, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut

Zeit-Fragen: Herr Doktor Winterhoff, Sie haben verschiedene Bücher geschrieben, das letzte trägt den Titel «SOS-Kinderseele». Was ist so alarmierend bei der Entwicklung unserer heutigen Kinder?

Dr. Michael Winterhoff: Schauen Sie einmal, wir haben in Deutschland heute schon nahezu 60 % nicht arbeitsfähige Schulabgänger. Das will niemand hören, und niemand will darüber reden. Die einzige, die darüber redet, ist die Industrie, und die wird nicht gehört. Man speist sie ab mit Aufforderungen: «Ihr müsst euch auf die heutige Jugend einstellen!» In Wirklichkeit ist es so: Den Schulabgängern fehlt die Arbeitshaltung, der Sinn für Pünktlichkeit, das Erkennen von Strukturen und Abläufen, die können nicht priorisieren; wenn das Handy geht, ist das wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht. Und über all das, was sie mal gelernt haben, können sie nicht verfügen.

Das heisst, wie die Kinder heute aufs Leben vorbereitet werden, wird unsere Wirtschaft und unsere Demokratie einmal noch vor grosse, unlösbare Probleme stellen?

Ja, das wird unsere Gesellschaft gegen die Wand fahren. Das sind unvorstellbare Zustände als Massenphänomen. Und man will es politisch nicht sehen. In Deutschland ist Bildungspolitik Ideologie. Die Ideologen, das sind Spät-68er oder in der 68er Zeit hängengebliebene Theoretiker, die jetzt am Werk sind. Sie wollen ideologisch durchsetzen, dass alles offen und frei ist. Das bedeutet, weg von Beziehung, weg von personenzentriertem Arbeiten. Die Quittung ist die, dass die Kinder und Jugendlichen sich sozial und emotional nicht entwickeln können.

In der Schweiz sind diese Phänomene genauso. Wir haben viele Schulabgänger, die keine Lehrstelle finden. Nicht, weil es zu wenig Lehrstellen hat, sondern weil sie die nötigen Voraussetzungen nicht mitbringen. Das eine sind die stofflichen Grundlagen, und das andere ist die Arbeitshaltung. Und wir haben ein sehr gutes duales Berufsbildungssystem, das auf diese Weise ruiniert wird. Sie sprechen von 60 % nicht arbeitsfähigen Schulabgängern in Deutschland; bei uns hat vor einigen Monaten die Zürcher Bildungsdirektorin von 20 % gesprochen.

Zurzeit spricht man in Deutschland auch von 20 %. Aber Sie müssen wissen, dass es keine genauen Zahlen gibt. Viele dieser Jugendlichen sind in Massnahmen, zum Beispiel dem Berufsgrundschuljahr oder dem Berufsvorbereitungsjahr, und werden dann nicht mitgezählt, obwohl sie nicht im regulären Arbeitsprozess sind und arbeitslos wären. Diese Massnahmen sind sehr teuer. Ich habe Patienten in der Praxis, die bekommen 400 Euro, wenn sie eine bestimmte Anzahl Stunden in der Woche in einer Berufsbildungsmassnahme sind. Trotzdem rühmen sich die Politiker, die geringste Arbeitslosigkeit im Jugendalter in Europa zu haben. Man betrügt die Kinder, und man betrügt das Land. Und die Leute, die das heute verursachen, wird man nie zur Rechenschaft ziehen können.

Wo sehen Sie die hauptsächlichen Ursachen?

Die Ursachen liegen zum einen in einer Gesellschaft, die wir nicht verkraften. Den Erwachsenen fehlt die Ruhe und deshalb die Intuition, die Kinder für ihre Entwicklung brauchen. Das wird Thema meines nächsten Buches sein.
Unsere Gesellschaft ist immer schwieriger geworden und gibt wenig Orientierung. Es fehlen immer mehr Strukturen. Wir leben in einer unsicheren Zeit, denken Sie nur an Krankenkassen oder Rentenversicherungen. Unserer Gesellschaft fehlt es zunehmend an einer positiv in die Zukunft weisenden Perspektive. Wir Menschen brauchen das aber im Leben, sonst fehlen uns auch Anteile wie Glücklichsein, Zufriedensein, Sich-auf-etwas-freuen-Können. Das heisst: Die Erwachsenen in unserer Gesellschaft werden immer defizitärer, und das Kind bietet sich an zu unbewusster, ungewollter Kompensation, und daraus entstehen Beziehungsverschiebungen.

