«Die Nato-Aggression gegen Jugoslawien von 1999 war ein Modell der neuen Eroberungskriege»

«Die Nato-Aggression gegen Jugoslawien von 1999 war ein Modell der neuen Eroberungskriege»

«Humanitäre Interventionen» als Vorwand für Stationierung von US-Truppen

Interview mit Živadin Jovanovic, ehemaliger Aussenminister der Bundesrepublik Jugoslawien, heute Präsident des Belgrade Forum for a World of Equals

Zeit-Fragen: Herr Jovanovic, könnten Sie sich für unsere Leser kurz vorstellen und einiges zu Ihrer Person und Ihrer Laufbahn sagen?

Živadin Jovanovic: 1961 machte ich meinen Abschluss an der Rechtsfakultät der Universität Belgrad, von 1961 bis 1964 war ich in der Bezirksverwaltung des Stadtbezirks Novi Belgrad; von 1964 bis 2000 war ich im diplomatischen Dienst der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (ab 1992 Bundesrepublik Jugoslawien BRJ, von 1988 bis 1993 als Botschafter in Luanda/Angola, von 1995 bis 1998 als stellvertretender Aussenminister und von 1998 bis 2000 als Aussenminister). Von 1996 bis 2002 war ich Vizepräsident der Sozialistischen Partei Serbiens für auswärtige Angelegenheiten; 1996 Mitglied des serbischen Parlamentes und 2000 im Parlament der Bundesrepublik Jugoslawien. Bücher, die ich geschrieben habe, sind: «The Bridges» (2002); «Abolishing the State» (2003); «The Kosovo Mirror» (2006).

Nachdem Sie das Aussenministerium im November 2000 verlassen hatten, traten Sie dem «Belgrade Forum for a World of Equals» bei. Heute sind Sie Präsident der Vereinigung. Was sind Ihre Schwerpunkte?

Die Schwerpunkte des Forums sind die Förderung von Frieden, Toleranz und Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichwertigkeit unter Individuen, Nationen und Staaten. Wir stehen für die volle Respektierung des Völkerrechtes, der grundlegenden Prinzipien der internationalen Beziehungen und der Rolle der Vereinten Nationen ein. Der Einsatz von Gewalt oder Androhungen von Gewalt sind keine zulässigen Mittel zur Lösung internationaler Probleme. Wir sind der Meinung, dass es keine «humanitären» Kriege oder Interventionen gibt. Alle Aggressionen, angefangen bei der Nato-Aggression gegen Serbien (BRJ) von 1999 bis heute, waren unabhängig von den formellen, öffentlichen Erklärungen Eroberungskriege, einige aus geostrategischen Gründen, einige um des ökonomischen Profites willen. Wir fördern Menschenrechte in ihrer Gesamtheit gemäss der Uno-Erklärung – einschliesslich der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte und der Rechte auf Gesundheit, Arbeit und andere Menschenrechte.
Wir versuchen, unsere Ziele durch verschiedene öffentliche Debatten, Konferenzen, runde Tische, Seminare auf nationaler und internationaler Ebene zu erreichen. Das Forum arbeitet mit Vereinigungen mit ähnlichen Zielsetzungen zusammen – in Serbien, in der Region und weltweit.

Wir haben einige sehr interessante Bücher gesehen, die das Belgrade Forum herausgegeben hat. Wie schaffen Sie es, Ihre Publikationstätigkeit aufrechtzuerhalten?

Das Forum hat etwa 70 Bücher zu verschiedenen nationalen und internationalen Themen veröffentlicht, über Entwicklungspolitik unter Bedingungen einer Krise, über den Status von Kosovo und Metochien und das Haager Tribunal zur Nato-Politik auf dem Balkan, über die Aussenpolitik Serbiens, den internationalen Terrorismus und zur Rolle der Intellektuellen. Einige unserer Bücher sind in vielen Ländern auf allen Kontinenten verbreitet worden. Das ist zum Beispiel der Fall mit dem Buch «Nato-Aggression – the Twilight of the West». Auf Grund des Mangels an Mitteln sind leider nur wenige unserer Bücher in anderen Sprachen erschienen.
Allein im letzten Monat haben wir drei neue Bücher publiziert – eines ist dem grossen serbischen Philosophen und Mitglied der Akademie Mihailo Markovic gewidmet, der einer der Mitbegründer des Belgrade Forums war; das zweite trägt den Titel «Von Nürnberg nach Den Haag» und das dritte «Von der Aggression zur Sezession».* Die Präsentation der Bücher in verschiedenen Städten Serbiens fand erhebliche Beachtung.
Alle unsere Aktivitäten, auch das Schreiben und Publizieren, beruhen auf Freiwilligenarbeit. Wir hatten nie und haben auch heute keine einzige Person, die für die Arbeit im Rahmen des Forums bezahlt wird. Mitgliederbeiträge und Spenden, vor allem aus der serbischen Diaspora, sind die Haupteinnahmequellen des Forums.

