Warum es dringend einen neuen Jean Rudolf von Salis braucht

Warum es dringend einen neuen Jean Rudolf von Salis braucht

von Karl Müller

Viele Menschen in der ganzen Welt, die während des Zweiten Weltkriegs wussten, dass ihnen von seiten der Kriegsgegner nur noch Propaganda geliefert wurde, hatten ein grosses Glück: Der Schweizer Hochschulprofessor und Publizist J. R. von Salis berichtete ab Februar 1940 Woche für Woche bis zum Kriegsende im Schweizer Rundfunksender Beromünster über das Kriegsgeschehen. Er tat dies nicht ohne Werte, und gerade deshalb war er um Wahrheit bemüht, wie er selbst einmal geschrieben hat: «Oberstes Gesetz meiner Rundfunktätigkeit war die Wahrheitsfindung […] die Weltchronik war nicht die Stimme der Regierung oder einer Partei […].»
Dies entsprach seinem Auftrag, den er vom bedrängten Schweizer Bundesrat, der die Neutralität und Unabhängigkeit des Landes unter allen Umständen sichern wollte, erhalten hatte: «Unsere Kommentare zum Weltgeschehen sollen hauptsächlich registrierender Natur sein. Wir verzeichnen, was um uns vorgeht, übernehmen von beiden Seiten Berichte und Auslassungen. Wir entfernen daraus Überspitztes und Beleidigendes, enthalten uns verfrühter Meinungsäusserungen zu der im Fluss befindlichen Umgestaltung Europas und der Welt. Wir müssen unter den gegenwärtigen so sehr erschwerten Umständen in erster Linie das Mögliche, das heisst das Wesentliche im Sinne der Erhaltung unserer staatlichen Selbständigkeit, erstreben.»
Man kann dies alles nachlesen, in dem Buch «Eine Chronik des Zweiten Weltkrieges. Radiokommentare 1939–1945». Und wer dies tut, der wird sich auch fragen, wo wir heute wieder stehen. «Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.» Dieser Satz hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Kriege aber beginnen nicht erst dann, wenn Armeen aufeinandertreffen. Sie werden lange vorher vorbereitet.
Wer sich heute über die Vorgänge in der Ukraine informieren will, muss an all das denken. Und wünscht sich auch für die heutige Zeit einen J. R. von Salis. Jemanden, der kenntnisreich und zugleich mit Bedacht über das informiert, was in diesem geschundenen Land vor sich geht. Eine ehrliche politische Stimme, deren Massstab das Recht ist und die kein Diener der Macht ist. Eine profunde politisch-historische Stimme, welche die Vorgänge im Land in die Zusammenhänge der Weltpolitik einordnen kann. Eine menschliche Stimme, die Mitgefühl mit jedem Opfer zeigt, aber kein einziges Opfer für eine ­politisch motivierte Propaganda missbraucht. Eine vorsichtige Stimme, die weiss, was sie weiss, und die auch weiss, was sie nicht weiss, und beides sauber unterscheidet und auch kundtut.
Am 21. Februar hatte der Präsident der Ukraine in einer öffentlichen Erklärung verkündet, dass er vorzeitige Präsidentenwahlen einleiten werde, dass er die Verfassung von 2004, die eine parlamentarische und keine präsidiale Demokratie vorsah, wieder in Kraft zu setzen plant und dass er eine neue Regierung des «nationalen Vertrauens» einsetzen werde. Noch am selben Tag hat das Parlament der Ukraine die Rückkkehr zur Verfassung von 2004 beschlossen.
Wer kann heute mit Sicherheit sagen, was den ukrainischen Präsidenten zu dieser Erklärung bewogen hat? War der Präsident zum Entschluss gekommen, dass es mit ihm und seiner Partei im Land nicht weitergehen kann? Hatte die Regierung des Landes ihren eigenen Kompass verloren? War die Staatsmacht der Ukraine von aussen massiv unter Druck gesetzt worden? Hat man mit weiterer Gewalt und einer Situation wie in Syrien gedroht?
Schon in den Wochen zuvor war aufgefallen, wie zurückhaltend die Staatsmacht mit den Rechtsbrüchen im Land umgegangen war. Bilder von Polizeieinheiten, die gewalttätige Angriffe über sich ergehen liessen, Bilder von Ereignissen, die in jedem zivilisierten Land als krasse Formen von Haus- und Landfriedensbruch geahndet würden, nicht aber so in der Ukraine, sind um die Welt gegangen. Und dann die Eskalation und die Todesopfer der vergangenen Woche.
Hätten nicht nach den letzten Tagen, nachdem so viele Todesopfer zu beklagen waren, alle, die in den letzten Wochen innerhalb und ausserhalb des Landes zur Eskalation beigetragen haben, innehalten und zumindest daheim vor dem Spiegel ihr Gewissen befragen und dann auch öffentlich Verantwortung übernehmen müssen? Hätte dies nicht auch für die Verantwortlichen in EU und USA gegolten?