Wie meinen Sie das?

Nur noch wenige Menschen sehen die Kinder als Kinder und geben den Kindern das, was sie brauchen, nämlich Zeit, viel Ruhe, Anleitung und viel Begleitung. Kinder werden immer mehr als Partner gesehen, und das bedeutet, dass man die Vorstellung hat, Kinder über Reden und Begreiflichmachen erziehen zu können. Kinder müssen aber vieles erst einüben. Sie müssen auch vor Themen geschützt werden. Das sind alles Dinge, die Mitte der 90er Jahre noch selbstverständlich waren. Viele Erwachsene sind stolz darauf, Kinder als Partner zu sehen, und heben sie in die Erwachsenenposition. Deshalb sind ja die Kinder bei uns heute auch selbstverantwortlich im Unterricht, zum Beispiel im «Lernthekenunterricht», bei dem das Kind aussuchen kann, was es machen will und selbst die Verantwortung übernehmen muss. Wenn es dann überspielt, dass es nichts lernt, ist es selbst schuld.

Sie sehen das als gesellschaftlichen Trend, der sich auch in der Bildungspolitik niederschlägt?

Ja, denn immer mehr gibt es die Vorstellung, dass die Kinder vieles von alleine lernen und ein Lehrer nur noch als Lernbegleiter gesehen wird.

Das ist aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung …

Dazu kommt die grosse Gruppe derer, die von den Kindern partout geliebt werden möchten. Das ist zum Beispiel die Gross­elterngeneration. Früher hätte eine Oma das Lieblingsessen für den Enkel gekocht und ihn verwöhnt. Aber sie hätte ihn klar gefordert: «Du wäschst dir die Hände, du bleibst am Tisch sitzen.» Eine Oma, die geliebt werden will, kann das dem Enkel nicht mehr abverlangen, weil sie Angst hat, dass er nicht mehr kommt. Das ist eine sogenannte Projektion. Das heisst, das Kind wird unbewusst missbraucht für das, was einem fehlt. Dadurch kommt es zu einer Machtumkehr, der Erwachsene wird bedürftig, rutscht in die Kinderposition und das Kind in die Position von Ersatzeltern.

Seit wann beobachten Sie diese Entwicklung?

Das ist eine Störung, die mir anfangs 2000 begegnet ist. Ich habe lange gebraucht, um die Zusammenhänge zu verstehen: Heute ist das Kind bei vielen Eltern ein Teil ihrer selbst geworden. Sie fühlen sich wie ihr Kind, denken für ihr Kind und gehen für ihr Kind in die Schule. Sie stellen überhaupt kein Gegenüber mehr dar und lassen sich von ihren Kindern 24 Stunden steuern und bestimmen. Sie realisieren das selbst gar nicht, weil dieser Vorgang unbewusst abläuft. Sie verhindern damit aber die Entwicklung der Kinder. Diese bleiben in ihrer Entwicklung bei 10 bis 16 Monaten stehen und leben in der Vorstellung, alles und jeden steuern und bestimmen zu können. Sie drehen sich rein lustorientiert nur um sich selbst und meiden Anforderungen. Sie sind damit natürlich auch nicht beziehungsfähig. Auf Grund dieses Entwicklungsrückstandes haben sie trotz Erziehung kein Unrechtsbewusstsein. Sie können in Konflikten keine Zusammenhänge erkennen und deshalb auch nicht aus Konflikten lernen. Es fehlt ihnen an Empathie. Sie erkennen keine Strukturen und Abläufe, zum Beispiel, dass man sich im Unterricht anders verhält als in der Pause.

Das heisst, es fehlt ihnen an altersgemässer Reife?

Ja, man muss sagen: Wir haben immer mehr Kinder und Jugendliche, die zwar bestens ausgestattet sind mit Intelligenz, aber mit dem Weltbild eines Kleinkindes leben. Es ist, als hätten Sie einen sehr guten Computer mit Windows 95 und wundern sich, weshalb die Programme nicht funktionieren. Da können Sie herumprobieren, so lange Sie wollen, es nützt nichts. Mit solchen Kindern können Sie Konzentrationstraining oder Selbstbehauptungstraining oder was es alles gibt machen – das Betriebssystem stimmt nicht.