Sie haben die Förderung des Friedens als eines der Kernanliegen genannt. Aber die Völker Ihrer Region waren Opfer von Kriegen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Das ist wahr. Die Völker des ehemaligen Jugoslawien haben immens gelitten, zuerst unter den Bürgerkriegen in Bosnien und Kroatien (von 1992 bis 1995), dann unter der militärischen Nato-Aggression (1999), unter den Sanktionen und der Isolation und so weiter. Ein grosser Teil von ihnen leidet heute noch. Bedenken Sie zum Beispiel das Leben von nahezu einer halben Million von Flüchtlingen und Vertriebenen, die allein schon in Serbien leben, denen nicht gestattet ist, in ihre Häuser in Kroatien oder in Kosovo und Metochien zurückzukehren. Die Konsequenzen sind noch immer schmerzhaft und werden das noch lange in die Zukunft hinein sein. Was soll man zu den Folgen der Kassetten-Bomben und den Geschossen mit abgereichertem Uran sagen, welche die Nato 1999 einsetzte und die täglich Menschenleben fordern und das noch für Jahrhunderte tun werden. Die Geschichte wird den Beweis erbringen, dass die Völker des ehemaligen Jugoslawiens die Opfer des Konzepts der sogenannten Neuen Weltordnung gewesen sind, die in Wirklichkeit auf Herrschaft und Ausbeutung beruht.

Meinen Sie, dass nicht lokale Faktoren, sondern solche aus dem Ausland für das Auseinanderbrechen von Jugoslawien verantwortlich sind?

Man darf den Einfluss der Einheimischen nicht ausser acht lassen, sie tragen natürlich ihre Verantwortung dafür, dass sie nicht zu einem Kompromiss bereit waren. Aber die vorherrschenden Analysen scheinen der negativen Rolle von externen Faktoren nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Wir haben heute genügend Beweise dafür, dass gewisse europäische Mächte schon 1976 und 1977 Pläne hatten, wie das Territorium der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien SFRJ «neu geordnet» werden sollte, mit anderen Worten, wie man es teilen oder in Bruchstücke zerlegen könnte, damit es ihren eigenen Interessen dienlich ist.
Nach Titos Tod hatte man in verschiedenen jugoslawischen Republiken dem Nationalismus und dem Separatismus Vorschub geleistet, aber auch den Separatismus und Terrorismus in der serbischen Provinz Kosovo und Metochien politisch, finanziell, logistisch und propagandamässig unterstützt. Später waren gewisse mächtige Länder in die Bürgerkriege verwickelt, indem sie die eine gegen die andere Seite unterstützten. Diese Länder haben die Abspaltung von Slowenien und Kroatien geradezu offen unterstützt und Kroatien und Bosnien sogar während des Waffenembargos der Uno mit Waffen versorgt, das Hereinkommen von Söldnern, darunter auch Mudschaheddin, angeregt und erleichtert. Andererseits standen Serbien und Montenegro unter Isolation, Sanktionen und Stigmatisierung. Man behandelte sie so, als wären sie die allein Verantwortlichen für die Bürgerkriege. Das beruhte nicht auf Fakten und war auch nicht hilfreich, um das Feuer zu löschen.
Die Folgen?
Anstelle eines Staates gibt es nun deren sechs, die wirtschaftlich nicht tragfähig sind, Marionettenstaaten, und einen siebten, dem das bevorsteht. 18 Regierungen1, sechs Armeen, sechs diplomatische Dienste usw. Die Auslandverschuldung, die sich 1990 für die gesamte SFRJ auf 13,5 Milliarden belief, stieg für die sechs ehemaligen jugoslawischen Republiken bis 2012 auf rund 200 Milliarden Euro! Einige von ihnen wurden finanziell versklavt. Wer hat von alldem profitiert? Bis 1990 gab es in der Region nicht eine einzige ausländische Militärbasis. Heute existiert eine Reihe ausländischer Basen, vor allem der USA, wobei Camp Bondsteel die grösste in Europa ist.2 Um was zu tun? Um wem zu dienen? Nahezu 18 Jahre nach dem Abkommen von Dayton ist Bosnien nicht funktionsfähig; die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (FYROM, Former Yugoslaw Republic of Macedonia) ist zehn Jahre nach dem Rahmenabkommen von Ohrid nicht funktionsfähig und weiterhin mit tiefgreifenden ethnischen Spaltungen und Spannungen konfrontiert. Der Status von Kosovo und Metochien ist auch 14 Jahre nach der Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrates noch ungelöst. Sali Berisha von Tirana und Hashim Thaci in Pristina plädieren öffentlich für die Bildung eines sogenannten Grossalbanien. Weitere brennende Probleme wie eine Arbeitslosigkeit, die zwischen 30 und 70 Prozent liegt, Armut, Hunderttausende von Flüchtlingen und Vertriebenen, internationale organisierte Kriminalität, darunter der Handel mit menschlichen Organen, Drogen, Waffen und Immigranten, machen das Bild von Jugoslawien düster und unsicher.
Wer also hat wirklich von der Fragmentierung Jugoslawiens profitiert?

