«Was alle angeht, können nur alle lösen»

«So wie die Demokratie die Gewaltenteilung kennt, damit niemandem die Macht in den Kopf steigt, die direkte Demokratie das Referendum und die Initiative, damit die Volksvertreter nicht plötzlich neuen Herren zu dienen beginnen und ihre Wähler vergessen – sollte da nicht auch in der virtuellen Welt die «Open-Source»-Bewegung gestärkt werden?»

«Was alle angeht, können nur alle lösen»

Das Öffentlichkeitsprinzip und Mitsprache auch im Internet einfordern – Marc Elsbergs Roman «Zero» im Gefolge von Dürrenmatts «Die Physiker»

von Thomas Schaffner

Cyberkriegsführung, soziale Netzwerke, Smartphones, Datenbrillen usw. sind Begriffe, die Schlagzeilen machen. Schon seit längerer Zeit. Wir befinden uns mitten in einer revolutionären Umgestaltung unserer Welt durch Elektronik und Informationstechnologie (IT). Historiker sprechen auch vom Übergang von der dritten zur vierten Industriellen Revolution1. Da diejenigen Geschichtsforscher, die einem personalen Ansatz verpflichtet sind – anders als jene, die einem biologistischen oder materialistischen Determinismus und damit einem reduktionistischen Menschenbild huldigen – , aber auch wissen, dass Geschichte immer von Menschen gemacht wird, sind es auch die Menschen, die von ihresgleichen gemachte Erfindungen mit all ihren Folgen begleiten können und müssen. Immer schon haben technische Erfindungen grosse Auswirkungen auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben gehabt. Und wie immer in der Geschichte können von Menschen gemachte Entdeckungen und Erfindungen auf zweierlei Arten genutzt werden: zum Wohle von Individuum und Gemeinschaft, aber auch zur Usurpation von Macht durch einzelne kranke Gemüter. «Dual use» heisst der Sachverhalt auf englisch, «zweifache oder doppelt mögliche Nutzung». Am bekanntesten sicher die Spaltung des Atoms mit ihrer Nutzung für friedliche, wenn auch nicht unbedenkliche Energie einerseits, und für völkerrechtswidrige Waffensysteme andererseits; völkerrechtswidrig, weil Atombomben immer unterschiedslos töten, Angriffswaffen sind und noch Jahre nach einem Krieg wirken.

Die Welt der Beratungs-Apps …

Eine andere, schon längst nicht mehr neue Erfindung stellt die virtuelle Welt des «cyberspace» dar. Als «Arpanet», als Projekt der «Advanced Research Project Agency» (ARPA) des US-Verteidigungsministeriums zur Vernetzung von Universitäten und Forschungseinrichtungen entstanden, entwickelte sich das, was wir heute alle nutzen: eine unendliche Welt der neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Kein Journalist, der heute nicht Suchmaschinen nutzt, kaum ein KMU, welches nicht eine eigene Homepage hat und per E-Mail kommuniziert – und immer mehr Menschen, die ständig ein smartes Gerät auf sich tragen und allzeit online sind. Wer möchte nicht eine schnelle, unkomplizierte Verbindung zu einem für die eigene Befindlichkeit wichtigen Informationsangebot, also einer sogenannten «App», einer «application software», zu deutsch «Anwendungsprogramm», zur Verfügung haben? Zum Beispiel eine Rega-App, wenn ihm selbst oder einem Liebsten etwas passiert? Wer möchte nicht schnell den Online-Fahrplan konsultieren? Wer nicht die verspätete Ankunft mit einem Zweizeiler bekanntmachen? Oder sich verabreden und sich dann auch finden – in den Ferien, auf einem Betriebsausflug, auf einer Schulreise, auf der Suche nach einem Kino. Wieso sich nicht kurz nochmals das Programm anschauen und sich schon schlau machen, wohin man nachher essen gehen könnte?
Und damit erschliesst sich eine neue Welt: die Welt der Beratungs-Apps. Kleine Helferchen, die einem viel Ungemach ersparen. Soll ich den Regenschirm mitnehmen? Die Meteo-App weiss Rat. Soll ich diese Route wählen? Das Navi weist mir den Weg, korrigiert auch, weiss, wo ich gerade bin. Vergessen, was ich vor zwei Wochen am Montag um 18 Uhr gemacht habe? Kein Problem, mein smartes Ding hat alles für mich protokolliert, auf die Minute genau, unter Angabe des Ortes. Ich möchte abnehmen? Kein Problem, die Diät-App hilft. Den richtigen Partner noch nicht gefunden? Auch hier hilft die Elektronik ohne grosse Schnörkel.

