«Ich habe den Eindruck, wir Schweizer reagieren oft zu defensiv auf Vorwürfe und Erpressungen»

«Ich habe den Eindruck, wir Schweizer reagieren oft zu defensiv auf Vorwürfe und Erpressungen»

von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, anlässlich der Ustertagsfeier am 18. November 2012

«Heiri, wenn’s fählt, chönnt’s di dä Chopf choschtä.»1 Das sagt Vater Gujer zu seinem Sohn Heinrich. Wir sind auf der Mühle in Bauma. Es ist ein milder Herbstmorgen; es ist der 22. November 1830. Heinrich Gujer verabschiedet sich und macht sich auf den Weg. Er nimmt seinen Pass mit, damit er notfalls fliehen könnte. Später am Tag wird er auf dem Zimiker zu Tausenden von Bürgern sprechen und mit seiner Rede die Volksversammlung von Uster eröffnen.

Freiheit braucht Mut

Es ist ein Glück, dass die Sorge des Vaters historisch überliefert ist. Wir können so hinter die Kulisse der Geschichte blicken. Wir erfahren von der Gemütslage der Menschen von damals, von Angst und Überwindung, vom Mut, den sie brauchten. Daraus lernen wir etwas ganz Wichtiges: Freiheit gibt es nicht einfach so; Mut ist die Voraussetzung für die Freiheit. Denn es brauchte Mut, nach Uster zu kommen; es brauchte Mut, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Mit dem Ustertag feiern wir unsere Freiheit. Wir gedenken des Muts all jener Bürger, die an jenem denkwürdigen 22. November 1830 für Freiheit eingetreten sind. Und wir erinnern uns daran, dass es Freiheit nur gibt, solange wir Bürger uns für die Freiheit einsetzen.
Der Mut zur Freiheit hat sich damals im Volksaufmarsch in Uster gezeigt. Aber er hat sich nicht darauf beschränkt: Die Bedeutung des Tages wird klar, wenn wir uns den grösseren Zusammenhang ansehen. Der Ustertag markiert den Durchbruch liberaler Grundsätze. Was zuvor in Flugschriften, in Volkseingaben, in Denkschriften diskutiert wurde, wird nach dem Ustertag politisch umgesetzt. Zuerst in der neuen Zürcher Kantonsverfassung von 1831. Dann durch Reformen in anderen Kantonen. Und schliesslich in der Bundesverfassung von 1848.
Mit diesen Verfassungen wird der Boden für die liberale Gesellschaftsordnung gelegt. Für die Gesellschaftsordnung, die aus der Schweiz eines der freiesten, friedlichsten und reichsten Länder gemacht hat. – Für die Gesellschaftsordnung, der wir unsere weltweit einzigartige Lebensqualität verdanken.

Freiheitsgrundsätze

Die Grundsätze sind einfach, glasklar und zeitlos: Wir Bürger sind frei. Einer der drei Redner am Tag von Uster, Johannes Jacob Hegetschweiler, Arzt in Stäfa, zitiert Friedrich Schiller: «Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd’ er in Ketten geboren.»2 Daraus ergibt sich alles Weitere: Freie Meinungsäusserung, Versammlungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit, Wirtschaftsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz des Privateigentums, Schutz der Privatsphäre, Schutz vor Willkür, um nur einige zu nennen. Auch die Transparenz in der Staatsführung gehört dazu. Denn der Staat ist uns Bürgern Rechenschaft schuldig, nicht wir dem Staat. Der Ustertag und die liberalen Verfassungen definieren auch da die Verhältnisse neu: Vorher hatte die Regierung ein Land. Seither hat das Land eine Regierung.
Damit kommen wir zum wichtigsten Grundsatz: Wir alle zusammen, wir, das Volk, wir sind der Souverän, also die oberste Macht im Staat. Das Volk erlässt die Verfassung und kann diese auch jederzeit wieder ändern. So steht es als einleitender Grundsatz im Ustertagsmanifest. Und so steht es denn auch im ersten Artikel der Zürcher Kantonsverfassung von 1831.
All diese Grundsätze sichern uns die Freiheit. Der Ustertag ist kein fernes historisches Ereignis: Er ist eine Weichenstellung, die nachwirkt. Der damalige Entscheid für die Freiheit ist die Grundlage des Erfolgs von heute. Darum gehört die Ustertagsfeier zu den ganz wichtigen Gedenkanlässen in unserem Land.
Aber es reicht nicht, wenn wir einmal im Jahr feierlich der Freiheit gedenken – und im politischen Alltag diese wichtigen Grundsätze wieder vergessen.
Zum Beispiel, wenn wir von Steuergeschenken sprechen: Das ist ein Rückfall in Zustände von weit vor dem Ustertag. Das ist wieder Feudalstaat: Dem Landesherrn gehört alles. Grund und Boden und die Arbeitskraft seiner Untertanen; was diesen verbleibt, ist ein gnädiges Geschenk des Fürsten.
Spätestens seit dem November 1830 sehen wir das anders: Wir sind frei. Was wir erarbeiten, das gehört uns. Es gibt darum keine Steuergeschenke. Denn der Staat kann uns nicht schenken, was uns gehört und nicht ihm.
Steuergeld geht auch nicht verloren, wo es nicht erhoben wird. Steuergeld geht verloren, wo es vom Staat unsinnig ausgegeben wird. 
Auf keinen Fall vergessen dürfen wir den wichtigsten Grundsatz: Das Volk ist der Souverän. Nur die Bürger können die Verfassung ändern – aber die Bürger, sie können sie ändern. Eine Volksabstimmung ist deshalb verbindlich. Auch wenn es um die Ausschaffung krimineller Ausländer geht und das der Verwaltung, den Medien und der politischen Elite missfällt. Ein Abstimmungsresultat ist kein untertäniges Bittschreiben an die gnädigen Herren wie im ancien régime. Es ist ein Entscheid der obersten Instanz des Landes; ein Entscheid der Bürger in ihrer Funktion als höchster Gewalt. Also ein verbindlicher Auftrag, der umzusetzen ist. Auch das sollten wir spätestens seit dem November 1830 wissen!