Sie haben die Nato-Intervention erwähnt. Wie sehen Sie das heute, 14 Jahre danach?

Meine Auffassung hat sich nicht geändert. Das war illegal, kriminell und ein unmoralischer Angriff auf einen souveränen europäischen Staat. Illegal, weil er alle grundlegenden Prinzipien des Völkerrechtes, auch der Uno-Charta, der Schlussakte von Helsinki und viele internationale Konventionen verletzte. Er wurde ohne Mandat des Uno-Sicherheitsrates geführt. Kriminell, weil er sich vor allem gegen Zivilpersonen und gegen die zivile Infrastruktur richtete und verbotene Waffen wie chemische Waffen, Kassettenbomben und Geschosse mit abgereichertem Uran einsetzte. Unmoralisch, weil er auf falschen Vorwänden und Unwahrheiten basierte. Die Führer der Nato sind vor allem anderen für die Tötung von nahezu 4000 und die Verletzung von rund 10 000 Personen verantwortlich, von denen zwei Drittel Zivilpersonen waren. Der direkte materielle Schaden belief sich auf über 100 Milliarden US-Dollar. Die Nato-Aggression hat nichts gelöst, sondern viele neue Probleme hervorgerufen. Sie war ein Eroberungskrieg und keine «humanitäre Intervention».

Können Sie das etwas präzisieren?

Ich habe schon einige direkte Konsequenzen erwähnt. Im weiteren Sinne sollte man beachten, dass die Nato-Aggression einen strategischen Wandel im Wesen des Bündnisses markiert: Sie gab die Verteidigungspolitik auf und führte eine offensive (aggressive) Politik ein, wobei sie sich selbst dazu autorisierte, jederzeit an jedem Punkt auf dem Globus zu intervenieren. Die Uno, besonders der Uno-Sicherheitsrat, wurde ausgeschaltet; internationales Recht und Gerechtigkeit missachtet.3
Dies war ein lange vorbereiteter erster Krieg auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war eine Demonstration der US-Herrschaft in Europa, die Expansion nach Osten, eine Rechtfertigung für die Nato-Ausgaben selbst nach der Auflösung des Warschauer Paktes und ein Vorläufer für zukünftige Interventionen (Afghanistan, Irak, Libyen).
Es war ein Krieg, der von einer nicht-europäischen Macht aufgezwungen und gesteuert wurde, mit der Folge, dass sie für lange Zeit auf europäischem Boden bleiben wird.
Die Aggression hat auch eine strategische Veränderung in der Politik Deutschlands markiert, die es seit dem Zweiten Weltkrieg angenommen hatte. Indem es sich aktiv an der Nato-Aggression gegen Serbien (BRJ) beteiligte, wich Deutschland von seiner eigenen Verfassung ab und machte die Tür weit auf für eine Militarisierung und dafür, eine Rolle in Gefechten weitab von seinem Territorium zu spielen.
Heute haben wir auf europäischem Boden mehr Militärbasen als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Nach der Nato-Aggression gegen Serbien (BRJ) begannen die Militärbasen aus dem Boden zu schiessen. Wie soll man sich die Verbreitung von Demokratie auf dem ganzen Kontinent und die gleichzeitige Ausbreitung von Militärbasen erklären? Ich habe bisher keine überzeugende Erklärung gehört. Etwas scheint hier nicht in Ordnung zu sein.

