Eine gute Wirtschaftsordnung fördert den Frieden und ist Sache der Bürger

Eine gute Wirtschaftsordnung fördert den Frieden und ist Sache der Bürger

Der kranke Kapitalismus und der kranke Wettbewerb in Europa müssen überwunden werden

von Karl Müller
Es wird höchste Zeit, an Grundlagen zu erinnern, auf die ganz Europa aufbauen kann. Denn mit der Vorherrschaft der Globalisierung und mit der falschen Theorie, es gäbe eine «unsichtbare Hand» entfesselter Märkte und internationaler Arbeitsteilung, die für alle gut wäre, sowie mit der gezielten Veränderung der europäischen Gesellschaften hin zu ökonomistischen Marktgesellschaften, in denen alles, was Menschen für ihr Leben und ihr Wohlbefinden benötigen und wünschen, dem Markt überlassen werden sollte, war in Vergessenheit geraten, dass Freiheit, auch wirtschaftliche Freiheit, der Gesetze und der Ordnung bedarf – und Grundlage dieser Gesetze und dieser Ordnung der am Gemeinwohl orientierte Wille der Bürger sein muss.

Die soziale Marktwirtschaft wurde ihrer Substanz beraubt

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die soziale Marktwirtschaft in fast allen Ländern Europas, die nicht zum Einflussbereich der Sowjet­union gehörten, das anerkannte Modell einer guten Wirtschaftsordnung. Jeder wusste, dass der ungezügelte Kapitalismus und der damit einhergehende Angriff auf die Bürgerlichkeit des Bürgers eine grosse Mitschuld am Erstarken des Totalitarismus und am Weltkrieg hatten.
Aber mit dem Ende des osteuropäischen Blocks und mit dem Versuch, dort einen Kapitalismus pur einzuführen, wurden auch fast alle bis dahin erfolgreichen sozialen Marktwirtschaften Westeuropas Schritt für Schritt entleert. Sie wurden ihrer personalen, an der Würde des Menschen orientierten Substanz, wonach Unternehmer und Arbeiter gleich wichtige und gleichberechtigte Partner im Arbeitsleben sind und alles Wirtschaften dem Gemeinwohl zu dienen hat, beraubt und weitgehend auf staatliche Geldleistungen für (vermeintlich) Bedürftige und eine wachsende zweischneidige Sozialbürokratie reduziert.
Insbesondere der Machtapparat der Europäischen Union und dessen Bürokratie hatten von da an den Zweck, in allen Staaten der EU einen Kapitalismus pur durchzusetzen. Die Europäische Union spielte die Rolle des Vorreiters bei der Kapitalverkehrsfreiheit und damit des heutigen durch und durch kranken Kapitalismus.
Dabei hat sich Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg nie mehr Krieg führen wollte und mehr Gerechtigkeit, eine würdige Arbeit für alle und die Sicherung der Lebensgrundlagen anstrebte, radikal verändert. Auch diejenigen, die in Westeuropa voller Idealismus nach einem geeinten Europa strebten und nur deshalb den Weg bis hin zur EU unterstützten, aber nicht den Plan für ein zentralistisches und bürokratisches Monnet-Europa im Interesse des grossen Kapitals teilten, müssen sich heute bitter getäuscht sehen. Viele wünschten sich ein friedlich kooperierendes «Europa der Vaterländer», so wie es dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle vorschwebte. Davon ist in der real existierenden EU nichts geblieben.

Vom «Direktorium der Grossen» zur deutschen Führungsmacht?