Sonderfall Freiheit

Der Ustertag ist die Ouvertüre zur Reformzeit, aus der unser moderner Bundesstaat entstanden ist. Und in diesem Zusammenhang wird er auch immer wieder gewürdigt – absolut zu Recht!
Der Ustertag hat aber noch eine andere Bedeutung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Die Reformen der 1830er und 1840er Jahre haben auch eine aussenpolitische Dimension.
Die Schweiz wagt Demokratie. Die Schweiz wagt Freiheit. Im Alleingang. Als Sonderfall. Überall sonst in Europa herrschen Monarchen. In Frankreich hat es im Juli 1830 eine Revolution gegeben. Aber es wird nur ein König durch einen neuen König ersetzt. 
Die Schweiz geht einen Weg, den sonst kein anderes Land zu gehen wagt. Wir müssen uns vorstellen, was das damals bedeutet hat: Volksrechte statt Gottesgnadentum. In den andern Ländern ist es umgekehrt: Ganz wenige bestimmen. Die grosse Mehrheit muss gehorchen. Das Regieren und Verwalten wird als hochkomplexe Kunst verstanden. Das Volk kann das alles nicht verstehen, es stört nur und soll darum nicht mucken. Fürsten und ihre Minister tagen geheim. Ohne Öffentlichkeit, ohne Kontrolle, ohne demokratische Beteiligung der Untertanen.
Die Kantonsverfassung von 1831 und die Bundesverfassung von 1848 sind unglaublich mutige Schritte. Sie sind der Gegenentwurf zu allem, was in den andern europäischen Staaten selbstverständlich ist. Unser Land weicht ganz bewusst von der internationalen Norm ab, so weit wie es nur denkbar ist. Die Bürger von damals wissen, was ihnen die liberalen Verfassungen einbringen werden: Freiheit – aber eben auch Kritik, Spott, Verachtung, Druck, Erpressungen von aussen.
Diese Erfahrungen hat die Schweiz schon in den 1820er Jahren gemacht. Schon vor dem Ustertag ist die Freiheit hierzulande grösser als anderswo. Das stört die europäischen Mächte. Darum wollen sie die Schweiz einbinden und kontrollieren. Kaum kann sich unser Land aus dem Einfluss Napoleons lösen, legen der Botschafter des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren dem Zürcher Bürgermeister schon ihre Forderungen auf den Tisch.3

Die Schweiz und die «Heilige Allianz»

Die Schweiz ist seit 1817 Mitglied der Heiligen Allianz, heute würden wir sagen: einer supranationalen Organisation. Fast alle Staaten in Europa gehören ihr an.
Der Gründungsvertrag vom September 1815 besteht aus schönen Worten. Es heisst, die Beziehungen zu allen Ländern seien alleine durch «die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens» geprägt. Man wolle «so den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen und ihren Unvollkommenheiten abhelfen».4 Hehre Erklärungen – hätte es den Friedensnobelpreis damals schon gegeben, hätte ihn die Heilige Allianz bestimmt erhalten …
Hinter der Kulisse der schönen Worte sieht die Realität etwas anders aus: Die grossen Staaten geben den Ton an. Das Ziel der Heiligen Allianz ist, die Regentschaft der Monarchen gegen die Bürger zu sichern. Die Politik ist von Fürst Metternich geprägt, dem Aussenminister des Kaiserreiches Österreich-Ungarn. Er ist der legendäre Grossmeister der Machtpolitik.
Wer nicht spurt, bekommt die Peitsche zu spüren. Immer wieder drohen die Herrscher mit der Kavallerie. Und sie lassen sie auch ausreiten. Gegen freiheitliche Bürgerbewegungen in Spanien oder in Italien.
Auch die Schweiz kommt ins Visier. Unter dem Druck der Heiligen Allianz beschliesst unsere Tagsatzung 1823 das Pressekonklusum, das sie dann über einige Jahre immer wieder verlängert. Das ist eine Vorgabe an die Kantone, wie sie die Presse zu beaufsichtigen haben. Denn die Mächte fordern weniger freie Meinung und mehr Zensur.5
Zollmassnahmen werden als Druckmittel eingesetzt: Die Nachbarstaaten lassen ihre Wirtschaftsmacht spielen. Es gibt Zollschwierigkeiten mit Frankreich, es gibt Zollschwierigkeiten mit Preussen.
Die Monarchen lancieren Gerüchte- und Drohkampagnen: Im Waadtland zum Beispiel gehen Agenten zu Winzern unter dem Vorwand, ihren Wein degustieren zu wollen. Im Gespräch machen sie dann den Leuten Angst, die Franzosen zögen Truppen zusammen und würden bald einmarschieren.6
Nur nebenbei: Eigentlich schon ein Verlust an savoir vivre, heute schaltet einfach eine Presseabteilung online ein trockenes Communiqué auf …
Die hohen Regierungen in Europa haben die Macht auf ihrer Seite. Gleichzeitig fürchten sie aber, die freiheitliche Ordnung der Schweiz könnte die Bürger auch in ihren eigenen Ländern inspirieren. Freiheit ist in den Augen der Staatsgläubigen immer eine Provokation. Darum zielen die Angriffe immer auch auf den Ruf der Schweiz.
Metternich meint: «Die Schweiz steht heute allein als Republik, und sie dient den Unruhestiftern aller Art zum Freihafen.»7 Dieses Verunglimpfen ist Teil der politischen Strategie. Statt von Freihafen würde Metternich heute wohl von Steueroase sprechen …
Die Grossen kleiden die brutale Machtpolitik in ein pseudo-ethisches Gewand: Die freiheitliche Schweiz wird als moralisch verwerflich dargestellt. Metternich schreibt in einem Instruktionsschreiben für einen kaiserlichen Gesandten von «einer moralischen Fäulnis, die, im Volksgeiste immer mehr sich verbreitend, auch den Grund des eidgenössischen Staatslebens untergräbt».8
Trotz diesem immensen Druck wählt die Schweiz damals mutig ihren eigenen Weg, weil ihr Freiheit wichtiger ist als internationales Lob.