Und was ist Ihre Meinung über die Zukunft Bosniens?

Bosnien und Herzegowina bestand als eine der sechs Republiken der SFRJ, die auf der verfassungsmässigen Gleichheit von drei Völkern beruhte, von denen jedes das Veto-Recht hatte – den Muslimen, den Serben und den Kroaten. Diesbezüglich wurde es als «Klein-Jugoslawien» gesehen. Als 1992 der Verfassungsgrundsatz des Konsenses verletzt wurde, indem die Muslime und Kroaten sich für die Abspaltung aussprachen und die Option der Serben, innerhalb Jugoslawiens zu bleiben, ignorierten, brach Bürgerkrieg aus. Das Friedensabkommen von Dayton war nur deshalb ein Erfolg, weil es erneut das Prinzip der Gleichheit der drei konstituierenden Völker, die Gleichheit der zwei Einheiten (der muslimisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska) und das Konsensprinzip bestätigte.4 Diese grundlegenden Prinzipien wurden in der Verfassung verankert, die einen integralen Bestandteil des Abkommens darstellt.
Die Hauptquelle der gegenwärtigen Krise liegt im Bestreben der muslimischen Führer in Sarajevo, das Konsensprinzip abzuschaffen und einen Einheitsstaat unter ihrer Vorherrschaft zu schaffen. Zusätzlich möchten sie auch die Teilung des Territoriums verändern, das im Dayton-Abkommen garantiert wird und laut dem die muslimisch-kroatische Föderation 51 Prozent und die Republika Srpska 49 Prozent des gesamten Territoriums kontrollieren. Um das Problem noch schwieriger zu machen, geniessen die Muslime für ihre Forderungen, die offensichtlich den Vereinbarungen von Dayton zuwiderlaufen, weiterhin Unterstützung von einigen Machtzentren, in erster Linie von Washington und Berlin. Warum diese die Republika Srpska weiter schwächen und die Muslime stärken wollen, möchte ich lieber nicht kommentieren. Diese Zentren setzen sogar die serbische Führung unter Druck, sie solle die Führer in Banja Luka disziplinieren, damit diese gegen ihre international garantierten Interessen eine Revision von Dayton und der Verfassung akzeptieren. Serbien hat als Bürge der Abkommen von Dayton erstens keine Macht, um der Führung der Republika Srpska irgendetwas aufzuzwingen, und zweitens liegt es auch nicht im Interesse Serbiens, die Republika Srpska zu schwächen und damit interne Spannungen und eine neue Spirale ethnischer Spannungen oder gar Kämpfe in seiner eigenen Nachbarschaft zu provozieren.
Ich glaube, man sollte es Bosnien und Herzegowina selber überlassen, politische Lösungen zu finden, die den Interessen der drei gleichberechtigten konstituierenden Völker und den zwei gleichberechtigten Einheiten entsprechen. Das Dayton-Abkommen ist nicht perfekt. Aber es gibt kaum einen besseren Kompromiss als das Abkommen von Dayton. Brüssel behauptet, eine Zentralisierung der Macht in Sarajevo würde anscheinend die Effizienz der Staatsverwaltung erhöhen. Die Autoren dieser Ansicht scheinen zu übersehen, dass es das Prinzip von Konsens und Dezentralisierung war, das zur Wiedererrichtung von Frieden, zur Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität geführt hatte und für ein Gefühl von Freiheit und Demokratie sorgte. Schliesslich meine ich, dass das Büro des Hohen Repäsentanten nach 17 Jahren, in denen es gleichzeitig gesetzgebende, strafverfolgende und richterliche Aufgaben ausübte, ein Anachronismus geworden ist und aufgelöst werden sollte. Bosnien und Herzegowina ist das einzige Mitglied der Uno (und sogar Mitglied des Sicherheitsrates), der OSZE und anderer Organisationen, in denen der Hohe Repräsentant Gesetze erlässt und  Präsidenten, Premierminister und Minister entlässt.
Serbien, ein kleines friedliebendes Land, das weder eine imperiale Geschichte noch imperiale Ambitionen hat, sollte unserer Meinung nach heute ein neutrales Land bleiben, so etwas wie die Schweiz. Was die Menschenrechte betrifft, stehen wir für das Konzept der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 ein, die den Respekt aller Menschenrechte verlangt, auch das der Kooperation.

