Die Zukunft des Mittleren Ostens und Afghanistans aus der Sicht von General McChrystal

Die Zukunft des Mittleren Ostens und Afghanistans aus der Sicht von General McChrystal

Ein Spiegelbild der einfachen Sichtweise vieler Amerikaner über die Weltlage

von Prof. Dr. Albert A. Stahel

Auf Einladung der Notenstein Privatbank AG hielt der ehemalige Afghanistan-Kommandeur, US-General Stanley McChrystal, am 3. Mai im Dolder Grand ein Referat zum Thema «Scenarios for an Unpredictable World – Views from a Military Leader». Nach einer Vorstellung von sich selbst mit einem Film stellte der General seinen Ansatz für die Entwicklung von Szenarien vor.
Zuerst sind nach McChrys­tal die wichtigsten Faktoren, die ein Szenario bestimmen, zu isolieren und zu gewichten. Auf dieser Grundlage entwickelt er die Logik und den Inhalt eines Szenarios. Dessen Erstellung verlange einen höheren Abstraktionsgrad als Computer-Simulationen und analytische Modelle – so McChrystal. Dazu die Bemerkung des aufmerksamen Zuhörers: Szenarien und analytische Modelle dienen in der Regel als Grundlage für die Entwicklung von Computer-Simulationen.
Nach einer Analyse des Aufstands im Irak infolge der Besetzung durch die USA und ihrer Koalition der Willigen formulierte McChrystal sechs Punkte der «Lessons learned» aus dem «Debakel». Dazu gehöre die Tatsache, dass man sich in einem Krieg als Entscheidungsträger auf den unwahrscheinlichsten Fall konzentrieren muss und sich nicht durch die Angst lähmen lassen darf. Entsprechend der persönlichen Erfahrungen von McChrystal im Irak und in Afghanistan beschränkte sich die folgende Beschreibung der Szenarien auf den Mittleren Osten, die der General als die Region mit den gröss­ten Herausforderungen für die Welt in den nächsten Jahren bezeichnete. Dabei konzentrierte er sich insbesondere auf Ägypten und die Bedrohung von Israel durch den «Arabischen Frühling».
Die strategische Lage des Mittleren Ostens werde in der Zukunft zunehmend durch die Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten bestimmt sein, mutmasste er.
Folgende drei Szenarien und ihre Auswirkungen wurden von McChrystal kurz skizziert:
–    Hyper-Contamination of the «Arab Spring»
–    Iran obtain nuclear weapons
–    Regime change in Syria.
Entsprechend dem ersten Szenario müsse mit einer Ausbreitung und Einflussnahme der Muslimbrüder auf Jordanien und Saudi-Arabien und einer Destabilisierung des gesamten Mittleren Ostens gerechnet werden. Iran würde diese Situation für sich ausnützen. Israel wäre durch eine solche Entwicklung in hohem Masse gefährdet.
Im zweiten Szenario würde Israel durch die Nuklearisierung Irans ernsthaft bedroht. Wie die USA in einer solchen Situation ihre strategischen Interessen im Mittleren Osten durchsetzen würden, sei noch ungewiss.
Gemäss dem dritten Szenario würden durch einen Regime change in Syrien Libanon, Jordanien und der Irak in den Abgrund dieser Entwicklung gezogen und damit destabilisiert werden.
Am Ende der Veranstaltung wurde dem General die Frage gestellt, wie er die zukünftige Lage in Afghanistan nach 2014 beurteile. In wenigen Worten bemerkte er dazu, dass Afghanistan sich seit 1979 im Kriegszustand befinde, damals vermögende Afghanen aus dem Land geflüchtet und die Taliban heute nicht populär seien, der Einfluss von Pakistan auf Afghanistan sehr wichtig und das Land aber stark fraktioniert sei.
