Schwächt der Lehrplan 21 die zukünftigen Lehrlinge?

Schwächt der Lehrplan 21 die zukünftigen Lehrlinge?

wl. «Schüler sind zu dumm für die Lehre.» Mit diesen drastischen Worten titelt der «Blick» am 9. Februar 2015 und beschreibt, dass kaufmännische wie technische Lehrstellenbewerber mehrheitlich gravierende schulische Mängel aufweisen. Lesen, Schreiben, Rechnen und eine gute Arbeitshaltung sind zentrale Fähigkeiten, die Lehrlinge aus der Volksschule mitbringen sollten, um in den Lehrbetrieben und der Berufsschule ihren neuen Herausforderungen genügen zu können. Seit Jahren mehren sich aber die Stimmen, dass dieser Grundstock bei vielen Lehrlingen lückenhaft ist.
Viele Lehrmeister erlauben ihren Lehrlingen deshalb, während der Arbeitszeit schulische Lücken zu füllen. Zudem werden in Berufsschulen diverse Förderkurse für Lehrlinge angeboten, in denen Volksschulstoff vermittelt wird – und dies zum Teil ebenfalls in jener Zeit, in der sie in ihren Betrieben arbeiten sollten. Alle an der beruflichen Bildung Beteiligten wenden viel Zeit und Geld auf, damit die Lehrlinge ihre Prüfungen bestehen. Trotz des hohen Aufwands gibt es sehr hohe Durchfallquoten, zum Beispiel sind beim Elektroinstallateur 25 bis 30 Prozent leider normal.
Aktuell ist der Auftrag der Volksschule durch die umstrittene Einführung des Lehrplans 21 in Diskussion. Das Versprechen lautet, dass diese Schulreform vieles verbessern soll. Mit dem trügerischen Begriff der «Kompetenzen» wird behauptet, die Schüler würden vermeintlich kompetenter. Ob dies so ist, soll in diesem Artikel am Beispiel des Mathematikunterrichts hinterfragt werden. Wie sich dieser in den letzten Jahrzehnten verändert hat, berichtet die «Berner Zeitung» vom 13. Februar 2015.
Dort erklärt Prof. Caluori von der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz: «Vor dreissig Jahren stand ich vor der Klasse und sagte sinngemäss: ‹So macht man das. Das ist der schnellste und eleganteste Weg zur Lösung.› […] Heute werden die Schüler angeleitet, aktiv entdeckend auch eigene Lösungswege zu erarbeiten.» Im gleichen Artikel meint Prof. Wälti von der Pädagogischen Hochschule Bern, die Gedanken der Schüler sollten stärker in die Mathematikzensuren einfliessen, anstatt nur die Richtigkeit der Lösung zu benoten. Und der Dozent Alfred Zahner von der Pädagogischen Hochschule St. Gallen schlägt beispielsweise vor: «Beobachte während zehn Minuten den Verkehr an der St. Leonardstrasse. Bestimme den prozentualen Anteil der roten Personenwagen in bezug auf alle, die an der Haltestelle vorbeifahren.» Mit anderen Worten: Man läuft dort hin, zählt zehn Minuten lang Autos, rechnet eine (!) Prozentaufgabe und kehrt schliess­lich in die Schule zurück. Hätten Sie es gern etwas effizienter?
Der Mathematikunterricht wurde stark verändert: Heute wird beispielsweise der Zahlenbereich nicht mehr in kleinen Schritten erweitert. Während der Erstklässler bis vor einigen Jahren erst bis sechs, dann bis 10 und schliesslich bis 20 rechnete, soll er heute sofort bis 20 rechnen. Früher hat man den wichtigen Zehnerübergang systematisch eingeführt, nun sollen die Schüler eigene «kreative Wege» über den Zehner finden. In der zweiten Klasse wurde in alten Lehrmitteln das Einmaleins reihenweise eingeführt und geübt, in aktuellen Lehrmitteln tauchen vollständige Reihen gar nicht mehr auf. Woher kommen diese Änderungen?
Seit etwa 20 Jahren steht die von den meisten Dozenten der Pädagogischen Hochschulen gelehrte Pädagogik unter dem wohltönenden Leitbegriff des «Konstruktivismus». Schon zuvor wurde die klassische Lehrerrolle und mit ihr der bewährte Klassenunterricht durch Schlagworte wie «offener Unterricht» und «Individualisierung» stark zurückgedrängt. Der «Konstruktivismus» stellte dann seit den 90er Jahren eine Art Übertheorie für diverse Schulreformen dar: Man ging nun davon aus, dass der Mensch die Realität grundsätzlich nicht erkennen kann, sondern dass er sich in seinem Hirn lediglich ein persönlich geprägtes Bild von ihr zusammenbastelt oder «konstruiert». Objektivität gibt es danach nicht mehr. Nur wenn der Schüler «entdeckt», dass sein bisher konstruiertes Bild nicht für die Lösung seiner Probleme brauchbar ist, findet so etwas wie Lernen statt. Diese Theorien stehen natürlich im Widerspruch zu einem Lehrer, der seine Schüler systematisch und kleinschrittig in ein Fachgebiet einführt. Neu soll er lediglich sogenannte «Lerngelegenheiten» und «Lernumgebungen» schaffen, in denen die Schüler «selbständig» etwas «entdecken» sollen.