Der Aussenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, sagte schon 2009 in einem Interview, in der Europäischen Union seien die Staaten nicht mehr gleichberechtigt. Vielmehr wolle ein «Direktorium der Grossen und ihrer Vasallen» den Ton angeben. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, begrüsste den Parteitag der CDU im Jahr 2011 mit den Worten: «Jetzt wird in Europa Deutsch gesprochen.»
Das sind nur zwei von vielen Signalen dafür, dass sich die Gewichte innerhalb der EU verschoben haben. Die Chimäre von einer Union gleichberechtigter Staaten wird nun auch öffentlich nur noch selten gehandelt. Statt dessen hat sich Deutschland zur europäischen Führungsmacht aufgeschwungen.
Spätestens als die griechische Staatsschuldenkrise im Jahr 2010 offenbar wurde, hat auch die Fassade des «Friedenprojektes» EU deutliche Risse bekommen. Die Töne zwischen den Staaten der EU sind schärfer geworden, alte Vorurteile werden wieder bedient. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im Jahr 2012 wirkte von daher wie eine Groteske.
Der Euro, von Helmut Kohl noch unterstützt, um so eine politische Union innerhalb der EU zu erzwingen, hat EU-Europa tief gespalten. Aus der derzeitigen wirtschaftlichen Vormachtstellung Deutschlands droht ein politischer Hegemonialanspruch zugunsten ganz spezieller politischer und wirtschaftlicher Interessen zu werden.

Vormachtstreben in Europa mittels Wirtschaftsmacht

Joachim Starbatty hat in seinem neuen Buch «Tatort Euro. Bürger, schützt das Recht, die Demokratie und euer Vermögen» (2013, ISBN 978-3-944305-03-5) die katastrophale Situation in Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal und Spanien geschildert, die am Tropf des ESM oder eines anderen sogenannten Rettungsschirms hängen – nicht zuletzt wegen der «Rettung».
Die wirtschaftlichen Erfolge der Unternehmen des einen Landes kommen schon lange nicht mehr allen zugute. Zum Beispiel: Die anhaltend hohen deutschen Exportüberschüsse sind mit einer zunehmenden Verschuldung der importierenden Länder verbunden. Diese horrenden Schulden können diese Länder nicht mehr zurückzahlen. Statt dessen geraten sie immer tiefer in die Schuldknechtschaft, das heisst in die Abhängigkeit von ihren Kreditgebern, von immer neuen Umschuldungsbedingungen und vom jeweiligen Zins. Und im Fall der kompletten Zahlungsunfähigkeit müssen für diese Schulden – das ist besonders grotesk – auch noch die deutschen Steuerzahler haften.
Während viele Länder der Europäischen Union unter einer horrenden Arbeitslosigkeit, insbesondere der jungen Menschen, leiden und aus der Rezession und Depression nicht mehr herauskommen, werben deutsche Unternehmen und wirbt die deutsche Politik hochqualifizierte und in ihren Heimatländern gut ausgebildete junge Fachkräfte ab. Ein Lehrer an der deutschen Schule in Rom berichtet, dass immer mehr junge Italiener die deutsche Schule besuchen – um Deutsch zu lernen und nach Deutschland auswandern zu können. Zugleich wüchsen die Vorbehalte gegen die deutsche Politik von Tag zu Tag. Ähnliches weiss man aus Spanien, Portugal und Griechenland. Zig Tausende junge, gut ausgebildete Fachkräfte haben in den vergangenen Jahren diese Länder verlassen und sind nach Deutschland eingewandert. Soll das die «Lösung» des deutschen «demographischen Problems» sein? Dem neuen EU-Land Kroatien – auch hier sind mehr als 50 Prozent der jungen Leute unter 25 Jahren arbeitslos – werden diese nach Arbeit suchenden jungen Menschen nun noch leichter den Rücken kehren können.