Freiheit unter Druck

Wenn ich auf diese Zeit zurückschaue, denke ich: Vieles ist so anders. Aber vieles ist auch so ähnlich.
Wenn ich jetzt die mutigen Bürger von damals vor mir sehe, frage ich mich: Wie steht es heute um unsere Freiheit? Und wie steht es um unseren Mut, für die Freiheit einzutreten?
Auch wir stehen unter Druck von aussen. Wir stehen in der Kritik, weil bei uns die Bürger mehr Rechte haben und weniger Steuern zahlen als in andern Staaten. Wir kommen unter Druck, weil unsere Ordnung freiheitlicher und demokratischer ist, weil bei uns Privatsphäre und Eigentum geachtet werden. Und wir werden beneidet, weil es uns gut geht.
Nicht weil wir vieles falsch machen, stehen wir immer wieder am Pranger, sondern weil wir vieles besser machen.
Ich habe den Eindruck, wir Schweizer reagieren oft zu defensiv auf Vorwürfe und Erpressungen. Wir dürfen auch einmal daran erinnern, wie andere von uns profitieren: Zum Beispiel, dass die Schweizer Wirtschaft gemäss den Zahlen der Nationalbank gegen 900 Milliarden Franken im Ausland investiert hat, davon über 40% in der EU,9 dass Schweizer Unternehmen damit weltweit unter anderem mehr als 2,6 Millionen Stellen geschaffen haben.10 Dazu kommen noch mehr als eine Viertelmillion Grenzgänger, die bei uns ihr Geld verdienen. Allein der Bund hat für das nächste Jahr 3,3 Milliarden Franken für internationale Beziehungen budgetiert.11
Wir verlangen dafür keinen Dank – aber wir verlangen Respekt und Fairness. 
Manchmal stehen wir uns jedoch auch selbst im Wege. Wir erliegen schnell dem Wunsch, auch irgendwo mitzumachen, auch irgendwie dabeizusein. Somit fehlt immer wieder der Mut zur eigenständigen Lösung.
Wenn ich, wie damals Hegetschweiler, die Situation mit einem grossen Dichter beschreiben müsste, dann würde ich für unseren Zustand zwischen Verführung und Zwang auf Goethe verweisen. In einer seiner Balladen lockt eine Nixe einen Fischer ins Verderben:

«Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war’s um ihn geschehen;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehen.»

Wir sind in den letzten Jahren weitgehende internationale Verpflichtungen in verschiedenen Gebieten und mit verschiedenen Partnern eingegangen; mit Staaten ebenso wie mit überstaatlichen Organisationen. In wichtigen Bereichen haben wir mehr oder weniger bewusst Handlungsfreiheit aufgegeben. Mittlerweile stellen wir fest, dass uns aus zahlreichen dieser eingegangenen Verpflichtungen immer neue Verpflichtungen erwachsen. Häufig mit negativen Folgen für unsere Freiheit.
Ist es da nicht an der Zeit, dass wir einmal emotionslos untersuchen, was uns die wichtigsten internationalen Verträge einerseits bringen, andererseits aber uns abverlangen und kosten? Stimmt die Gesamtbilanz noch? Besteht für die Schweiz ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen? Haben wir erhalten, was wir uns erhofft haben oder was uns versprochen wurde?

Bilanz der Bilateralen

Schauen wir uns die wichtigsten bilateralen Verträge mit der EU genauer an. Denn sie stehen beispielhaft für die internationale ­Positionierung unseres Landes überhaupt.

Landverkehr

Man erhoffte sich viel vom Landverkehrsabkommen. In der Botschaft – so heisst der Bericht des Bundesrates, in dem er eine Gesetzesvorlage erläutert – wurde das Landverkehrsabkommen als «entscheidendes Element zur Erreichung der […] Verlagerung von der Strasse auf die Schiene»12 bezeichnet. Das Ziel von «rund 650 000 alpenquerenden Strassenfahrten» werde «voraussichtlich […] im Zeitraum ab 2006 bis 2012»13 erreicht. Heute sieht es anders aus. Vom Ziel von 650 000 ist man weit entfernt. Rund doppelt so viele Lastwagen fahren über die Alpen, wie man damals angekündigt hatte.
Was die nördlichen und südlichen Zulaufstrecken zur Neat in Deutschland und Italien betrifft, so sollte das bilaterale Landverkehrsabkommen den Bau dieser Strecken sichern.14
Von diesen Zulaufstrecken wurde bis heute kaum etwas realisiert.

Dublin

Nicht nur beim Landverkehrsabkommen müssen wir feststellen, dass Vertragspartner ihre Verpflichtungen nicht richtig einhalten. Nehmen wir das Dublin-Abkommen als weiteres Beispiel:
Gemäss diesem Abkommen ist jenes Land für ein Asylverfahren zuständig, in welchem ein Asylbewerber sein erstes Gesuch gestellt hat. Wer also nicht mit dem Flugzeug hier landet, für den können wir logischerweise gar nicht zuständig sein, da wir von Dublin-Staaten umgeben sind. Für den grossen Teil der Asylgesuchsteller ist gemäss dem Abkommen Italien zuständig. Ich sage gemäss Abkommen. – In der Realität sieht es anders aus: Italien hat die Rückübernahmen begrenzt.15

Schengen

Oder nehmen wir Schengen: In der Botschaft zu den Bilateralen II hiess es, das Abkommen diene der «Stärkung der inneren Sicherheit».16
Heute lesen wir von Kriminellen, die von keiner Grenzkontrolle mehr gestoppt werden, von ausländischen Banden, die von der Polizei kaum gefasst werden können, da sie sich sofort wieder ins Ausland absetzen. Bei den Versicherungen wurden allein dieses Jahr 20% bis 30% mehr Einbrüche gemeldet. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verzeichnet seit Anfang Jahr eine Zunahme der Einbrüche von 45%.17 Oder wir hören den Hilferuf einer Staatsrätin aus der Waadt, wir sollten die Grenzen wieder strenger kontrollieren.18
Wir stellen auch fest, dass andere Schengen-Staaten genau dies tun: Frankreich und Dänemark haben zeitweise ihre Kontrollen wieder eingeführt.
Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass an der türkisch-griechischen Grenze die griechischen Behörden schon seit längerer Zeit die Situation nicht mehr im Griff haben. Die illegale Einwanderung über die griechische Grenze und die Balkanroute hat sich verstärkt. Inklusive Begleiterscheinungen wie Menschen- und Drogenhandel.
In bezug auf die Sicherheit ist Schengen klar hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben. Es gibt aber zwei Bereiche, in denen Schengen unsere Erwartungen massiv übertroffen hat: Der Personalaufwand ist viel grösser als angenommen. Und die Kosten sind viel höher als erwartet. Von 30 bis 40 Stellen war ursprünglich die Rede, die man zudem intern kompensieren könne. Heute dürfte der Arbeitsaufwand 200 Stellen übersteigen. Kosten von um die 7 Millionen Franken pro Jahr wurden anfänglich veranschlagt. Für 2013 sind wir bei 100 Millionen Franken.
Von Bürgern habe ich schon gehört, Bundesbern sei wie Schilda: Mehr Leute arbeiten für mehr Sicherheit. Und sie erreichen, dass mit Sicherheit die Unsicherheit zunimmt.