Sie haben viel Erfahrung im Umgang mit solchen Kindern. Was ist zu tun?

Solche Kinder könnte man innerhalb von ein bis eineinhalb Jahren retten. Das wäre überhaupt kein Problem mit dem tiefenpsychologisch-analytischen Wissen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich die Bücher schreibe. Der Grundsatz ist der, dass das Entwicklungsalter nach sich zieht, wie ich die Welt sehe und wie ich mich verhalte. Ein 5jähriger würde jeden Auftrag seiner Mutter ausführen, sogar sehr gerne, und wenn sie ihn lobt, dann strahlt er. Ein Grundschüler würde deshalb ein Papier aufheben, wenn die Lehrerin ihn dazu auffordert; nicht aus Gehorsam, sondern aus Erkennen, dass sie ihm etwas zu sagen hat. Bis Mitte der 90er Jahre haben sich die Kinder in Deutschland auch so entwickelt. Sie waren mit drei Jahren kindergartenreif, mit sechs Jahren schulreif, mit 16 Jahren ausbildungsreif. Das ist heute nicht mehr der Fall, weil sie auf früheren Stufen stehenbleiben.

Was hat sich geändert?

Mitte der 90er ruhte der Erwachsene noch in sich und konnte damit über Intuition verfügen. Die Kinder wurden noch als Kinder gesehen. Deshalb wurden sie auch in Kindergärten selbstverständlich in weiten Teilen angeleitet. Das Kind hatte die gleiche Gruppe, die gleiche Bezugsperson, die gleiche Reaktion, die gleichen Abläufe. Heute haben wir offene und freie Kindergärten. Die Kinder können sich aussuchen, was sie machen wollen. Das stellt aus meiner fachlichen Sicht eine emotionale Verwahrlosung dar.
Das ist aber Realität heute. Und wenn Sie 1995 gesagt hätten: «Ein Lehrer ist nur noch ein Lernbegleiter, und die Kinder sollen sich an der Lerntheke bedienen und möglichst viel sich selbst beibringen», man hätte Sie für verrückt erklärt. Genauso, wenn man damals die Schreibschrift abgeschafft hätte – das haben die Grundschullehrer jetzt getan –, wäre man dem mit Entsetzen begegnet. Das war in unserer Gesellschaft nicht einmal eine Diskussion wert.

Und das hat Auswirkungen auf das Leben der Kinder …

Wir müssen uns klar werden, dass wir damit unseren Kindern keine Chance geben, sich auf den Stand eines Erwachsenen zu entwickeln. Sie bleiben ihr ganzes Leben abhängig und bedürftig und sind nicht lebenstüchtig. Wir haben einen grossen Reichtum als Erwachsene, allein in der Bandbreite der Gefühle. Wir sind in der Lage, uns einzustellen auf andere. Wir sind in der Lage auszuhalten, abzuwarten. Allein, wenn Sie den Punkt nehmen, dass ich auf etwas hin spare. Dann habe ich es irgendwann geschafft und kann mir etwas leisten. Das ist ein tolles Gefühl. Und stellen Sie sich vor, wie das Gefühl ist, wenn ein Kind sich etwas erarbeitet und es zum Beispiel schafft, den Buchstaben richtig hinzumalen oder ein gutes Diktat zu schreiben. Diese bereichernden Gefühle enthalten wir den Kindern vor, wenn wir sie nur noch auf Sättigung, nur noch auf Ruhigstellung bringen und ihnen alles immer möglichst schnell geben. Handy, Tablet, alles, damit sie Ruhe geben, ruhig bleiben.

Wie beobachten Sie die Entwicklung in der Schule?