… und der «dual use» des «world wide web»

Selber schuld, wer dabei an Big data denkt? An NSA? An FISA, FISC, PRISM, INDECT, also an fortgeschrittene Überwachungstechnologien und Geheimgerichte des Westens?2 Oder an das Kontrollsystem über das Internet in Russland und China?3 An das Kleingedruckte bei Facebook, Google, Twitter und wie sie alle heissen, die elektronischen Gratisdienste? Gratis, weil wir an sie freiwillig all unsere Daten verschenken. Die sie für verschiedene Zwecke nutzen können. Wer hat schon was zu verbergen? Schliesslich ist man eine ehrliche Haut.
Und doch: Manchem wird es etwas mulmig, wenn er hört, wie viele Millionen Computer gehackt und für Attacken genutzt werden. Wie Millionen von Datensätzen in die falschen Hände geraten können. Wie Codewörter des E-Bankings von Kriminellen gehackt wurden. Wie die Internetrecherche vom Anbieter personalisiert wird und dass ein anderer nicht die gleichen Quellen auf dem Bildschirm sieht wie man selber. Wenn man spürt, dass die Werbebalken mit den letzten Recherchen in einem Zusammenhang stehen.
Aber dennoch, trotz all der Bedenken, die einen Durchschnittsnutzer des weltweiten Netzes beschleichen können, ist die Welt nicht transparenter geworden? Allfällige Hierarchien flacher, weltweit mehr Demokratie möglich? Werden Verbrechen so nicht schneller aufgedeckt, Manipulation und Machtmissbrauch schneller entlarvt, da mehr Menschen anderen auf die Finger schauen, ja so viele wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte? Und hat nicht jeder die Möglichkeit, mit einer Homepage, einem Blog, einem Account bei einem der grossen sozialen Netzwerke seine eigene Sicht der Dinge allen darzulegen und damit zum Meinungspluralismus beizutragen? Wenn jeder sein Smartphone, bald auch seine Datenbrille mit Kamera auf sich trägt, findet dann nicht eine Bereicherung statt? Filme von überallher dokumentieren unser Zeitgeschehen; da die Perspektiven der Aufnahmen und die Vorlieben der Filmenden so unendlich und unendlich verschieden sind, wird dann die Darstellung der Welt nicht objektiver, zumindest in der Zusammenschau? Oder wäre die Privatsphäre endgültig dahin, das Recht auf das eigene Bild eine Illusion aus einer vergangenen Zeit? Wie, wenn eine Privatsphäre schon heute nicht mehr existierte? Man denke nur an all die Überwachungskameras im öffentlichen Raum, die der Polizei dienen, Verbrechen effizienter aufzudecken, gleichzeitig aber auch den gläsernen Bürger schaffen. Da nach den Enthüllungen von Edward Snowden bekannt ist, dass die NSA und die Partnerdienste, die «Five Eyes», noch mehr über uns alle wissen, als man bis anhin annehmen musste, wäre es da nicht wünschenswert, so der besagte Snowden, wenn auch die Überwacher überwacht würden, und zwar von unten?

«Open-Source»-Bewegung – direktdemokratisches Mittel im Netz?

So wie die Demokratie die Gewaltenteilung kennt, damit niemandem die Macht in den Kopf steigt, die direkte Demokratie das Referendum und die Initiative, damit die Volksvertreter nicht plötzlich neuen Herren zu dienen beginnen und ihre Wähler vergessen – sollte da nicht auch in der virtuellen Welt die «Open-Source»-Bewegung gestärkt werden? So dass alle Programme und Dienste ohne geheime Codes auskommen, die Nutzer bzw. dann die Bürger dieser neuen Welt jederzeit Transparenz haben? So wie im 19. Jahrhundert das Öffentlichkeitsprinzip als wichtiger Pfeiler eines demokratischen Staatswesens eingeführt wurde?
All diese Fragen wirft das neue Buch des Bestellerautors Marc Elsberg auf. Es trägt den geheimnisvollen Titel «Zero» und den Untertitel «Sie wissen, was du tust». Der Inhalt des Romans sei nicht verraten, Spannung pur ist garantiert – aber auch ein alerterer Umgang mit seinen smarten elektronischen Kommunikations-Helferchen. Wie heisst es auf dem Klappentext? «Sie wissen, WER wir sind, WO wir sind – und WAS wir als Nächstes tun werden … London. Bei einer Verfolgungsjagd wird ein Junge erschossen. Sein Tod führt die Journalistin Cynthia Bonsant zu der gefeierten Internetplattform Freemee. Diese sammelt und analysiert Daten – und verspricht dadurch ihren Millionen Nutzern ein besseres Leben und mehr Erfolg. Nur einer warnt vor Freemee und vor der Macht, die der Online-Newcomer einigen wenigen verleihen könnte: Zero, der meistgesuchte Online-Aktivist der Welt. Als Cynthia anfängt, genauer zu recherchieren, wird sie selbst zur Gejagten. Doch in einer Welt voller Kameras, Datenbrillen und Smartphones gibt es kein Entkommen …» Es sei denn, man drehe die Sache um und nutze die moderne Technologie von unten her, von den Bürgern, für das Gemeinwohl, das Bonum commune, gegen die Arroganz der Macht …