Meine Kollegen von Zeit-Fragen sagten einmal, Serbien sei ein Stachel im Gewissen der westlichen Welt. Was ist Ihre Meinung dazu?

Was ich sagen kann, ist, dass Führer und ­Politiker gewisser europäischer Länder während der jugoslawischen und kosovarischen Krise weit davon entfernt waren, neutral, konstruktiv oder moralisch zu sein. Einige von ihnen haben die Nato-Aggression aktiv befürwortet und sich daran beteiligt, was ernsthafte und langanhaltende Probleme für ganz Europa hinterliess. Gemeinsam mit den USA wussten sie jedenfalls um die Finanzierung, das Training und die Bewaffnung albanischer Terroristen und Separatisten in Kosovo und Metochien von seiten ihrer Staaten. Dokumente des Uno-Sicherheitsrates bestätigen das.5 Ich bin vielleicht nicht ganz unbefangen, aber ich bin sicher aufrichtig. Meiner Meinung nach gibt es wenig, worauf Europa bezüglich seiner Rolle gegenüber Serbien und den Serben in den letzten 20 Jahren stolz sein könnte. Ich war überrascht über das Mass an Verfälschungen, Doppelstandards und unmoralischen Stellungnahmen gewisser europäischer Politiker, die europäische Werte und Zivilisation vertreten. Und es wäre es nicht wert, heute darüber zu sprechen, wenn man die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hätte. Leider führen neue Politiker dieser Länder die gleiche Politik und die gleichen unehrlichen Methoden gegenüber Serbien weiter.
Regierungen führender westlicher Länder initiierten eine abscheuliche anti-serbische Propagandakampagne, die auf Vorurteilen, verlogenen Erfindungen und sogar ordinären Lügen basierte. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an die Erfindung des angeblichen «Hufeisen-Plans» durch den deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping6. Das sogenannte Massaker an Zivilisten von Raçak, das als Rechtfertigung für den Beginn der militärischen Aggression diente, erwies sich ebenfalls als falsch. Der Bericht mit den Befunden des internationalen forensischen Expertenteams unter der Leitung der finnischen Ärztin Helen Ranta, die unter der Schirmherrschaft der EU handelte, ist nie publiziert worden. Scheinbar ist er irgendwo in Brüssel verlorengegangen!7

Welche Lehren aus der Nato-Aggression ergeben sich für Sie und die Welt?

Die Nato-Aggression gegen die Bundesrepublik Jugoslawien von 1999 war ein Modell der neuen Eroberungskriege unter dem Schlagwort der «humanitären Intervention». Das war ein Eroberungskrieg, um Serbien seine Provinz Kosovo und Metochien wegzunehmen und dort aus strategischen Gründen US-Truppen zu stationieren. Dies war ein Präzedenzfall, dem weitere folgten. Meiner Meinung nach ist es heute genauso inakzeptabel, das einzig auf der Doktrin Washingtons basierende kapitalistische Gesellschaftssystem zu exportieren, wie es in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts der Export des sozialistischen Systems, das auf der Doktrin Moskaus beruhte, war. Die Freiheit der Wahl sollte das souveräne Recht eines jeden Landes sein. Es ist nicht recht, Völker zu spalten, als hätte Gott jemandem das Recht eingeräumt, darüber zu entscheiden, was für alle anderen Nationen der Welt gut ist. Die Geschichte hat zumindest uns in Europa gelehrt, dass eine solche Ideologie eine Quelle grosser Gefahr ist.