Wenn Sie allein die modernen Unterrichtsformen nehmen, die würden nicht einmal im Erwachsenenalter funktionieren. Nehmen wir an, Sie wollen Tennis lernen; wir machen es in «moderner Form»: Da gibt es eine Lernstation «Vorhand», eine Station «Rückhand», da die «Bewegung», und dann haben wir noch ein «Bistro», falls Sie eine kleine Pause machen wollen. Da gab es ja Anfang der 90er einen Schweizer, Jürg Reichen, der durch die Lande gezogen ist und gesagt hat, Kinder sollen so schreiben, wie sie es sich vorstellen, dass man etwas schreiben müss­te. Übertragen auf das Beispiel vom Tennis machen wir das jetzt so: Zwei Jahre schlagen Sie den Ball übers Netz, so wie Sie es sich vorstellen, damit Sie die Tennisfreude behalten. Dann fangen wir an mit dem Training. Es ist doch einleuchtend, dass man so kein guter Tennisspieler wird, ausser Sie sind ein Genie. Aber so geht man heute mit den Kindern um. Dabei geht es nicht nur um die Diskussion von Lernmethoden! Sondern die emotionale und soziale Psyche ist das Wichtigste, was wir Menschen brauchen. Sie umfasst alle zwischenmenschlichen Leistungen. Sie kann sich aber nur bilden am Gegenüber. Wenn nun auch in Kindergärten und Schulen kein Gegenüber mehr vorhanden ist, haben die Kinder überhaupt keine Chance mehr. Wir werden eine Gesellschaft haben von Autisten und Narzissten, die sich nur um sich drehen und lustorientiert in den Tag hineinleben.

Alles auf Grund falscher Theorien …

Es ist es schwer zu ertragen, wie eine ganze Generation von Erwachsenen in die falsche Richtung geht. Dann noch davon überzeugt ist, dass alles richtig ist, und auch gar keine Diskussion zulässt, sondern einfach mit primitiver Machtausübung etwas durchsetzt, das am Kind vorbeigeht. Das ist schwer zu ertragen. Für mich sind wir auf dem besten Wege, ein Entwicklungsland zu werden, in dem das Wissen und das Gefühl für Kinder und was Kinder brauchen, völlig verlorengegangen ist. Wir werden dann einmal in einer Form aufklären müssen, die unvorstellbar ist, weil der Erwachsene zum Analphabeten wird, wie man mit Kindern umgeht. Aber es wird kommen, da bin ich zuversichtlich. Sonst würde ich das nicht machen. Ich kann keine Gesellschaft verändern. Ich mache meinen Teil als Arzt. Ich zeige auf, ich kläre auf, ich gebe auch keine Ruhe.

In solchen Zusammenhängen wird oft der Vorwurf der Schuldzuweisung gemacht …

Um das geht es nicht. Ich bin einfach derjenige, der das aufzeigt. Ich werte ja nicht, ich analysiere. Ich hätte nie gedacht, dass ich aus einer Analyse, einer Familienanalyse auf eine Gesellschaftsanalyse komme. Aber die Gesellschaft ist auf dem besten Weg, sich abzubauen, weil der Nachwuchs nicht mehr lebenstüchtig ist. Es geht mir nicht darum, hier ein düsteres Bild zu malen, denn wir hätten heute noch die Chance, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Wir haben die Möglichkeit, die Kinder binnen eineinhalb Jahren auf den Stand ihres Alters zu bringen.

Was muss geschehen?

Die Bildungspolitik darf nicht mehr Ideologie sein. Hier müssen Fachleute gefragt werden. Es müssen vor allem Lehrer miteinbezogen werden, die jeden Tag die Kinder erlebt haben. Ich würde mir alle möglichen Fachgruppen wünschen.
Des weiteren wäre es wünschenswert, dass die pädagogischen Methoden erst einmal daraufhin untersucht werden, ob sie zu einer Verbesserung führen – im Rahmen einer Doppelblindstudie, mit Hunderten von Kindern, die mit, und Hunderten von Kindern, die ohne diese Methode unterrichtet werden. Dies ist nicht der Fall. Nehmen wir nochmals das Beispiel der Leselernmethode von Jürg Reichen. Da erfindet einer im pädagogischen Bereich etwas. Zufälligerweise hat man nach 20 Jahren untersucht, ob diese Methode sich bewährt. Die Ergebnisse waren niederschmetternd: Man hatte eine ganze Generation zu Legasthenikern erzogen. Hier werden wahnsinnige Fehler gemacht, weil man gar nicht auf die Idee kommt, das zu untersuchen.
Und weiter würde ich mir wünschen, dass die Lehrer aufhören, sich diesen Maulkorb aufsetzen zu lassen. Lehrer sollten sich verbinden und sich über ihre Lehrerverbände einsetzen, dass inhaltlich etwas passiert. Die Lehrer müssen aufhören, unmündig zu sein. Wir können alle etwas machen. Das heisst, ich kann nach wie vor personenzentriert unterrichten. Ich kann mich auch entscheiden, darüber hinaus Verbündete zu suchen. Das Ganze wird sich nur ändern, wenn wir Verbündete haben, ich bin da eigentlich hoffnungsvoll.