Bankkundengeheimnis

Die Bilateralen II waren unter anderem auch als Entgegenkommen an die EU gedacht, um im Gegenzug das Bankkundengeheimnis zu sichern. Man warnte vor erheblichen volkswirtschaftliche Risiken – ich zitiere wieder aus der Botschaft: «So wäre beispielsweise im Falle eines Scheiterns der finanzplatzrelevanten Abkommen seitens der EU mit unmittelbar steigendem Druck auf das Bankgeheimnis zu rechnen.»19
Heute haben wir diesen Druck trotzdem. Die damaligen Hoffnungen und Erwartungen haben sich auch in diesem Punkt nicht erfüllt. Ich habe eingangs gesagt, wir sollten die Grundsätze des Ustertages auch nach dem Festakt im politischen Alltag nicht vergessen.  
Das gilt auch für das Bankkundengeheimnis: Das Bankkundengeheimnis schützt die Privatsphäre, genau wie das Arztgeheimnis oder das Postgeheimnis. Der Schutz der Privatsphäre ist eine urliberale Errungenschaft, die im Kern auf die 1830er Jahre zurückgeht. 

Einwanderung

Die grössten Schwierigkeiten ergeben sich aber mit der Personenfreizügigkeit. Ihre Folgen spüren wir sehr viel stärker, als ursprünglich angenommen. In der Botschaft hiess es noch: «Generell kann angenommen werden, dass selbst bei einer vollständigen Realisierung der Freizügigkeit mit der EU keine massive Einwanderung zu erwarten ist […]»20
Heute müssen wir feststellen, dass genau das stattfindet: Eine massive Einwanderung!
Wir hatten in den letzten fünf Jahren einen Einwanderungssaldo von durchschnittlich gegen 80 000 Ausländern pro Jahr. Das ist mehr als die Stadt Luzern Einwohner hat; oder fast dreimal die Stadt Uster – und das, wie gesagt, jedes Jahr. Die Schweiz ist ein kleines Land und schon jetzt dicht besiedelt. Diese massive Einwanderung bringt uns in jeder Hinsicht an die Kapazitätsgrenzen. Haben wir uns überlegt, was das für unsere Infrastrukturen heisst, für den privaten und den öffentlichen Verkehr, für Schulen, Spitäler, Energieversorgung; für die Immobilienpreise und den Wohnungsmarkt; für den Umweltschutz und das Lohnniveau?  
Es liegt auf der Hand: Wir sollten reagieren. Eigentlich müsste es ja allen klar sein, dass ein Bevölkerungswachstum in diesem Ausmass längerfristig nicht zu bewältigen ist und zu gefährlichen Spannungen führen kann. 
Aber durch den Vertrag mit der EU sind uns die Hände gebunden. Unsere Reaktion ist darum Symptombekämpfung. Und sie entspricht auch nicht den liberalen Prinzipien, die unsere Wirtschaft stark gemacht haben: Wir erweitern die flankierenden Mass­nahmen. Nun sollen diese gemäss einem parlamentarischen Vorstoss sogar auf den Wohnungsmarkt ausgedehnt werden. Flankierende Massnahmen sind aber nichts anderes als Einschränkungen der liberalen Grundsätze, denen wir unsern Erfolg verdanken.
Zusammenfassend müssen wir feststellen: Unsere Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung in der Ausländerpolitik haben wir weitgehend aufgegeben. Mit Schengen müssen wir die Visumpolitik der EU nachvollziehen, mit der Personenfreizügigkeit können wir die Zuwanderung nicht mehr steuern.

Macht und Recht

Mich beschäftigt diese Entwicklung. Und ich frage mich: Wenn wir eine Gesamtbeurteilung der Verträge vornehmen, sind wir dann noch so sicher, dass das Resultat für uns stimmt?
Internationale Beziehungen werden durch zwei Faktoren bestimmt: Durch Macht und durch Recht. Grossmächte setzen immer wieder auf Macht. Das ist nichts Neues, wie wir aus der Geschichte wissen – und auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre. Sollte sich die Schuldenkrise weiter verschärfen, wird auch die Machtpolitik noch an Härte zunehmen.
Als Kleinstaat ist das Recht für uns um so wichtiger. Im Gegensatz zu Grossmächten können wir nicht einfach im nachhinein die Vereinbarungen ignorieren oder nach unseren Interessen zurechtbiegen.
Weil also das Recht für uns so wichtig ist, müssen wir den internationalen Verbindlichkeiten besondere Aufmerksamkeit schenken. Und uns besonders gut überlegen, gegenüber wem wir welche Verpflichtungen eingehen. Und auch, wie lange wir in einem Vertragsverhältnis bleiben wollen.
Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, wie sich solche Verträge weiterentwickeln. Oft entfalten sie eine eigene Dynamik. Mit immer neuen Anpassungen und Erweiterungen entwickelt sich ein Sog hin zu immer mehr Gleichschaltung.
Neuerdings fordert die EU sogar, dass wir ihr Recht automatisch übernehmen. Auch alles zukünftige, das wir noch gar nicht kennen. Wir würden uns also der Rechtshoheit der EU unterwerfen. Wollen wir das wirklich?
Die Beziehungen zur EU zeigen exemplarisch, was wir auch im Verhältnis zu andern internationalen Organisationen oder auch zu Staaten, etwa den USA, feststellen: Gewisse internationale Verträge bringen immer neue Verpflichtungen mit sich. Und sie tangieren immer stärker unsere Freiheit sowie unsere innerstaatliche Ordnung.

