Der «humanitäre» Krieg – bis wohin?

Der «humanitäre» Krieg – bis wohin?

von Jean-Christophe Rufin*

Jean-Christophe Rufin, Schriftsteller, ehemaliger Botschafter Frankreichs in Dakar (2007–2010), kritisiert den Alleingang von Nicolas Sarkozy, der sich in einem Konflikt engagiert hat, ohne die Nation zu konsultieren.

Selbstverständlich können wir uns darüber freuen, dass die drohenden Massaker an Zivilpersonen in Libyen unwahrscheinlicher geworden sind. Der blutrünstige Diktator, der sein Volk unterdrückt, verdient keinerlei Mitleid. Aber diese legitime Freude soll uns nicht daran hindern, die Situation so zu sehen, wie sie ist, und darüber beunruhigt zu sein.
Frankreich ist im Krieg. Es ist nicht nur Teil einer breiten Koalition. Die herausragende Rolle, die wir in allen Stadien der Operation, einschliesslich der militärischen, gespielt haben, stellt uns in die vorderste Reihe. Die Libyer auf beiden Seiten haben dies sehr wohl erkannt: in Bengasi zeigt man sich stolz mit der Trikolore, und in Tripoli verdammt man Frankreich in Grund und Boden. Man kann einen gewissen Stolz empfinden, dass unser Land den Mut hatte zu handeln. Dies entbindet uns jedoch nicht davon zu bedenken, wie schwerwiegend die Konsequenzen, die Risiken und die ungelösten Fragen dieser Aktion sind.
Denn der Krieg, in dem wir uns befinden, beschränkt sich nicht auf die sterile Formel einer Flugverbotszone, welche die Mitglieder des Sicherheitsrates gutgeheissen haben. Dieser Begriff der Flugverbotszone suggeriert eine über den Himmel ausgebreitete schützende Hand, die sanftmütig die Ausübung von Gewalt verhindert. Die Realität ist viel härter. Wir töten. Wir bombardieren Fahrzeuge, die voller Soldaten sind. Dass es sich dabei wahrscheinlich um Kriminelle handelt, die den Auftrag haben, unbewaffnete Zivilisten anzugreifen, ändert nichts an dieser Tatsache: Wir können lange beteuern, dass «wir nicht am Boden intervenieren werden» – diese Soldaten werden sehr wohl am Boden getötet.
In Wirklichkeit sind wir an Bodenkämpfen beteiligt, selbst wenn wir – jedenfalls zurzeit – aus der Luft zuschlagen. Um dies zu rechtfertigen, beruft sich die französische Diplomatie auf das Kleingedruckte des Vertrages, das man unterzeichnet, meist ohne es sorgfältig zu lesen: Die Resolution 1973 legt fest, dass «alle Massnahmen, inklusive militärischer», ergriffen werden können, «die zum Ziel haben, Zivilpersonen zu schützen».
Damit sind wir beim springenden Punkt: Es handelt sich um einen «humanitären» Krieg. Wir führen zerstörerische militärische Operationen gegen einen Staat aus, der uns nicht angegriffen hat, der unsere Interessen nicht bedroht – anders gesagt, wir befinden uns völlig ausserhalb der militärischen Doktrin, so wie sie ausgearbeitet wurde, insbesondere durch das Weissbuch zur Verteidigung (Livre blanc sur la Défense) von 2007. Unser einziger Grund für Gewaltanwendung ist die Verletzung des humanitären Rechts durch den in Frage stehenden Staat. Wir befinden uns in einem Schulbeispiel des vielzitierten «Rechts auf Einmischung», ein Konzept, das paradoxerweise zu einem Zeitpunkt Bedeutung bekommt, als sein Erfinder [Bernard Kouchner] das Aussenministerium verlassen hat … Dieses Konzept des Rechts auf Einmischung wirft jedoch zahlreiche Probleme auf, die übrigens zu seinem Ausschluss aus dem internationalen Recht geführt haben, zugunsten einer Formel, die auf mehr Zustimmung gestossen ist: Die «Verantwortung zu schützen» [Responsibility to protect].
Es ist oft auf die Gefahren hingewiesen worden, die das Recht auf Einmischung beinhaltet, ein Recht, das den Mächtigen überlassen wurde, um selber entscheiden zu können, wen sie angreifen wollen. Der krasseste Fall einer gefährlichen Einmischung war die amerikanische Intervention 2003 im Irak. Frankreich war damals der Staat, der sich gegen diese Intervention gestellt hat und die gefährlichen Auswirkungen hervorgehoben hat. Glaubt man denn heute, ein solches Prinzip sei weniger gefährlich, wenn es Frankreich selbst anwendet?