Auch auf politischer Ebene?

Ich habe ein Treffen gehabt mit den bildungspolitischen Sprechern der CDU in Deutschland, die jetzt merken, dass immer mehr Jugendliche nicht ins Leben gehen. Sie beginnen, sich jetzt stark zu machen für einen Wechsel zu Bildung über Bindung, also dass wieder die Beziehung zum Lehrer im Vordergrund stehen wird. Das wird kommen, aber vermutlich muss der Schaden leider noch grösser werden. Verbünden Sie sich bitte gegen alle diese Vorstellungen «offen und frei». Schule geht nur personenzentriert und niemals anders.

Wo wäre der Ansatzpunkt für eine Veränderung bei den Eltern?

Eltern in der Symbiose merken meist nicht, dass sie bei ihren Kindern eine falsche Entwicklung unterstützen. Das ist das grosse Problem. Sie leben in einer Symbiose mit dem Kind, es ist ein Teil ihrer selbst geworden. Es gehört zu ihnen wie ihr Arm. Solange der Arm nicht schmerzt, nehmen sie nichts wahr. 90 % der Eltern kommen zu mir, weil die Schule sie schickt. Und dann frage ich sie: «Wundert es Sie, dass Ihr Kind im Unterricht nicht mitmacht oder den Unterricht stört?» Dann sagen die: «Ja, denn ich habe mit meinem Kind kein Problem.» Diese Eltern wissen nicht, was in der Schule nicht klappt. Sie tun ja alles für ihre Kinder und sehen ja nicht, dass sie in einem falschen System sind. Wenn ich sage: «Ihr Kind hört nicht!», dann entgegnen sie: «Doch!», und wenn ich dann nachdopple: «Aber nicht beim ersten Mal? Wenn Sie sagen: ‹Deck den Tisch!›, dann kommt: ‹Warum immer ich!›» Dann antworten die Eltern: «Das stimmt, aber deshalb komme ich nicht zu Ihnen!» Erst wenn ich dann sage: «Na ja, wenn er auf Sie nicht beim ersten Mal hört, dann hört er auch nicht auf seine Lehrerin.» Dann kommen wir langsam ins Gespräch. Da liegt das Problem. Die Eltern realisieren gar nicht, dass das Kind ein Teil ihrer selbst geworden ist. Deshalb sind sie gar nicht in der Lage, die Problematik einzustufen, und können auch nicht sehen, dass sie Verursacher der Störung sind.

Und dieses System gilt es zu durchbrechen?

Ja. Ich sage dem «Armsystem». Wenn ich am Arm Schmerzen habe, dann kommt sofort die Frage auf: «Woran liegt es?» Ich gehe dann zum Kollegen und habe bereits eine Vorstellung: «Wahrscheinlich liegt es am Tennisspielen! Was kann ich tun, damit der Arm in Ordnung kommt?» Das ist bei den Eltern, die in einer Symbiose mit dem Kind leben, anders. Sie suchen bestenfalls eine Diagnose, eine Therapie, eine Anleitung, und dazu gibt es ja eine ganze Menge. Die Kinder haben dann alle ein ADHS, ein ADS, eine Dyskalkulie, eine Legasthenie, eine Hochbegabung. Sie kriegen Ritalin oder sonst eine Therapie. Aber das kann das Problem der entwicklungsgestörten Kinder nicht lösen, weil das Problem ganz anders gelagert ist. Das heisst, bei uns werden die Kinder zunehmend pathologisiert. Das müss­te sich ändern.

Wir machen diese Erfahrung auch. Viele Kinder haben Diagnosen: ADHS, Asperger-Syndrom oder was es alles gibt. Aktuell geht es oft um Autismus-Spektrum-Störungen, das ist eher neu.