Der Lehrplan 21 greift diese Theorie auf. In dessen «Grundlagen» heisst es beispielsweise: «Idealerweise bieten gestaltete Lernumgebungen mannigfaltige durch Lehrpersonen und Lehrmittel unterstützte Lerngelegenheiten, einzelne, meist jedoch verschiedene Facetten einer oder mehrerer Kompetenzen zu erwerben, zu festigen und in Anwendungssituationen zu nutzen.» In Mathematik sollen laut Lehrplan 21 ausdrücklich eigene Wege gesucht, Beziehungen erforscht und Vermutungen formuliert werden – wieder also die Vorstellung, dass Schüler selbständig mathematische Strukturen entdecken, während der Lehrer lediglich zu erforschendes Material herbeischafft. Die meisten Schüler wären jedoch auf die strukturierte Anleitung durch einen Lehrer angewiesen – anstatt mathematischen Verständnisses entsteht bei ihnen dann oft Rechenschwäche und Frust.
Andererseits werden im Lehrplan 21 die «Grundansprüche» im eigentlichen Rechnen derart niedrig festgelegt, dass ein weiterer Bildungsabbau zu befürchten ist – schliess­lich bleibt bei all dem «Erforschen» und «Entdecken» nicht genügend Zeit für den Stoff, der bisher gelernt und geübt wurde. Anders als bisher muss laut Lehrplan 21 am Ende der zweiten Klasse beispielsweise noch kein Schüler das Einmaleins können. Und auch später sollen sie es lediglich kennengelernt haben, aber nicht beherrschen. Anstelle dessen sollen die Schüler aber ab der Mittelstufe schon mit dem Taschenrechner rechnen. Dafür werden schriftliche Multiplikationen und Divisionen dann ganz ausgelassen. Auch Prozent-, Potenz- und Wurzelrechnungen müssen in der Sekundarstufe nicht verstanden werden, sondern nur mit dem Rechner ausgeführt werden können. Schliesslich existieren auf der Sekundarstufe in diesem Bereich nicht einmal «Grundansprüche», die alle Schüler erreichen müssten.
In der Konsultationsantwort des Schweizer Gewerbeverbands zum Lehrplan 21 hiess es deshalb auch: «Die Ansprüche der Berufsbildung an mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten sind vom Umfang her eher bescheiden. Viel wichtiger ist in den meisten Berufen im 1. Lehrjahr, dass die Grundlagen auch wirklich beherrscht werden. Das sind Fertigkeiten, bei denen ein gewisser Drill angebracht ist, auch wenn das Wort in der Pädagogik verpönt ist.»
Bis in die 90er Jahre hatten die Lehrmittel schrittweise in die Strukturen der Mathematik eingeführt und die Lehrer diesen «gewissen Drill» auch aufgebracht. Lehrpläne und Lehrerausbildung schafften das Fundament für einen systematischen Aufbau. Heute wird an den Pädagogischen Hochschulen fast flächendeckend die «konstruktivistische» Didaktik verkündet. Im Lehrmittelbereich gilt dies ebenso: Die systematisch aufgebauten Lehrmittel werden im Altpapier entsorgt, die neuen obligatorischen Lehrmittel folgen der «konstruktivistischen» Didaktik. Sie sind bereits an den Lehrplan 21 angepasst worden, bevor dieser erlassen ist, und zum Beispiel im Thurgau auch schon für obligatorisch erklärt worden.
Das zeigt, dass der Lehrplan 21 Teil einer Agenda ist, in der kritische Auseinandersetzung oder demokratische Mitsprache nicht erwünscht ist. Jahrelang hat man den Lehrplan unter einer eigentlichen Geheimhaltung erarbeitet. Knapp 9 Millionen Franken hat das die Kantone gekostet. Von 2013 bis 2021 sind für die Einführung des neuen Lehrplans allein im Kanton Thurgau 4,7 Millionen Franken geplant. Nicht eingerechnet sind hierbei freilich die Folgekosten für schulische Heilpädagogik und Förderkurse an Berufsschulen für jene Schüler, die die mathematischen Zusammenhänge nicht selbst entdecken, sowie für das geplante eidgenössische Bildungsmonitoring, bei dem die Erreichung all der «Kompetenzen» überprüft werden soll. Das Bildungsmonitoring kostet bis 2019 schweizweit weitere 6,75 Millionen Franken, die Kosten für Förderkurse und Heilpädagogik sind unbekannt.
Es ist höchste Zeit, dass sich das Gewerbe der Schulfrage annimmt. Wenn es so ist, dass die Bildungsbürokratie und die Pädagogischen Hochschulen nicht mehr im Sinne der Gesamtgesellschaft arbeiten, erscheint es für jeden Bürger wie auch für vielbeschäftigte Unternehmer geboten, deutlich zum Ausdruck zu bringen, was man vom Bildungswesen erwartet.    •

Markus Möhl, Präsident der Berufsschule Lenzburg: «Zudem sind immer mehr Jugendliche nicht mehr belastbar. […] Durch individuelle Lernziele und vermehrt selbstgesteuertes Lernen erleben sie kaum, was Scheitern bedeutet. […] Mit der Individualisierung werden grundsätzlich die Interessen des Einzelnen über das Wohl der Gesellschaft gesetzt. Das fördert den Egoismus und schadet letztlich allen.» («Aargauer Zeitung» vom 15.1.2015)

Heinz von Foerster, einer der Begründer des Konstruktivismus: «Man fragt ein Kind: ‹Was ist zwei mal zwei?› Und es sagt: ‹Grün!› Eine solche Antwort ist auf geniale Weise unberechenbar, aber sie […] verletzt unsere Sehnsucht nach Sicherheit und Berechenbarkeit. Dieses Kind ist noch kein berechenbarer Staatsbürger, und vielleicht wird es eines Tages nicht einmal unseren Gesetzen folgen. Die Konsequenz ist, dass wir es in eine Trivialisierungsanstalt schicken, die man offiziell als Schule bezeichnet.»

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