Wo sehen Sie eine Lösung für die Kosovo-Frage?

Die Probleme von Kosovo und Metochien sind jahrhundertealt und tief verwurzelt. Die Provinz ist die Geburtsstätte des serbischen Staates, der serbischen Kultur, Religion und seiner nationalen Identität. Noch heute findet man hier etwa 1300 mittelalterliche Klöster und Kirchen, von denen die Unesco einige zum Weltkulturerbe erklärt hat. Mehr als 150 davon sind von Vandalen und Extremisten zerstört worden. Es wäre eine grobe Vereinfachung zu sagen, dass die grundlegenden Probleme im Bereich der Menschenrechte der Albaner gelegen haben. Um die wesentlichen Probleme zu lösen, die, wie ich glaube, im territorialen Expansionismus der Albaner liegen, die darin von den westlichen Ländern – in erster Linie den USA, Deutschland und Grossbritannien – unterstützt werden, brauchen alle politischen Akteure Weisheit, langfristige Betrachtung und Geduld: Qualitäten, an denen es erstaunlich mangelt.
Ich glaube noch immer an eine Kompromisslösung auf der Grundlage der Resolution des Uno-Sicherheitsrates 1244 vom 10. Juni 1999. Diese Resolution hat, so wie eine Reihe von anderen Uno-Sicherheitsrats-Resolutionen, die ihr vorangingen, wiederholt die Souveränität und die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien BRJ (abgelöst von Serbien) und Kosovo und Metochien eine substantielle Autonomie innerhalb der BRJ/Serbiens garantiert. Inzwischen sind sehr viele gravierende Fehler gemacht worden, in erster Linie von der sogenannten internationalen Gemeinschaft, einschliesslich der EU, und dann auch von den serbischen Behörden. Diese Fehler können generell als schwerwiegende Abweichung von der Uno-Sicherheitsrats-Resolution 1244 zusammengefasst werden. Im März 2008 erklärte die albanische Führung in Pristina die illegale, einseitige Sezession der Provinz von Serbien und rief die sogenannte Republik Kosovo aus. Obwohl die Provinz auch heute noch unter dem Mandat des Uno-Sicherheitsrates steht, hat die Uno nicht reagiert. Die USA, Deutschland, die Türkei und Grossbritannien haben die Abspaltung fast sofort anerkannt. Bis heute haben 22 von 27 EU-Mitgliedern8  sich in der Folge angeschlossen. Serbien hat die Abspaltung von 17 Prozent seines Territoriums nicht anerkannt, und ich denke, es wird sie auch nicht anerkennen. Die meisten Uno-Mitglieder, darunter zwei der fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates, Russland und China, haben sie nicht anerkannt.
Letztes Jahr hat unter Schirmherrschaft der EU zwischen Vertretern von Belgrad und Pristina der Dialog über einige konkrete Probleme begonnen, die das tägliche Leben der Bürger betreffen. Das ist vielleicht gut, vorausgesetzt, dass es nicht das Hauptproblem negativ präjudiziert – den Status der Provinz, wie er in der Uno-Sicherheitsrat-Resolution 1244 vorgesehen ist. Ich persönlich möchte, dass der Dialog einen Zeitplan für die freie und sichere Rückkehr von rund 250 000 Serben und anderen Nicht-Albanern in ihre Häuser hervorbringt, die unter miserablen Bedingungen in verschiedenen Städten von Serbien und Montenegro leben. Bedauerlicherweise ist diese Frage bisher nicht auf der Tagesordnung, zum Teil auf Grund des fehlenden Interesses von Pristina, zum Teil auf Grund der Politik der doppelten Standards des Westens.
Eine mit Gewalt oder durch Erpressung der serbischen Regierung durchgesetzte Lösung ist nicht lebensfähig. Ich glaube nicht, dass der sogenannte Deal, den gewisse westliche Länder befürworten – Territorium (Kosovo) gegen EU-Mitgliedschaft (von Serbien) und mehr ausländische Investitionen – und der in Anbetracht des Scherbenhaufens der serbischen Wirtschaft scheinbar logisch ist, funktionieren wird. Er wäre nicht fair, nicht ausgewogen. Er wäre für die Serben nicht akzeptabel, wenn man ihre Geschichte, ihre Kultur und ihren Stolz kennt.