Wenn Sie zu zehn Leuten gehen, bekommen Sie zehn verschiedene Antworten. Zur Beurteilung der Psyche gibt es keine Verfahren. Das ist das grosse Problem. Es ist die Frage, welches Modell derjenige vertritt, von dem Sie sich beraten lassen. Und man muss ja sehen, ADHS ist ja keine Erkrankung. Es ist ein Modell und wird als Erkrankung gehandelt. Den Kindern ist überhaupt nicht geholfen mit diesen schwerwiegenden Diagnosen, allenfalls sind die Eltern vielleicht beruhigt. Aber die Hilfestellung für die Entwicklung der emotionalen und sozialen Psyche bleibt aus. Die ganze Gesellschaft wird überrollt mit diesen Kindern, die Störungsbilder aufweisen. Würde ich die Kinder so kategorisieren, wie ich das gelernt habe, dann würde ich auch zu – in meinen Augen – falschen Ergebnissen kommen. Wenn man da aber eine Beweglichkeit hat, dann kommt man dahinter, dass es Entwicklungsstörungen sind. Deshalb habe ich ja überhaupt Bücher geschrieben. Ich sehe das als eine ärztliche Aufgabe, auch wenn es manchmal sehr anstrengend ist. Das mache ich, weil es weitergehen muss, weil aufgeklärt werden muss.

Was müsste die Schule tun?

Wenn ich ein Kind habe, das den Unterricht stört, dann hat das Kind ein Anrecht darauf, dass der Lehrer aufzeigt, dass das ein Fehlverhalten ist. Aber heute stellen die Lehrer dann selbst Diagnosen. Wir haben immer mehr Lehrer, die Kinder zum Therapeuten schicken und sagen: «Der hat ein ADHS!» und nicht sehen, das sie selber die Position, die sie einnehmen müssten, nicht einnehmen und ihre Aufgabe nicht ausfüllen. Lehrer sein heisst, Verantwortung fürs Kind zu übernehmen und nicht ans Kind delegieren. Dass ich auch ganz klar sage, das ist richtig, das ist falsch, das schreibst du neu, da machst du mehr. Wir machen uns dabei vielleicht unbeliebt. Aber bitte, wir wollen die Kinder ins Erwachsenenalter bringen. Ich muss auch schlechte Noten geben, wenn es berechtigt ist.

Wie könnte man den Kindern mit Entwicklungsstörungen helfen?

Es wäre wichtig, ein Schulvorbereitungsjahr einzuführen, in dem es nicht um das Erlernen von Kulturtechniken geht, sondern darum, auf den Reifegrad der Schule zu kommen. Das wäre in ein bis eineinhalb Jahren möglich. Es braucht kleinere Gruppen von 8–12 Kindern, mit denen personenzentriert gearbeitet wird. Damit sich die Psyche eines Kindes bildet, muss ich es anleiten und begleiten. Erwachsene, die von Kindern geliebt werden wollen oder Kinder als Partner sehen, stufen das als autoritär oder reaktionär oder bevormundend ein. Aber es ist der entscheidende Faktor, damit sich ein Kind entwickeln kann. Die Entwicklung geht eben nicht von alleine. Das müssen wir sehen. Daraus ergibt sich eine neue Aufgabe für Erzieher und Lehrer.

Das heisst, wir stehen vor einer umfassenden gesamtgesellschaftlichen Aufgabe?

Wir sind in einer Gesellschaft, die im Wahn ist; in einer Gesellschaft, die nur noch im Moment denkend, die nur noch symptom­orientiert ist. Symptome müssen weg. Es denkt keiner daran, was in fünf Jahren, in zehn Jahren, in 20 Jahren ist. Bei Kindern muss man in Zeiträumen von 20 Jahren denken. Und wenn man das nicht macht, dann haben wir zwar jetzt von mir aus eine Pseudoruhe. Aber diese Kinder werden nicht lebenstüchtig. Allerdings ist das weder durch Strenge zu lösen noch über Therapie. Es ist letztendlich eine grausame Zeit für Kinder; eine Zeit, in der es so aussieht, als würden wir alles für Kinder tun. Aber eigentlich, das Wichtigste, was wir tun müssen für Kinder, tun wir nicht: eine emotionale Bindung und Beziehung aufbauen und Entwicklung möglich machen.

Wir sind ausgegangen von der grossen Anzahl von Jugendlichen, die nicht arbeitsfähig sind, das sind dann die gross gewordenen Kinder!

Ja. Es gibt viele Betriebe, da wird man Ihnen sagen, bei uns sterben ganz viele Berufe aus. Im handwerklichen Bereich werden Sie – ein Freund von mir ist Elektriker – auf einer Baustelle kaum noch einen deutschstämmigen und deutschsprechenden Mitarbeiter finden unter dreissig. Ausbildungen in dem Bereich werden kaum noch angetreten, und wenn Sie mit der IHK sprechen in Deutschland, wird jede zweite Lehre abgebrochen. Wir haben hohe Abbrecherquoten im Studienbereich, über 30 %. Und wir haben eine hohe Zahl von Erwachsenen, die zwar ausgebildet, aber nicht im Betrieb zu halten sind.