Freiheit wagen

Wir haben ja bereits von Johannes Jacob ­Hegetschweiler gehört, dem Redner am Ustertag, der damals Schiller zitiert hat. Könnten wir ihn heute noch fragen, würde er wohl auch jetzt wieder Schiller zitieren. Zum Beispiel aus dem Lied der Glocke: «Drum prüfe, wer sich ewig bindet […]. Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.»
Vielleicht wäre es an der Zeit, ganz grundsätzlich die Vorzüge wichtiger internationaler Verträge gegen ihre Nachteile abzuwägen, einmal nüchtern eine Bilanz zu erstellen. Und wenn sie für uns nicht stimmt, dann die Konsequenzen zu ziehen. Ich gebe zu: Das braucht Mut – Freiheit wagen, das braucht immer Mut. Das ist heute gleich wie damals vor 182 Jahren.
Am 22. November 1830 haben die Bürger hier in Uster den Aufbruch in die Freiheit gewagt. Das war mutig. Aber es hat sich gelohnt. Darum feiern wir heute noch den Ustertag …       •

Quelle: <link http: www.vbs.admin.ch>www.vbs.admin.ch    

1    Zit. nach Karl Dändliker, Der Ustertag und die ­politische Bewegung der Dreissiger Jahre im Canton Zürich, Zürich 1881, S. 58
2    Karl Dändliker, Der Ustertag und die politische Bewegung der Dreissiger Jahre im Canton Zürich, Zürich 1881, S. 59
3    Wilhelm Oechsli, Lebzeltern und Capo d'Istria in Zürich, in: Festgaben zu Ehren Max Büdinger's, Innsbruck 1898
4    Historisches Seminar der Universität Bern (Hg.), Quellen zur neueren Geschichte, Europapolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Bern 1944, I. Die Heilige Allianz (Original französisch), S. 5
5    Siehe dazu Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947
6    Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947, S. 30ff., insbes. S. 32
7    Werner Sutermeister, Metternich und die Schweiz 1840–1848, Bern 1895, S. 3 Fn 1
8    Arnold Winkler, Metternich und die Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte, 1927,
S. 60
9    <link http: www.snb.ch ext stats fdi pdf de>www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_2_CH_Direktinve_Kapitalbestand.pdf    
10    <link http: www.snb.ch ext stats fdi pdf de>www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_3_CH_Direktinve_Personalbestand.pdf     
11    Bericht zum Voranschlag 2013, S. 28 und S. 70
12    Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6282
13    Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6291
14    Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6292
15    11.5086 – Fragestunde, Dublin ausser Kraft, Antwort des Bundesrates vom 7.3.2011
16    Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II») vom
1. Oktober 2004, BBl 2004, 5991
17    Der Sonntag online, «Ein Viertel mehr Einbrüche», abgerufen am 29.10.12
18    «Wir müssen die Grenzen strenger kontrollieren», Interview mit Staatsrätin De Quattro, NZZ am Sonntag, 10.2.12, S. 10
19    Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II») vom
1. Oktober 2004, BBl 2004, 6012
20    Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6350

Rückgrat und Standfestigkeit, die von der Bevölkerung erwartet werden …
ts. «Aber es reicht nicht, wenn wir einmal im Jahr feierlich der Freiheit gedenken – und im politischen Alltag diese wichtigen Grundsätze wieder vergessen.» Ausgehend von dieser Feststellung macht Bundesrat Ueli Maurer in seiner Ustertagsrede, immer im Rückblick auf die Geschichte, eine Auslegeordnung dessen, was heute in der Schweiz ansteht: Mut aufzubringen, sich für die Freiheit einzusetzen. Sich der Arroganz der Macht nie zu beugen. Selbstherrlichen Vertretern supranationaler Organisationen, die in der Geschichte den Kleinen schon immer mit der Kavallerie gedroht haben, die Stirn zu bieten und «mutig den eigenen Weg zu gehen, weil uns die Freiheit wichtiger ist als internationales Lob». Kurz und gut: Respekt und Fairness im Umgang mit unserem Land einzufordern.
Die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung teilt diese Einschätzung der Lage und verfügt auch über den Bürgersinn und die nötige Zivilcourage. Und zwar sowohl die Bevölkerung der Landschaft als auch jene der Städte – ein Umstand, den auch erst ein Ustertag bewirkt hat, indem er die Gräben zwischen selbstherrlichen Städtern und ihnen unterstellten Landschäftlern zugeschüttet hat. Das Bündnis hält, auch wenn die 5. Kolonne der EU-Hörigen in der Schweiz mit ihren ideologischen Hirngespinsten von Metro­politanräumen und Naturparks die Bevölkerung wieder teilen will – mit leicht durchschaubaren, niederträchtigen Motiven!
Dass ein Mitglied der obersten Exekutive eine Rede hält, in welcher er klar herausstreicht, dass in der Schweiz das Volk die höchste Instanz, der wahre Souverän ist, und dass wir gerade wegen dieser unserer freiheitlichen Ordnung die Bürger anderer Länder inspirieren könnten und auch deswegen von den Vertretern der Macht attackiert werden – in welchem anderen Land käme so etwas vor? Wo, wenn nicht in der Schweiz, formuliert ein Exekutivpolitiker einen Satz wie diesen: «Ein Abstimmungsresultat ist kein untertäniges Bittschreiben an die gnädigen Herren wie im ancien régime. Es ist ein Entscheid der obersten Instanz des Landes; ein Entscheid der Bürger in ihrer Funktion als höchster Gewalt. Also ein verbindlicher Auftrag, der umzusetzen ist.»   
Dass den Bürgern in den einzelnen Ländern des Molochs EU diese Rechte auch zu wünschen wären, ist das eine. Das andere aber: Wie weit ist diese zutiefst direktdemokratische Gesinnung bei unseren Volksvertretern heute noch verbreitet? Wo stehen eigentlich die anderen Bundesratsmitglieder im politischen Geschehen? Üben Sie den aufrechten Gang? Oder gehen Sie, um Bundesrat Obrecht zu zitieren, «wallfahrten»? Damals in die Hauptstadt des Dritten Reiches, und heute? Und wie steht es um unsere National- und Ständeräte? Bringen Sie das Rückgrat und die Standfestigkeit auf, die von der Bevölkerung erwartet wird? Wer sich in der heutigen Situation nicht der Stimmung im Volk, der Haltung, Würde und Tonlage eines Bundesrates Maurer und eines Nationalrates Ruedi Noser anschliesst, wird sich überlegen müssen, ob er am richtigen Ort ist – heute und auch im Hinblick auf seinen Platz in der Geschichte; ob er von späteren Generationen wie Heinrich Gujer von der Mühle in Bauma oder Johannes Jacob Hegetschweiler, Arzt in Stäfa, seines Mutes wegen gewürdigt werden kann – oder die Galerie derer bereichert, die sich als kleine Quislinge mit Schande bedecken.