Unterstellen wir denjenigen, die diese Operation lanciert haben, keine schlechten Absichten. Gestehen wir ihnen das Verdienst zu, nach ihrem Gewissen gehandelt zu haben, um Menschenleben zu schonen. Wie dem auch sei, es ist nun notwendig, über das Stadium der Emotionen hinauszuschreiten und, um diesen Krieg und vielleicht auch weitere zu führen, eine Doktrin zu erarbeiten. Wie soll sie aussehen und wer muss sie formulieren? Wir führen einen humanitären Krieg. Wir greifen ein Regime an auf Grund unserer Vorstellung von Menschenwürde. Bravo. Aber ist dieses Prinzip überall anwendbar? Soll es Grundlage unserer Aussenpolitik sein und alle unsere Entscheidungen leiten? Zu einem anderen Zeitpunkt könnte diese Frage theoretisch sein, aber in der heutigen Zeit der Aufstände in den arabischen Ländern ist sie sehr konkret. Müssen wir uns darauf vorbereiten, morgen in Syrien, im Jemen, in Algerien einzugreifen? Wenn wir mit derselben Logik denken, dürfen wir auch nicht hoffen, Afghanistan verlassen zu können, wo unsere Anwesenheit weiterhin die Achtung der Zivilbevölkerung garantiert …
Die andere Hypothese ist, dass wir nicht überall die besten Vertreter unserer humanitären Prinzipien sein können und wollen. Im Klartext heisst das, dass wir uns für etwas entscheiden müssen. Aber wofür und für wen? Soll es ein exklusives Vorrecht des Präsidenten der Republik sein, darüber nach freiem Ermessen zu entscheiden? Muss eine Situation den Elysée [Sitz des Präsidenten] zu Tränen rühren, damit wir unsere Soldaten schicken?
Alle diese Entscheidungen betreffen Frankreich in starkem Mass und beinhalten Risiken. Der internationale Konsens, der uns trug, löst sich heute auf, und die arabischen Staaten beginnen, mit anderen zusammen, ihre Zurückhaltung zum Ausdruck zu bringen. Ausserdem müssen wir – welches auch immer die punktuelle Überlegenheit unserer Armee in einer frontalen Offensive sein mag – an die schweren Nachteile denken – natürlich zuallererst an den Terrorismus –, denen wir uns aussetzen, wenn wir gegen Personen wie Oberst Gaddafi vorgehen, die keine Skrupel und Grenzen kennen.
Ich sage nicht, dass wir uns dieser Aufgabe entziehen sollen. Aber um weiter aktiv zu sein, und zwar geeint, ungeachtet der guten oder schlechten Überraschungen, die uns die Fortsetzung der Kriegshandlungen bescheren wird, braucht es eine nationale Debatte über die Grundlagen unseres militärischen Handelns. Die Nationalversammlung darf nicht erst im nachhinein über einen bestimmten Einsatz konsultiert werden. Sie soll zu diesem Thema eine grundsätzliche Diskussion führen können und dabei die öffentliche Meinung miteinbeziehen. Es geht nicht darum, die Exekutive einzuschränken, sondern ihr einen klaren Auftrag zu geben und Grenzen zu setzen. Ihr Gefühl, sich in einem gerechten Krieg zu befinden, ersetzt weder eine Doktrin noch die nationale Zustimmung.
Natürlich erwarten wir von einem Präsidenten der Republik, dass er das Herz und die Nerven hat, eine militärische Offensive zu beschliessen. Wir müssen aber auch spüren, dass er fähig ist, starken Gefühlsregungen zu widerstehen. Unser republikanisches Erbe verleiht uns besondere internationale Verantwortung, und alle Völker wenden sich wie selbstverständlich an uns, sobald ihre Freiheit bedroht ist. Welche Antwort müssen und können wir ihnen geben? Das ist die Frage, die die Franzosen eines Tages entscheiden müssen. Gemeinsam.    •

Quelle: Le Monde vom 24. März 2011
(Übersetzung Zeit-Fragen)

*    Jean-Christophe Rufin war Präsident der «Action contre la faim» (2002–2006) sowie Vizepräsident von «Médecins sans frontières» (1991–1993).

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