Was passiert dann mit denen? Werden sie zu einer Aufgabe fürs Sozialwesen?

Das Problem ist ja, das Sozialwesen tritt erst dann in Erscheinung, wenn die Eltern nichts mehr haben. Das heisst, die Eltern müssen ihr Kind in Deutschland mindestens bis 26 finanzieren, ob das Kind arbeitet oder nicht. Und da die Eltern das nicht überblicken, gehen sie davon aus, dass ihr Kind ein ADHS hat oder sonst etwas und nichts dafür kann.

Für die nächsten paar Jahre, aber danach …

Soweit denken heute ja wenige.

Aber irgendwann ist das Kind ja 26!

Ja, aber 2008 habe ich das erste Buch geschrieben. Da hatten wir in Japan schon zwei Millionen Zwanzig- bis Dreissigjährige, die leben nur auf dem Zimmer, 24 Stunden Internetanschluss, gefüllter Kühlschrank. Dann haben ihre Eltern Ruhe. Sobald sie aber gefordert werden, flippen sie aus. Sobald der Kühlschrank leer oder wenn der Computer kaputt ist, flippen die aus. Man bezeichnet sie als Hikikomores. Das Zukunftsmodell deutscher Familien wird sein, dass die Kinder als Erwachsene wie Kinder den Eltern auf dem Schoss sitzen bleiben. Das heisst, wir werden immer mehr Menschen haben, die auf Hilfe angewiesen sind und nicht arbeiten können. Also, es geht nicht darum, dass sie nicht arbeiten wollen.

Wir haben diese Jugendlichen heute in der Berufsschule, die oft nicht mehr einsehen, dass man etwas tun sollte, um eine Abschluss­prüfung zu bestehen!

Sie können die alle in eineinhalb Jahren auf den Stand ihres Alters bringen! Wenn Sie mit denen personenzentriert arbeiten und sehen, dass hinter der Mauligkeit und ihren Äusserungen Kleinkinder stehen. Das ist meine Aufgabe bei der Industrie. Ich werde eingeladen auf Bundesveranstaltungen der Industrie, auch in Österreich. Ich werde dann gefragt, was man mit diesen Auszubildenden machen könnte. Wenn man um diesen Hintergrund weiss und letztendlich sieht, dass hinter dem Verhalten des Jugendlichen ein Kleinkind steht, gibt es einen Weg. Ich gehe gar nicht darauf ein, sondern gehe in eine Position, sie selbstverständlich zu begleiten und in vielen Abläufen anzuleiten. Wenn man mit den Heranwachsenden drei Monate sehr personenzentriert arbeitet, sehr viel anleitet, dann werden sie in ihrer Psyche wachsen. Je weiter sie in ihrer Entwicklung sind, desto anders nehmen sie wahr, desto anders werden sie sich äussern und verhalten. Das ist der Weg, der geht. Da ist gerade ein Handwerksberuf prädestiniert. Es geht nicht um den Aspekt, ihnen etwas beibringen zu wollen, sondern um den Aspekt der Anleitung, damit die Psyche sich bildet. Das wäre sehr hoffnungsvoll. Ich kann auch 17jährige retten. – Ich habe aber auch 17jährige, die ich im häuslichen Umfeld nicht mehr retten kann, weil sie sich gar nicht auf die Familie einlassen. Wenn die Eltern das Glück haben, 40 000 Euro zu besitzen, schicke ich die nach England ins Internat. Dort ist es so, dass sie eine Sprachbarriere haben. Das heisst, das Kind würde ja, wenn ich sage: «Decke den Tisch», antworten: «Warum schon wieder ich?» Das ist ja keine Verweigerung, sondern der überprüft nur das Weltbild: Du bist ein Tisch, ein Stuhl, ein Automat, du bist zu bewegen. Hier habe ich eine Sprachbarriere. Also wenn der Engländer sagt: «Deck den Tisch!», und bevor übersetzt wird: «Warum schon wieder ich?», ist der schon lange weiter. Ich habe dort in den Privatschulen sehr personenzentriert arbeitende Lehrer, die mit den Schülern eine Bindung aufbauen. Wer im Unterricht nicht mitmacht, arbeitet in der Pause. Die gehen mit ihnen nachmittags zum Hockeyspielen und sagen: «So, wie du Hockey spielst, bist du morgen in meinem Unterricht.» Sie arbeiten sehr viel über Anleiten und haben ritualisierte Abläufe. Jede Stunde ist klar. Tatsache ist, die sind schon nach drei Monaten verändert; nach sechs Monaten sind sie aus der Störung heraus, weil es so intensiv läuft. Würde ein Zwanzigjähriger an einem Projekt teilnehmen, ein Auslandjahr, ein ökologisches Jahr, ein freiwilliges soziales Jahr durchlaufen, dann würde der innerhalb des Jahres auch auf den Stand seines Alters kommen. Sie werden ihn danach nicht wiedererkennen. Also, es ist alles möglich! Das ist weder durch Strenge zu lösen, noch über Therapie. Das ist nur zu lösen über das personenzentrierte Arbeiten, wie man das auch mit kleinen Kindern macht.