Welche Beziehung besteht zwischen Serbien und der EU?

Die EU ist traditionellerweise der wichtigste Wirtschaftspartner Serbiens. Die historischen, sozialen und kulturellen Bindungen bleiben stark. Hunderttausende von serbischen Bürgern und ihre Nachkommen arbeiten und leben in EU-Mitgliedsländern. Serbien ist Kandidat für die EU-Mitgliedschaft. Das widerspiegelt sich in einer Politik von «Zuckerbrot und Peitsche» gegenüber Serbien: in einer endlosen Liste von Bedingungen, die man bisher keinem Land auferlegt hat und auch heute keinem anderen Land, das Kandidat ist, auferlegt. Die EU erwartet, dass Serbien «die Beziehungen zu Kosovo normalisiert». Wenn Belgrad reagiert und sagt, dass es Kosovo nie anerkennen werde, reagieren die Kommissare in Brüssel damit, dass das «noch nicht auf der Agenda» stehe, dass die EU «nur» das System des Integrierten Grenzschutzes (Integrated Border Management IBM) an den Grenzen zu Kosovo, die Unterzeichnung einer Vereinbarung über gutnachbarschaftliche Beziehungen, den Austausch von Botschaftern verlange, sodann, dass Serbien die Uno-Mitgliedschaft des Kosovo nicht behindert und dergleichen! Stellen Sie sich das Ausmass an Heuchelei vor. Sie verlangen keine diplomatischen Noten oder irgendwelche schriftlichen Stellungnahmen über eine Anerkennung, aber sie verlangen in der Tat Beziehungen, die denen von souveränen Staaten gleichkommen!
Ich unterstütze eine enge Kooperation zwischen Serbien und der EU in allen Bereichen von gegenseitigem Interesse, ohne irgendwelche Hindernisse: den freien Verkehr von Gütern, Kapital, Personen und Informationen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die EU zur Zeit Serbien nicht als souveränen Partner behandelt, sollte Serbien eine Politik der guten Nachbarschaft zur EU annehmen und die gegenwärtige Politik auf Eis legen, welche die EU-Mitgliedschaft als einzige Alternative definiert. Es kann nicht im besten Interesse Serbiens sein, mehr für weniger wegzugeben. Offenheit und Zusammenarbeit ohne administrative Hürden und gut nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Serbien und der EU wären ein ganz vernünftiger Ansatz für die absehbare Zukunft.

Wie können wir in Deutschland, der Schweiz oder anderen europäischen Ländern dazu beitragen, dass es Ihrem Volk in jeder Beziehung besser geht?

Der beste Weg, um nicht nur Serbien, sondern die Verständigung in Europa und die Rückkehr zu den wahren Werten unserer Zivilisation zu unterstützen, besteht darin, immer die Wahrheit zu verteidigen und alle Formen von Verzerrungen, Halbwahrheiten und Unmoral abzuwehren. Serbien und die serbische Nation sind in ihrer ganzen Geschichte immer fester Bestandteil Europas, seiner Kultur, seiner Entwicklung und Zivilisation gewesen; das ist heute genauso, und ich glaube, das wird auch in Zukunft so bleiben. Völker haben tiefe Wurzeln und eine Gestalt, die sich nicht über Nacht ändert. Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoll, wenn jede Voreingenommenheit und die einseitigen Charakterisierungen in der öffentlichen Herangehensweise an Serbien und die Serben der jüngsten Vergangenheit durch eine ausgewogenere und unparteiischere Sicht ersetzt würden.

Wir haben gehört, dass das Belgrade Forum im nächsten März Gastgeber einer wichtigen internationalen Konferenz in Belgrad sein wird.