Wie «Datenkraken» die Glaubwürdigkeit ihrer Kritiker untergraben

Der Roman von Elsberg bezieht die jüngsten Ereignisse um Edward Snowden und dessen Auseinandersetzung mit der NSA mit ein, beruht also in punkto Technik und technische Möglichkeiten und deren Einsatz weitgehend auf historischen Fakten und dem neusten Stand der Technik. Dort, wo der Autor ins Fiktionale schreitet, tut er es, um dem Leser mögliche Szenarien vorzustellen – damit man sich überlegen kann, wie man als Bürger diese «brave new world» mitgestalten will, damit sie nicht zu einem Horrorszenario verkommt.
Wie die NSA Snowden «ad personam» attackierte, um seine Glaubwürdigkeit zu untergraben – in der Sache liess er sich ja bekanntlich nicht widerlegen –, so werden auch im Roman «Zero» Kritiker diffamiert, damit sich die Menschen gar nicht erst auf die Kritik einlassen sollen. Anlässlich der Rezension von Glenn Greenwalds Buch zu Snowden wurden in dieser Zeitung pro memoria die Stasi-Richtlinien 1/76 abgedruckt – das Strickmuster greift auch Elsberg auf, wenn er einen Vertreter einer privaten Sicherheitsfirma den Vorschlag in den Mund legt, wie man mit Kritikern der Gehirnwaschmaschinerie im Internet umzugehen habe: «Wir müssen mehr als ihre Glaubwürdigkeit untergraben […]. Du kennst den alten Spruch: Die Menschen lieben den Verrat, aber hassen den Verräter. Wir müssen ihren Charakter in Frage stellen, ihre Motive und ihre Redlichkeit. So wie die Regierung und ihre Verbündeten es etwa mit Edward Snowden getan haben. Indem sie seine Motive angriffen, seine Flucht nach China, sein Asyl in Russ­land und einige ungeschickte Äusserungen anprangerten, gelang es ihnen, auch seine anderen Handlungen zum Verrat umzuwerten. Bei vielen Betrachtern hat das vorzüglich funktioniert.» (Elsberg, S. 455)

Ist es so bequem, unmündig zu sein?

Das Dilemma von Freiheit und Sicherheit, die nie einzeln und in reiner Form zu haben sind – denn entweder schränkt man sich in seiner Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit ein, oder umgekehrt, man lebt seine Freiheit unter Vernachlässigung der Sicherheit –, dieses Grunddilemma des menschlichen Lebens lässt Elsberg den Gründer der grossen Datenkrake Freemee formulieren, und wie es sich für einen gerissenen, von der Gier nach Geld und Macht geleiteten Menschen gehört, natürlich in einer menschenverachtenden Weise: «Letztlich sind den meisten Menschen Bequemlichkeit und Sicherheit wichtiger als Freiheit und Unabhängigkeit. Damit wissen sie ohnehin nichts anzufangen.» (S. 456)
Man hört in diesen Sätzen die Antithese zu Kants Beantwortung der Frage «Was ist Aufklärung?», in welcher er den Menschen zuruft, sie sollen Mut aufbringen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Die grossen Datenkraken wie Freemee – man darf auch gerne echte Internetkonzerne dazu denken – , nehmen, ohne sich mit ethischen Bedenken zu belasten, Befunde aus der Psychologie, Soziologie und IT, kombinieren diese und versuchen so, das Denken und Entscheiden zu automatisieren. Verhalten lässt sich somit voraussagen und beeinflussen. Wem dies zu abgehoben klingt und zu weit in die Zukunft gedacht, dem hilft der Roman mit Bezügen zu echten Ereignissen nach, Stichwort «Daten-Sammeltätigkeiten» von Supermärkten, die auf Grund des Kaufverhaltens von jungen Frauen deren Schwangerschaft und gar den Geburtstermin ziemlich genau voraussagen konnten …