In der Schweiz haben wir auch Möglichkeiten, auf demokratischem Weg gegen solche Entwicklungen vorzugehen. Zum Beispiel beim Lehrplan 21 ist es so, dass in verschiedenen Kantonen Initiativen lanciert werden, um endlich eine Diskussion zu lancieren und zu verhindern, dass dieser Lehrplan eingeführt wird. Da gibt es auch Eltern, die sich engagieren. Es ist von verschiedenen Seiten etwas da, dass man versucht, dieser Entwicklung ein Gegengewicht zu geben.

Deshalb habe ich mich auch gefreut, dass ich jetzt auch in die Schweiz eingeladen wurde.
Aber wenn Sie in der Schweiz die Möglichkeit haben, über Initiativen zu arbeiten, dann tun Sie es. Das Wissen stelle ich Ihnen gerne zur Verfügung. Sie haben mit dem, was ich veröffentlicht habe, beste Argumentationsschienen. Vor allem das Buch «SOS-Kinderseele» zeigt eindeutig, dass die Vorstellungen, die vorherrschen, nicht gut gehen können. Ich würde auch allen, die eine solche Entwicklung befürworten, empfehlen, einen Ausflug in das Bundesland Nordrhein-Westfalen zu machen und da Schulen zu besuchen. Sie werden sehen, in welchem Desaster Sie landen werden. Wir haben im Grundschulbereich mittlerweile 80 % entwicklungsgestörte Kinder. Das sind Angaben von Lehrern. Das ist nicht nur in Nordrhein-Westfalen so. Im städtischen Bereich in Österreich (Wien) sprechen die Lehrer von 70 % und im ländlichen Bereich haben wir 50–60 %. In Zürich werden Sie auch bei 70 % liegen. Diese Kinder erkennen Sie daran, dass Sie Aufträge immer doppelt und dreifach geben müssen. Ein grundschulreifes Kind würde erkennen: «Ich bin im Unterricht. Wenn die Lehrerin sagt, hol das Deutschbuch raus, hole ich das selbstverständlich heraus.» Das ist kein Gehorsam, sondern ein Erkennen. Eine Gruppe wirkt dann so, als wären Sie nicht anwesend. Sie sagen: «Sascha, Timmy, du auch, hol das Deutschbuch hervor!» Die andere Gruppe läuft herum und diskutiert; wenn Sie fünf Mal gesagt haben: «Holt das Deutschbuch heraus!», holen sie es raus. Alle diese Kinder sind nicht krank, alle diese Kinder sind nicht entwickelt. Wenn wir diese Gruppe nicht sehen und erkennen, dass für diese Gruppe diese modernen Konzepte völlig konträr sind zu dem, was diese Kinder brauchen, dann wird die Gruppe der betroffenen, nicht lebenstüchtigen Menschen immer grösser werden.
Aber gehen Sie nach Deutschland, es ist völlig überzeugend: Wenn Sie dort in den städtischen Bereichen die Schulen und Kindergärten angucken und mit Lehrern und Auszubildenden sprechen und wenn Sie diese Interviews veröffentlichen, dann müsste auch eine Schweiz wach werden und sagen: Da wollen wir nicht hin!

Wir danken Ihnen für Ihr grosses Engagement, für Ihre Bücher und für das interessante Gespräch!    •

(Interview Eliane Gautschi und Erika Vögeli)

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