Der «neue» Kapitalismus

Zugleich kommt in den sogenannten Krisenstaaten ein Kapitalismus zum Zuge, der ganz und gar der Ideologie der Globalisierung folgt. Ein Beispiel dafür ist Griechenland. Während es der Bevölkerung nun schon im vierten Jahr in Folge immer nur schlechter geht, preisen dortige junge Unternehmer eine ganz an der Globalisierung ausgerichtete neue Wirtschaftsordnung an.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat am 18. September 2013 einige dieser jungen griechischen Unternehmer ausführlich zu Wort kommen lassen und die Seiten sinnigerweise mit «Die griechische Utopie» betitelt. Die Redakteure der Zeitung sind voll der anerkennenden Worte für die neue Form des griechischen Kapitalismus, sprechen davon, ihr Artikel wolle «auf das Griechenland-Bashing mit der Vernunft von Griechen antworten». Die jungen Griechen versuchten in ihrem Land das Gleiche, «was die Nachkriegsdeutschen in ihrem Land taten».
Bei der Lektüre der immerhin vier Zeitungsseiten erkennt man jedoch die Grundzüge einer neuen Wirtschaftsordnung, die nicht mehr den Bedarf an Gütern und Dienstleistungen der Griechen, also des Landes, ins Zentrum stellt, sondern die Nachfrage der Begüterten dieser Welt: Nobel-Tourismus, edle Spezialprodukte der Landwirtschaft und Technologien für die Reichen dieser Welt. «Vom ersten Tag an zielten wir auf einen globalen Markt», sagt einer der Jungunternehmer. Die jungen Unternehmer sprechen von einem notwendigen «Mentalitätswandel», dem die «Krise» in ihrem Land den Weg geebnet habe: viel weniger Staat, höchste Anerkennung für das Streben nach maximalem Gewinn, Privatisierung des gesamten Wirtschaftslebens, Öffnung für die Investoren aus aller Welt, alles nur noch kosmo­politisch … Ein junger Unternehmer formuliert es so: «Die kapitalistische Welt ist in eine Sackgasse geraten. Wir brauchen ein neues Modell. Ich glaube, das neue Modell wird aus den Unternehmen hervorgehen. Die Unternehmen sind die Moleküle der modernen Gesellschaft.»

Ist das «neue» Griechenland ein Modell für Europa?

Die deutschen Zeitungsredakteure kommentieren: «Die Politiker haben es unterlassen, den Deutschen zu erklären, dass nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa sich neu strukturiert. Danach wäre Griechenland, anders als wir jetzt meinen, nicht das letzte, sondern das erste Land. Es könnte ein Vorbild sein.»
In der Tat: Das Ergebnis der deutschen Bundestagswahlen macht nachdenklich. Offensichtlich ist es der deutschen Kanzlerin und den gut in den Massenmedien vertretenen Parteien gelungen, von den Zukunftsfragen abzulenken und (so?) die politische Macht in den Händen zu behalten. Dabei völlig offengeblieben ist, wie das neu gewählte Parlament und die neue Regierung die anstehenden politischen Aufgaben anzugehen gedenken.
Die Forderung nach mehr direkter Demokratie und die Souveränität der Bürger waren im deutschen Wahlkampf kein Thema der Parteien. Offenbar hat sich keine der Parteien im Bundestag Wählerstimmen davon versprochen, das entscheidende politische Recht der Bürger, nämlich in Sachfragen direkt die Gesetzgebungsgewalt auszuüben, in Gesetzesform giessen zu wollen. Statt dessen nimmt die Polemik gegen die direkte Demokratie in Deutschland wieder zu, zuletzt mit einem ganzseitigen Artikel in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom 30. September. Erfolgreiche Volksentscheide wie der am 22. September in Hamburg für eine Rückführung der Energieversorgungsnetze in kommunale Hand (vgl. Artikel oben) scheinen nicht ins politische Konzept der etablierten Machteliten zu passen. Statt dessen wird «Führung» gefordert.

Ist der Frieden in Europa gefährdet?