Der Mensch als Aktienkurve, der Internet-Nutzer als Benutzter

Eine, die die Kantsche Aufforderung ernst nimmt, ist im Roman von Elsberg die Journalistin Cynthia Bonsant. Im Gespräch mit Carl Montik, dem Gründer des Datensammlers und Ratgeberentwicklers Freemee, sagt sie über deren Kunden: «Sie werden manipuliert, beschissen und belogen von euch Daten­oligarchen. Ihr redet von Freiheit und einer besseren Welt und habt doch nur euren Geldbeutel im Sinn! Ich bin eine Aktienkurve! Die Milliarden Menschen, die den ganzen Tag über ihren Computern, Tablets, Smartphones und hinter ihren Brillen hängen, sind doch in Wirklichkeit nicht eure Nutzer, sondern es ist genau umgekehrt – ihr benutzt sie! Sie sind eure Augen auf diesen Moloch, eure Fernsteuerungen für die Milliarden Zellen dieser Riesenmaschine, die für euch Geld schaufelt!» (S. 384)
Auf diesen Vorwurf der Gehirnwäsche entgegnet Montik: «Einspruch. Die Leute verwenden Produkte, die ihr Leben erleichtern. Freiwillig. Ich halte niemandem eine Pistole an den Kopf, damit er Freemee nutzt. Google, Apple, Facebook, Amazon und die anderen tun das auch nicht. Das ist keine Gehirnwäsche. Haben Sie zu Hause etwa keine Waschmaschine und kein Wasserklosett? Schicken Sie Nachrichten immer noch mit berittenen Boten? Nichts anderes ist das hier. Man nennt es Fortschritt.» (S. 384)

Welchen Fortschritt wollen wir mündigen Bürger?

Der geneigte Leser wird durch den Handlungsverlauf des Romans aber ständig mit der Frage konfrontiert, was für einen Fortschritt man sich eigentlich wünscht. Denn: Trotz aller Automatisierung liegt es noch immer an uns Menschen, diesen Fortschritt zu gestalten – so wie wir ihn wollen, so, dass er die Menschenwürde und die demokratischen Grundwerte ins Zentrum stellt – als Schweizer ist man geneigt hinzuzufügen, insbesondere die direktdemokratischen Werte und deren Mittel.
Es gelingt Elsberg mit seiner ominösen Figur von Zero gut, die Frage der Datenhoheit ins Bewusstsein zu rufen – und Zero ist es auch, der jeden seiner Auftritte im Netz mit seinem Ceterum censeo abschliesst: «Im übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen werden müssen.» Damit meint er die Datenoligarchen, denen man bis anhin mehr oder minder schutzlos ausgesetzt ist.
Natürlich zeichnet Elsberg seine Figuren nicht in Schwarzweiss-Manier, nein, auch unter den «Bösen», den Vorstandsmitgliedern der Datenkraken, gibt es durchaus Bedenkenträger. So konstatiert der eine, der moderne Neoliberalismus mache alles zur Ware, «auch den Menschen, zum berechenbaren Teil der grossen Maschine». (S. 344) Und in einem Gespräch mit dem Gründer von Freemee äussert derselbe Zweifelnde gegenüber dem Gründer: «Du schreibst die Algorithmen – oder weist die Programmierer an. Du entscheidest damit, wie die Werte erfasst, analysiert und interpretiert werden. Du bestimmst auf diese Weise, was Gesundheit, Glück, Erfolg und Frieden bedeuten – für Hunderte Millionen Menschen, wahrscheinlich bald für Milliarden. Und das völlig unkontrolliert! Der freie Wille wird zur Illusion! Deine Algorithmen sind die neuen Zehn Gebote! Bloss, dass niemand davon weiss!» (S. 343) Sein Boss erwidert: «Irgend jemand hat immer die Werte einer Gesellschaft definiert. Priester, Philosophen, Wissenschaftler, Politiker, Juristen, Bankiers, Unternehmer.» (S. 343) Diesem elitären Top-down-Denken hält der erste entgegen: «Spätestens seit einigen Revolutionen bemühte man sich, Werte in einem Dialog zu definieren, an dem alle teilnehmen können. Land of the free, vielleicht erinnerst du dich.» (S. 343)