Das Forum und einige weitere unabhängige und unvoreingenommene Vereinigungen in Serbien planen eine internationale Konferenz unter dem Titel «Aggression, Militarisierung und Weltkrise», die am 22. und 23. März 2014 in Belgrad stattfinden wird. Diese Konferenz und weitere Begleitveranstaltungen werden den 15. Jahrestag des Beginns der Nato-Aggression gegen Serbien (BRJ) markieren und den Opfern der Aggression die Ehre erweisen. Wir planen, prominente Wissenschaftler und Intellektuelle aus europäischen und anderen Ländern einzuladen, die sich mit den brennenden Fragen des militärischen Interventionismus, der Erhöhung des Militärbudgets, der Militarisierung der politischen Entscheidungsfindung und der Krise in der Welt befassen, die unserer Ansicht nach nicht nur eine finanzielle und wirtschaftliche, sondern auch eine Krise der internationalen Weltordnung ist.

Herr Jovanovic, vielen Dank für das Gespräch.    •

1    Allein Bosnien und Herzegowina haben eine Zentralregierung, zwei Regierungen für die jeweiligen Einheiten und 10 Kantonsregierungen in der Föderation von Bosnien und Herzegowina.
2    «Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.» Brief von Willy Wimmer an Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 2. Mai 2000.
3    «Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt.» Brief von Willy Wimmer an Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 2. Mai 2000.
4    Das Abkommen von Dayton errichtete gleichzeitig zwei Einheiten – die Föderation Bosnien und Herzegowina (Muslime und Kroaten) und die Republika Srpska – und legte alle wesentlichen verfassungsmässigen Rechte und Verantwortlichkeiten in ihre Hände.
5    Der Uno-Sicherheitsrat «beschliesst, dass alle Staaten […] Bewaffnung und Training für terroristische Aktivitäten in diesem Gebiet unterbinden sollen» (Kosovo und Metochien, Anmerkung des Autors); Resolution des Uno-Sicherheitsrates Nr. 1160 vom 31. März 1998. Und der Uno-Sicherheitsrat «verlangt, dass alle Staaten alle Mittel in Übereinstimmung mit ihren nationalen Gesetzen und dem relevanten internationalen Recht einsetzen, um zu verhindern, dass auf ihren Territorien gesammelte Mittel auf eine Art verwendet werden, die der Resolution 1160 (1998) widerspricht»; Resolution des Uno-Sicherheitsrates 1199 vom 23. September 1998.
6    Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping präsentierte an einer Pressekonferenz vom 7. April 1999 den angeblichen Plan der jugoslawischen Streitkräfte für eine ethnische Säuberung der Albaner in Kosovo und Metochien; die Existenz dieses Planes wurde vom deutschen Geheimdienst nicht bestätigt, und das Ganze stellte sich später als falsch heraus.
7    Etwas Ähnliches ereignete sich auch mit dem Bericht von Yasushi Akashi, des Uno-Sonderbeauftragten für Bosnien und Herzegowina vom Mai 1992. Der Bericht vermerkte unter anderem zwei wichtige Tatsachen: Erstens, dass der grösste Teil der jugoslawischen Armee abgezogen worden war und dass zweitens der Abzug der kroatischen Armee aus Bosnien nicht stattgefunden hat. Der Bericht Akashis wurde allerdings unter den Mitgliedern des Uno-Sicherheitsrates solange nicht verteilt, bis am 30. Mai 1992 mit der Resolution des Uno-Sicherheitsrates Nr. 757 die schwersten Sanktionen gegen die BRJ verhängt worden waren. (Vgl. Generalsekretär Bericht S24049 vom 30. Mai 1992, Absatz 6 und 9.)
8    Spanien, Rumänien, die Slowakische Republik, Griechenland und Zypern haben sie nicht anerkannt.

* «Von Nürnberg nach Den Haag»
ISBN 978-86-83965-7-3 [in serbischer Sprache]
«Von der Aggression zur Sezession»
ISBN 978-86-83965-9-7 [in serbischer Sprache]

«Im weiteren Sinne sollte man beachten, dass die Nato-Aggression einen strategischen Wandel im Wesen des Bündnisses markiert: Sie gab die Verteidigungspolitik auf und führte eine offensive (aggressive) Politik ein, wobei sie sich selbst dazu autorisierte, jederzeit an jedem Punkt auf dem Globus zu intervenieren. Die Uno, besonders der Uno-Sicherheitsrat, wurde ausgeschaltet; internationales Recht und Gerechtigkeit missachtet.»

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