Sehr wahrscheinlich sind die Führungen der für eine Regierungsbildung in Frage kommenden Parteien im Bundestag auf einen politischen Weg des noch mehr exekutiven Durchregierens eingestellt. So ist zu befürchten, dass die anstehenden politischen Entscheidungen in Deutschland zwar von einer grossen Koalition im Parlament mitgetragen werden, aber sehr wahrscheinlich nicht im Sinne der Bürger und schon gar nicht vom Bürger selbst bestimmt werden sollen.
Die Frage nach der Zukunft der deutschen Wirtschaft und der deutschen Wirtschaftsordnung wird in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle spielen. Ist ein postdemokratischer ökonomistischer Totalitarismus geplant, in dem die deutsche Wirtschaft ihre Vormachtstellung gegenüber den anderen Ländern Europas weiter ausbaut? Muss die deutsche Politik deshalb nach mehr «Verantwortung» in der Welt streben, so wie es der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck am 3. Oktober 2013 forderte? Muss die deutsche Politik, muss das deutsche Militär zudem Tributleistungen in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten für den Verbündeten in Wa­shington leisten, der seine politischen und militärischen Aktions-Schwerpunkte in den pazifischen Raum verlagern will? Tributleistungen, damit Deutschland in Europa um so ungehemmter schalten und walten kann? Und was würde dies alles für Europa insgesamt bedeuten? Wie werden die anderen europäischen Staaten und Völker reagieren?

Die Wirtschaftsordnung ist eine Sache der Bürger

Im kommenden Jahr jährt sich zum hundertsten Mal der Beginn des Ersten Weltkriegs. Da häufen sich die geschichtlichen Rückblicke. Dabei gibt es auch ernstzunehmende Stimmen, die auf Parallelen zur heutigen Situation in Europa und in der Welt verweisen. Ist das alles nur ein Hirngespinst? Ist der Krieg für immer aus Europa verbannt? Oder können der «neue» Kapitalismus und der kranke Wettbewerb Europa in einen erneuten Krieg treiben?
Die Wirtschaftsordnung ist eine Sache der Bürger, eine Sache der Völker. Die Frage der Wirtschaftsordnung ist nicht nur eine Frage der Versorgung der Bürger mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen. Es ist auch eine Frage nach der Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit und eine Frage des Friedens: innerhalb der Länder, in Europa und in der Welt.    •

Armut in Europa

km. Nachdem schon der erste Bericht über die Armut in Europa vom Oktober 2009 (vgl. Zeit-Fragen Nr. 6 vom 7.2.2011) alarmierende Zahlen über deren Ausmass gezeigt hatte, ist das Ergebnis der am 10. Oktober 2013 von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften vorgestellten zweiten Studie («Humanitarian impacts of the economic crisis in Europe», www.ifrc.org/PageFiles/134339/1260300-Economic%20crisis%20Report_EN_LR.pdf) noch schlimmer.

«Fünf Jahre weiter: Von schlecht zu schlechter» betitelt denn auch die mehr als 60 Seiten umfassende Studie die Zusammenfassung der Ergebnisse. Die Studie hat offizielle Statistiken und Beobachtungen der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in 52 Staaten der Europazone ausgewertet. Jedem ist zu empfehlen, die gesamte Studie zu lesen. Hier können nur ein paar wenige Ergebnisse genannt werden:
Die Anzahl der Menschen, die Nahrungsmittelhilfe beim Roten Kreuz oder Roten Halbmond in Anspruch nehmen, ist von 2 auf 3,5 Millionen gestiegen. 43 Millionen Menschen in den untersuchten Ländern haben kein ausreichendes Einkommen, um die notwendigen Nahrungsmittel zu bezahlen, 120 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, die bei 60% des Durchschnittseinkommens liegt. In EU-Staaten wie Bulgarien, Rumänien und Lettland sind es mehr als 40% der Bevölkerung, in Litauen und Kroatien mehr als 30%. Aber auch in den meisten anderen Ländern steigt der Anteil der Armutgefährdeten. Die anhaltend hohen oder sogar steigenden Arbeitslosenraten bereiten zunehmend Sorge, insbesondere die Anzahl arbeitsloser junger Menschen. In vielen Ländern beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 20%, und in 14 der erfassten Länder liegt sie bei mehr als 30% – bis hin zu 60%.
Die Schere zwischen den Armen und den Reichen geht in fast allen Ländern weiter auseinander. Auch die Anzahl der «neuen Armen» – das sind Menschen, die zwar arbeiten, aber von ihrer Arbeit nicht mehr leben können – steigt weiter. Zugleich sinkt die Anzahl der Menschen mit mittlerem Einkommen.

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