Auswirkungen neuer Technologien gehen alle an

Die Heldin des Romans von Elsberg, Cynthia Bonsant, eine mutige Journalistin, wirft am Schluss die zentrale Frage auf: Was tun, da es wohl kein Zurück mehr gibt aus der Welt des kommerziellen Datensammelns und -verwertens? Und hier bewegt sich Elsberg ganz in der Tradition des Schweizer Dramatikers Friedrich Dürrenmatt. Auch Dürrenmatt griff gerne Themen seiner Zeit auf, in seiner Tragikomödie «Die Physiker» die Entwicklung von und die Versuche mit Atomwaffen. In seinen berühmten 21 Punkten zu den Physikern betonte er, die Dramatik könne den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen. Die kann natürlich auch für die Gattung der Epik geltend gemacht werden, also zum Beispiel für den Roman von Elsberg. Dürrenmatt führt weiter aus, Geschichten oder auch Begebenheiten müssten zu Ende gedacht werden, und dies sei erst dann der Fall, wenn die schlimmstmögliche Wendung einbezogen werde. Dabei spielten Zufälle eine wichtige Rolle. Er betonte, dass der Inhalt der Physik zwar die Physiker angehe, die Auswirkungen aber alle Menschen. Und: Was alle angehe, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, müsse scheitern.

Augen auf und mitgestalten – oder sich überrollen lassen?

Genau dies lässt Elsberg auch die Tochter seiner Heldin, Viola, eine «digital native», – also jener Generation, die schon ganz mit Internet und IT aufgewachsen ist –, im Gespräch mit ihrer Mutter äussern. Ausgangspunkt des Gesprächs war die oben schon erwähnte Überlegung: Da es kein Zurück gebe aus der Welt des kommerziellen Datensammelns und -verwertens, wäre es da nicht besser, Datenverwertungssysteme auf «Open-Source»-Basis zu schaffen, damit die Programmcodes von jedem beeinflussbar seien?
Cynthia: «Ich weiss nicht, ob ich diese vivisezierte Gesellschaft will. Dieses Offenlegen aller Beziehungen und Verhältnisse in Echtzeit, diese Welt ohne Geheimnisse und Überraschungen. Eine Welt, in der alles und jeder verkäuflich ist.» Die Tochter gibt zu bedenken: «Die existiert doch längst, Mom. Die Frage ist bloss, wer Einblick in sie besitzt und davon profitiert – Geheimdienste und ein paar geheimnistuerische Weltkonzerne oder wir alle.» (S. 470)
Oder wir alle? Elsbergs Roman gibt uns Bürgern Hausaufgaben: Natürlich kann man die moderne elektronische Welt in Bausch und Bogen verwerfen, in der Welt ist sie dennoch, ob einem das nun passt oder nicht. Also geht es darum, weil es alle angeht, dass alle zur Lösung beitragen. Wenn die Bürger es nicht tun, Leute wie die fiktionale Figur Montik tun es auf jeden Fall. Besser, man spricht mit und holt das Raumschiff auf den Boden und definiert die Regeln – damit wir eine Welt, auch eine virtuelle, zurücklassen, die wir guten Gewissens unseren Kindern übergeben können. Eine Welt, in welcher die Würde des Menschen oberste Priorität besitzt.     •

1    Der Begriff «Dritte Industrielle Revolution» bezeichnet den Einsatz von Elektronik und Informationstechnologie (IT) zur weiteren Automation der Produktion, Beginn um 1969. Die «Vierte Industrielle Revolution» basiert auf dem Einsatz von cyber-physischen Systemen und ist derzeit in Entwicklung.
2    Die Begriffe werden im Detail erklärt im Anhang des hier vorgestellten Romans von Marc Elsberg, S. 473ff.
3    Daniel Wechlin. Der Kreml knebelt das Internet. In: Neue Zürcher Zeitung vom 7.8.2014.

Literatur:
Marc Elsberg. Zero – Sie wissen, was du tust. München 2014. ISBN 978-3-7645-0492-2.
Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Zürich 1962 (Erstveröffentlichung) und Neufassung 1980 im Diogenes-Verlag. Im Anhang S. 91–93: 21 Punkte zu den Physikern. ISBN 3 257 20837 5.
Glenn Greenwald. Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen. München 2014. ISBN 978-3-426-27635-8.

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