Wie sehr sich der Westen, Öl ins Feuer giessend oder gar zündelnd, in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt hat, zeigte doch das bekanntgewordene Telefonat der Abteilungsleiterin für Europa-Fragen im US-Aussenministerium Victoria Nuland mit dem Botschafter ihres Landes in der Ukraine (vgl. Zeit-Fragen, Nr. 4 vom 11. Februar). Dies zeigten auch die vielen Auftritte von US- und EU-Politikern auf dem Maidan.
Nun haben sich die Ereignisse in der Ukraine überstürzt. Das Parlament hat den bisherigen Präsidenten ohne verfassungsrechtliche Grundlage für abgesetzt erklärt. Die Vertreter der Opposition, die am 21. Februar in Anwesenheit des deutschen, des französischen und des polnischen Aussenministers sowie eines russischen Gesandten eine Vereinbarung mit dem Präsidenten unterzeichnet hatten, haben diese Vereinbarung einen Tag später gebrochen. Im Fernsehen ist zu sehen, wie sie über ihren Wortbruch jubelten.
Julia Timoschenko, Favoritin des internationalen Finanzkapitals und der USA und eigentlich rechtskräftig verurteilt und inhaftiert, wurde ohne rechtlichen Grund aus der Haft entlassen und erkor sich selbst zu einer Wortführerin des «Protestes». Parteigenossen von Timoschenko besetzen nun die höchsten Staatsämter.
Der bisherige Präsident erklärte in einer Fernsehsendung, er lehne einen Rücktritt ab. Banditen würden das Land und das ukrainische Volk terrorisieren. Mehr als 200 Büros seiner Partei seien verbrannt worden. Die Ereignisse würden an die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren in Deutschland erinnern. Zugleich wird dieser Präsident nun plötzlich von allen Seiten zum Alleinschuldigen für das Elend des Landes erklärt.
Der russische Aussenminister fordert die Aussenminister der EU-Staaten dazu auf, dafür zu sorgen, dass die Vereinbarung zwischen Opposition und Präsident, die am 21. Februar getroffen worden war, eingehalten wird.  Man solle damit aufhören, so zu tun, «als ob der heutige Maidan Interessen des ukrainischen Volkes vertrete».
Die Vertreter der EU und der USA waschen ihre Hände in Unschuld. Brüssel sei «alles andere als überschwänglich», heisst es (www.faz.net vom 23. Februar). Der US-Aussenminister liess seinen rusischen Amtskollegen nun plötzlich aber auch wissen, die USA erwarteten, dass alle Staaten die «Souveränität, territoriale Integrität und freie Wahl» der Ukraine akzeptieren werden. Er betonte seine «entschiedene Unterstützung» für das Vorgegen des ukrainischen Parlaments, einen Übergangsprsäidenten zu ernennen.
Zugleich wird einer neuen Regierung der Ukraine erneut ein EU-Assoziierungsabkommen angeboten. Dringend benötigtes Geld soll das Land aber nur dann bekommen, wenn die neue Regierung die Auflagen von IWF und EU akzeptiert. Man nennt das «Strukturreformen», und jeder weiss, was damit gemeint ist. Julia Timoschenko spricht davon, schon sehr bald werde die Ukraine Vollmitglied der EU sein. Polen unterstütze diese Forderung, um die Ukraine so schnell wie möglich «aus dem russischen Einflussbreich zu entfernen» (www.faz.net vom 23. Februar).
Die israelische Tageszeitung «Haaretz» meldet, der ukrainische Rabbi Moshe Reuven Azman habe die Juden von Kiew aufgerufen, die Stadt und das Land zu verlassen, so lange dies noch möglich sei. Die israelische Botschaft in Kiew habe die Juden aufgerufen, derzeit ihre Wohnungen nicht zu verlassen.
Was alles derzeit in der Ukraine passiert und wie es weitergeht, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Ein US-amerikanischer Blogger, der anonym bleiben will, schrieb am 21. Februar in der in Asien angesehenen Asia Times Online, es gebe nur eine Macht, die Interesse an einem Chaos in der Ukraine habe: die USA.
Derweil bleibt für die Bürger in Europa aber unklar, was die Wahrheit ist. Nur eines wird deutlich, und das kann lehrreich sein: Sehr, sehr schnell kann ein Land, auch an den Grenzen der EU, an den Abgrund gedrängt werden, wenn es seinen inneren Zusammenhalt und Kompass verliert und zum Spielball der Machtpolitik wird.    •

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