Zu den drei Szenarien ist zu bemerken, dass sie eine typische Beurteilung des Mittleren Ostens aus der offiziellen Sicht der USA darstellen. Die Tatsache, dass Obama erst durch seinen Druck auf Mubarak und die Generäle die Machtübernahme in Ägypten durch die Muslimbrüder und damit die Überführung des Mittleren Ostens in einen «Arabischen Winter» ermöglicht hat, erwähnte der General nicht. Kein Wort auch darüber, dass Israel mit seinen 200 nuklearen Gefechtsköpfen immer noch die einzige Nuklearmacht des Mittleren Ostens ist und eigentlich Iran bedroht und nicht umgekehrt. Offenbar kennt McChrystal Iran und dessen Bevölkerung nur vom Hörensagen, was im Grunde nicht erstaunlich ist, haben doch die USA mit Teheran keine diplomatischen Beziehungen. Dass der Aufstand in Syrien durch die USA und ihre Alliierten, Türkei und Saudi-Arabien, zur geopolitischen Schwächung der Machtstellung des mit Syrien verbündeten Irans erst initiiert wurde, liess der General unerwähnt.
Zu Afghanistan ist zu bemerken, dass der Krieg bereits 1978 mit den Waffenlieferungen der CIA an die Mudschahedin eingesetzt hatte. Diese Lieferungen waren auf Anweisung des damaligen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski erfolgt, der mit seiner Bear Trap die sowjetische Führung der UdSSR in eine Falle locken und damit die UdSSR durch einen Abnützungskrieg destabilisieren wollte. Offenbar hat General McChrystal nie afghanische Flüchtlingslager in Pakistan besucht, sonst würde er nicht die Behauptung aufstellen, dass 1979 insbesondere reiche Afghanen flüchteten. Selbstverständlich gab es solche, aber die Mehrheit der Flüchtlinge war mausarm und hatte im Krieg und in der Vertreibung alles verloren.
Die Falschmeldung über die Unpopularität der Taliban wird in allen US-Dokumenten über die gegenwärtige Lage in Afghanistan verbreitet. Tatsache ist, dass die Talibanführer und ihre Kämpfer sich seit der Vertreibung von Mullah Omar Ende 2001 in der durch die Ethnie der Paschtunen beherrschten Ost- und Südprovinz Afghanistans ungestört aufhalten können. Ihre Anhängerschaft ist intakt, und sie werden in diesen Provinzen nach dem Abzug der USA und der Nato wieder die Macht übernehmen. Dass das Land zwischen Nord und Süd fraktioniert ist, ist eine Tatsache. Diese Fraktionierung ist aber das Ergebnis von den Afghanen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Kolonialmacht Grossbritannien aufgezwungenen künstlichen Grenzen. Ethnien, die nicht zueinander gehörten, wurden willkürlich in ein neues Afghanistan zusammengetrieben oder von Afghanistan abgespalten, wie jene Paschtunen, die heute durch Pakistan beherrscht werden.
Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Ausführungen des durch Obama zwangsweise pensionierten Generals ableiten? Über die Entwicklung von Szenarien existieren viele Theorien. Alles ist denkbar ausser der Tatsache, dass Szenarien die Grundlage von Simulationsmodellen bilden. Zu McChrystals Szenarien ist zu bemerken, dass sie weitgehend der offiziellen US-Perspektive auf den Mittleren Osten entsprechen. Dazu gehört die stereotype Feststellung, dass Iran die eigentliche Bedrohung für Israel sei und dass Israel vor Iran geschützt werden müsse. Kein Wort darüber, dass die USA mit ihrer jahrzehntelangen Politik und Strategie, zum Beispiel Förderung von Despoten, für die gegenwärtige Entwicklung im Mittleren Osten mitverantwortlich sind.
Was die Ausführungen von McChrystal über Afghanistan betrifft, so hat der General während seiner Aufenthalte im Land entweder die Situation übersehen oder sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Anders natürlich, wenn er der offiziellen Sichtweise der Obama-Administration und ihrer Schönfärberei, die das amerikanische Gewissen über das nach dem Abzug drohende Chaos beruhigen soll, nicht widersprechen will.
Trotz der hohen Erwartungen an den Referenten müssen seine Szenarien über den Mittleren Osten und Ausführungen über Afghanistan als handgestrickt bezeichnet werden. Sie sind ein Spiegelbild der einfachen Sichtweise vieler Amerikaner über die Weltlage. Eine Sichtweise, die vor allem die Bush-Administration gepflegt hatte und die auch die Ursache für die politischen und militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan sein dürfte. •

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