Das «Uster-Memorial»

Ehrerbietige Vorstellung der Landesversammlung des Kantons Zürich, abgehalten zu Uster, Montags den 22. November 1830

Hochwohlgeborener, Hochgeachteter Junker Amtsburgermeister!
Hochgeachtete, Hochzuverehrende Herren und Obere!
Es ist allgemein bekannt, dass die in den letzten Tagen des abgewichenen July für ganz Europa höchst wichtigen, in Frankreich Statt gefundenen Vorfälle auch in unserm gemeinsamen Vaterlande, und besonders auch in unserm Kanton, die verschiedenen Begehren und Wünsche, die seit dem Jahre 1814 durch die Ereignisse in Schlummer eingewiegt wurden, aufgeweckt haben, welche gegenwärtig an der Tagesordnung sind. Allgemein ist in unserm Kanton der Wunsch und das Begehren nach Verfassungs-Aenderung und Erleichterungen. Mit gespannter Erwartung sah man der durch die Versammlung der ein und dreyssig grossen Räthe in Uster herbeygeführten ausserordentlichen grossen Rathssitzung entgegen; einerseits darum, weil Exzesse zu befürchten stunden, welche Eigenthum und persönliche Sicherheit hätten gefährden können, anderseits darum, weil man allgemein mit bewegtem Gemüthe auf die Wahrung der Volksrechte achtete. Der erste Punkt ist, Gott sey Dank! durch die, der Stellung des grossen Rathes angemessene würdige Haltung beseitigt; hingegen ermangelten in dem zweyten Punkt Viele derjenigen energischen Sprache, welche einzig geeignet ist, verlorene Volks-Rechte wieder ins Leben zu rufen, wesswegen auch Viele, im Vertrauen auf den grossen Rath, einigermassen enthmutigt werden mussten. Gänzliche Enthmutigung im Vertrauen auf diese hohe Behörde ist eingetreten, nachdem das  Resultat der Verhandlungen der vom grossen Rathe niedergesetzten Kommission bekannt wurde. Was indessen die höchste Landesbehörde hiezu sagen werde, ist zur Stunde noch nicht bekannt. Indessen ist zu erwarten, Hochdieselbe werde einen solchen Antrag nicht genehmigen. Da übrigens, wenn man berücksichtigt, dass die Mehrheit dieser Commission aus Landbürgern bestanden ist, die Verteidigung und Sicherung der Volks-Rechte auf einem bedenklichen Fusse steht, so fanden viele Freunde der Ordnung und Gesetzlichkeit sich bewogen, bey der sich laut aussprechenden Gärung des Volkes, bey den anlockenden Beispielen in benachbarten Kantonen und in der Gewissheit, dass unter diesen Umständen nächstens gewaltsame Ausbrüche folgen würden, eine Volksversammlung in Uster zu veranstalten und von derselben, sowohl durch Anhörung der Einzelnen, als durch ein Gesammtmehr ihre Wünsche zu vernehmen. Das versammelte Volk, wenigstens zwölf tausend Männer an der Zahl, hat in der Ueberzeugung:
1. Dass in Freistaaten das Volk oder die Gesammtheit der freyen Bürger der Souverain ist, folglich nur mit ihrem Willen die Verfassung abgeändert werden darf:
2. Dass die Dringlichkeit einer Revision und verschiedene Veränderungen des Grundgesetzes – der Verfassung – nicht nur von dem gesammten zürcherischen grossen Rathe eingesehen, sondern und auch von der Mehrzahl der Staatsbürger anerkannt wird:
3. Dass weder in der Anno 1814, ohne förmliche Sanktion des Volkes eingeführten Verfassung, noch im Wesen des Repräsentations-System eine unbedingte Bevollmächtigung der gegenwärtigen grossen Räthe liege, diese Abänderungen ohne die Sanktion des Volkes vorzunehmen:
4. Dass die bisherigen Schritte dieser Volksdeputirten keine genügende Garantie geben, dass die neue Verfassung dem Geiste der Zeit, dem Wesen eines freyen Staates und dem Willen des Volkes gemäss abgefasst und demselben zur Sanktion und zur Beschwörung vorgelegt werde:
5. Dass die Verfassung nur dann von Dauer und Haltbarkeit seyn kann, wenn sie den Wünschen und Forderungen der Mehrzahl entspricht:
6. Dass die Volksstimmung über dieses heiligste Interesse eines freyen Bürgers noch auf keine geeignete Weise sey erforscht worden, vielmehr der Mangel einer Proklamation und die bisher unterlassene Eröffnung eines Weges, seine Ansichten einzugeben, zu zeigen scheint, dass man sie nicht kennen wolle:
7. Dass es sich vorerst um die Ausmittelung eines angemessenen Repräsentations-Verhältnisses und einer freyen Wahlart handeln müsse; dass zwar die Bevölkerung den allein richtigen Maassstab für jenes Verhältnis darbiete, indessen zur Zeit auch noch auf Bildung und Vermögen Rücksicht zu nehmen sey, ferner die Rechte eines freyen Bürgers erheischen, dass die Wahlen zum grössten Teil von ihm ausgehen:
8. In der Ueberzeugung endlich, dass der Antrag der grossen Raths-Kommission diese Erfordernisse nicht erfüllt, vielmehr der Volkswille sich immer lauter dagegen ausspreche und die Ruhe des Staates eine Zeit- und Zweckgemässere Abänderung dringen erheischt; – für gut befunden und beschlossen: Eine Denkschrift an den grossen Rath zu erlassen und die allgemein ausgesprochenen Begehren und Wünsche an seinen Vorstand in aller Ehrerbietigkeit zu bringen.
Das allgemein herrschende Begehren, das dem Volke, seinem Recht und seinem Interesse am nächsten liegt, ist nun:
1. Eine verhältnismässige Repräsentation im grossen Rathe:
2. Ein besseres Wahlsystem.
In Bezug auf den ersten Punkt ist das bestimmte Begehren heute einmüthig beschlossen worden, dass von nun an der grosse Rath aus zwey Drittheilen von Landbürgern und zu einem Drittheile aus Stadtbürgern Zürichs besetzt werde.
Wir hoffen, dass diese Forderung allgemeine Billigung finde, da dieselbe sich nicht bloss auf das Recht, sondern auch auf die Billigkeit gründet; und wir hoffen ferner, dass dieselbe von keiner Seite angefochten, noch viel weniger bestritten werde. Im unverhofften Fall aber müssten wir unser Begehren auf nachfolgende Weise unterstützen und jedem Widersächer entgegnen:
1. Dass die natürliche Freyheit jedes Volkes und die von Gott ererbten Recht gänzliche Gleichstellung aller Rechte und völlig gleichmässige Repräsentation in einem aufgestellten Vorstande fordern. Wir verlangen nun nicht mehr als zwey Drittheile, und gestatten der löblichen Stadt Zürich mit kaum dem zwanzigsten Theile der Bevölkerung des Kantons in billiger Anerkennung ihrer Vorzüge ein Drittheil der Repräsentation im ganzen grossen Rathe.
2. Dass die löbliche Burgerschaft unterm 5. Februar 1798 einen Freyheitsbrief wesentlich folgenden Inhalts erlassen hat:
«Wir Burgermeister, kleine und grosse Räthe der Stadt und der Republik Zürich thun nach erfolgter Zustimmung unserer G. L. Burgerschaft hiemit kund: dass wir bey sorgfältiger Beherzigung der gegenwärtigen höchst bedenklichen Lage unsers theuren Vaterlandes, in dem festen Vorsatze, desselben bisherige Unabhängigkeit gegen jeden äussern Feind mit Gut und Blut zu vertheidigen, so wie zu Herstellung und sicherer Gründung brüderlicher Eintracht zwischen der Stadt und unserm ganzen Lande, nach reifer Ueberlegung, folgende f e y e r l i c h e E r k l ä r u n g auszustellen und öffentlich bekannt zu machen beschlossen haben.»
1. «Dass eine durchaus vollkommene Freyheit und Gleichheit aller und jeder politischen und bürgerlichen Rechte zwischen den Einwohnern der Stadt und des Landes und der Munizipal-Städte festgesetzt seyn solle.»
2. u. s. f.
Durch diese feyerliche Erklärung hat die löbliche Burgerschaft von Zürich auf eine ruhmvolle Weise auf ihre bis 1798 gedauerte Alleinherrschaft verzichtet, und dass ihr auch in Tagen der Noth und Gefahr zugethane Landvolk ebenbürtig erklärt und von seinen frühern Unerthanen-Verhältnissen emanzipirt. Der edlere Sinn der Stadtbürger von Zürich lässt erwarten, dass keiner derjenigen, welche zu dieser feyerlichen Erklärung gestanden und dato noch am Leben sind, und keiner der Nachkommen das von den Vätern gegebene Wort zu einem unedlen Zwecke widerrufen werde.
3. Dass die Mediationsakte vom 19. Febr. 1803 im dritten Artikel sagt: „es gibt in der Schweiz weder Unterthanenlande mehr, noch Vorreche der Orte, der Geburt, der Personen oder der Familien.“
4. Dass der dreyzehnte Artikel der Kantons-Verfassung von obigem Datum die politischen Rechte der Stadt und des Landes in der Art aus einander setzt, dass, nach dem am 5. Februar 1798 ausgesprochenen rein republikanischen Grundsatz dem Lande im Durchschnitt vier Fünftel der Repräsentation im grossen Rathe zu Theil wurde.
Frägt man nun nach dem Grund und nach dem Recht, vermittelst welchem Anno 1814 die Verfassung zum Nachtheil des Landes verändert wurde, so ist die Antwort: Der Drang der damaligen Zeitumstände. Wir wollen nun nicht untersuchen, ob diese Angabe richtig sey oder nicht; wir wollen keine Rechenschaft verlangen über den Eingang der Uebereinkunft der alteidgenössischen Orte vom 29. Dezember 1813, aber hingegen bemerken, dass wir kaum glauben können, dass sich eine auswärtige Macht  dafür interessirt habe, ob die Stadt Zürich  nur ein Fünftel oder 130 Repräsentanten habe. Einerseits und anderseits, dass wenn wirklich der Drang der Zeitumstände eine Verfassungsänderung zum Nachtheil des Landes erforderte, dieser Drang nun nicht mehr vorhanden ist.
Vergleicht man daher die dem Volke zugestandenen rein republikanischen Rechte mit seiner jetzigen Forderung, die es selbst reduzirt und den Städtern Anno 1830 Vortheile einräumt, die dieselben schon vor 32 Jahren gar nicht verlangten, so wird jeder Unbefangene in der Forderung von zwey Drittheilen das grösste Recht, die grösste Billigkeit und die grösste Bescheidenheit finden und sich überzeugen, dass dieses Begehren in der Bildung des zürcherischen Landvolkes wenigstens keinen Rückschritt beurkunde. Berücksichtigen wir einige Nachbarkantone, deren Regierungen zur Zufriedenheit des Volkes bestellt sind, wo reinere republikanische Grundsätze beobachtet werden, vergleicht man das Volk jener Kantone mit dem unsrigen, so wird wohl niemand behaupten können, dass wir nicht eben so reif zu ähnlichen Verfassungs-Fortschritten wären.
In Bezug auf den zweyten Punkt, das Wahlsystem betreffend, begehrt die Versammlung einmüthig, dass durch die Verfassung  festgesetzt werde:
1. Dass fünf Sechstheile der von den, dem Lande zufallenden zwey Dittheilen jederzeit durch die Zünfte direkte gewählt werden.
2. Soll die Amtsdauer auf 3 Jahre reduzirt werden; die Ausgetretenen aber wieder wählbar seyn.
3. Die Wählbarkeit soll vom Vermögen gänzlich unabhängig seyn und bleiben.
4. Sollen alle die Förderung und Reinheit der Wahlen hemmenden Vorkehrungen und Umtriebe ausgemerzt und überhaupt die Wahlpolizey erneuert werden.
5. Sollen die bisherigen Abrufungswahlen abgeschafft werden.
6. Den Ansässen soll gestattet werden, an ihrem Wohnorte das Wahlrecht auszuüben.
Mit der Befriedigung dieser beyden Hauptforderungen findet das Landvolk sein nächstes und heiligstes Interesse für den gegenwärtigen bewegten Moment befriedigt. Da es aber einmal genöthigt war, in einer Landesversammlung aufzutreten, so hat es auch für Pflicht erachtet, die allzugrellen Mängel der Verfassung und Gesetze aufzudecken und von seinen Stellvertretern befriedigende Abhülfe zu verlangen. Diejenigen Punkte, über welche die Versammlung einmüthig beschlossen hat, Abhülfe zu begehren, bestehen in folgenden:
1. Dass in Bälde eine gänzliche Revision der Verfassung und der Kantonalgesetze in allen Zweigen überhaupt in Zuzug von Rechtskundigen und Landeskundigen angehoben werde.
2. Dass ein Verfahren gesetzlich werde, wie in Folgezeit die Verfassung nach dem Gesittungsstand und den gemeinen Bedürfnissen zu ändern sey.
3. Dass die jetzt gewünschte Verfassung und alle künftigen organischen Verfassungsänderungen nur nach erhaltener Sanktion des Volkes in den Urversammlungen in Kraft und Wirksamkeit treten sollen.
4. Trennung der Gewalten im Staat in allen Stufen.
5. Pressfreiheit, als stetes Grundgesetz.
6. Oeffentlichkeit des grossen Raths-Protokolls und nach dem Lokal bedingte Oeffentlichkeit der grossen Raths-Verhandlungen.
7. Das Recht, Beschwerden und Wünsche des Volkes an den Grossen Rath zu bringen, oder ein gesetzlich gesichertes Petitions-Recht.
8. Wahl der Amtsstatthalter durch den kleinen Rath, der Gerichtspräsidenten durch das Obergericht. Vorschlag zu Amtsrichterstellen durch Wahl-Korps und periodische Erneuerungen aller dieser Stellen je zu drey Jahren.
9. Freye Wahl der Gemeindrathspräsidenten und Friedensrichter, der Gemeindammänner nach einem Dreyer-Vorschlag der Gemeinden durch den kleinen Rath und periodische Erneuerung dieser Stellen und Vorschläge, je zu drey Jahren.
Mit diesem b e s t i m m t e n Begehren der Verfassungsverbesserung verbindet die Landesversammlung nachfolgende allgemeine Wünsche:
1. Aufhebung des Zunftzwanges.
2. Aufhebung des bisherigen Kasernendienstes und rechts- und zweckmässigere Verlegung der Montierungssteuer.
3. Bedingte frühere Entlassung vom Militärdienst ohne Abbruch der Landesbewaffnung.
4. Verminderung der Getränk-, der Stempel-, so wie der meisten indirekten Abgaben.
5. Aufhebung des Zuchtstieren-Gesetzes.
6. Verschmelzung der Landjägersteuer mit den allgemeinen Staatsausgaben und Verminderung dieses Korps.
7. Aufhebung der Porten- und Kaufhauszölle gegen volle Entschädigung.
8. Berücksichtigung der an verschiedenen Orten allzu lästigen Zehntenbezüge.
9. Gesetzliche Herabsetzung des Zinsfusses von 5 auf 4%.
10. Aufhebung des Jagd-Bannes.
11. Veränderung der jetzigen Advokatur-Ordnung.
12. Gesetzliches Recht der Kirchgemeinden, ihren Seelsorger aus einem Dreyervorschlag nach vorhergegangener Probepredigt zu wählen.
13. Spezielle Oeffentlichkeit der Staatsrechnung zu Handen der Gemeinden.
14. Gegen die Erleichterung der indirekten Steuern gerechte und richtige Vermögensbesteuerung.
15. Als einer der wichtigsten Wünsche durchgreifende Verbesserung im Schulwesen.
Während der Verhandlungen obiger bestimmter Begehren und allgemeiner Wünsche sind von e i n z e l n e n Seiten nachfolgende spezielle Bemerkungen und Wünsche ausgesprochen und an die Versammlung begehrt worden, dieselben an unsre hohe Regierung einzureichen:
1. Revision des Loskaufsgesetzes der trockenen und nassen Zehnden und Korporationsrecht, das Zehndenloskaufs-Kapital zu verzinsen.
2. Gesetzliche Regulirung der Ansässengelder.
3. Ein durchgreifendes Gesetz, bezüglich auf Anlegung und Unterhaltung der Strassen und Fusswege.
4. Milderung der Forstordnung, namentlich Sicherung gegen Willkür der Forstbeamten.
5. Da von verschiedenen Seiten Beschwerden gegen das Entstehen von Webmaschinen geführt und bereits Drohungen gegen dieselben ausgesprochen worden sind, so wird der Grosse Rath ersucht, diese Sache an Hand zu nehmen, Experten auszusenden, Untersuch zu halten, die Klage des Volkes anzuhören und durch eine Bekanntmachung die Anhandnahme dem Publikum anzuzeigen und den Betrieb derselben einzustellen.
Bewogen durch den ruhigen, aber festen Willen des Volkes, jedoch nicht ohne bange Erwartungen, haben die zahlreichen Männer, welche in Uster die Klagen des Volkes einvernahmen, und dasselbe zur Geduld und Ruhe bewogen haben, sich zur Abfassung der vorliegenden Denkschrift entschlossen, welche sie, ohne alle andere Absicht, als dem Vaterlande zu nützen, in den Schooss einer weisen und gerechten Regierung legen und dabei die Ueberzeugung auszusprechen wagen, dass nur eine durchgreifende Verbesserung der Verfasssung und dauernde Abhülfe der Beschwerden, die von Woche zu Woche grösser werdende Gährung und Unzufriedenheit zu stillen vermögen. Bietet hingegen die hohe Regierung zur Lösung des Wortes, welches obige Männer der Versammlung zu Uster gaben: „Es soll Abhülfe verschafft werden!“ die väterliche Hand, so kann Hochdieselbe neuerdings auf dauerhafte Ruhe, sowie auf die Treue ihres Volkes zählen und sich auf dessen unwandelbare Anhänglichkeit und freudige Hingebung von Gut und Blut in jeder Lage verlassen. Aber so wie sich das Volk früher und an jenem Tage gezeigt hat, ist bestimmt anzunehmen, dass bei der Nichtentsprechung seines Verlangens, es mit dem nämlichen Muthe, aber vielleicht nicht mit der nämlichen Ruhe seine Wünsche wiederholen werde. Zur Ueberzeugung, wie allgemein der Wunsch von Verfassungs-Verbesserung sei, nehmen jene Männer die Freiheit von 12000 anwesenden Bürgern nur einige tausend Unterschriften im Namen der Uebrigen beizulegen.
Schliesslich bitten wir Hochdieselben im Namen des Volkes die Versicherung vollkommener Hochachtung zu genehmigen.

Also unterzeichnet in Zürich, den 24. November 1830.
Im Namen der in Uster versammelt gewesenen, wenigstens
zwölftausend Cantonsbürger, die Abgeordneten:
Im Namen und aus Auftrag der ganzen Bürgerschaft Winterthurs:

G. A. Hirzel, Stadtrath
Troll, Rector.
Rieter, Stadtrath.
I.R. Heller, Lehrer an der Stadtschule.
Im Namen der Gemeinde Zollikon, Oberamt Zürich:
Thommann, Major, von Zollikon

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