Luzis Ziehmutter gestorben

Luzis Ziehmutter gestorben

Sie zog im Basler Zoo ein Eisbärbaby gross, 44 Jahre vor Knut in Berlin

von Heini Hofmann*

Man erinnert sich an das grosse Medienbrimborium 2007 rund um das Flaschenkind-Eisbärchen Knut im Zoo Berlin. Doch bereits 44 Jahre vorher hatte auch Basel mit Luzi eine Polarbären-Aufzuchtpremiere! Nun ist dessen Ziehmutter 91jährig verstorben.
Als nach mehreren missglückten natürlichen Aufzuchten Bärenwärter Hans Schenk im November 1963 feststellte, dass die Basler Eisbärin Dadiana wieder zwei Junge zur Welt gebracht hatte und sie nicht akzeptierte, entschloss man sich zur Handaufzucht. Während das weibliche Jungtier nach wenigen Tagen starb, überlebte sein Brüderchen – und sollte als Luzi zum Zooliebling und Medienstar werden.

Ein Rund-um-die-Uhr-Job

Der damalige technische Leiter des Zoologischen Gartens Basel, Paul Steinemann, und seine Frau Zita übernahmen, unterstützt (in der Rolle der Spielkameradin) von ihrer Französischen Bulldogge Bichette, die anspruchsvolle Aufgabe der Pflegeeltern – ein 24-Stunden-Job! Luzi war zwei Tage alt, nur meerschweinchengross und wog bloss 675 Gramm – ein Würmchen im Vergleich zu seiner gut 300 kg schweren Mutter. Zudem war er blind, taub und zahnlos. Noch gab es kaum Erfahrung, da erst drei Handaufzuchten gelungen waren, 1942 in Prag, 1955 in Frankfurt und 1960 in Wien-Schönbrunn. Ein Jahr nach der erfolgreichen künstlichen Aufzucht in Basel gelang dann auch im Zoo Zürich die eines weiblichen Jungtiers.
Minutiös haben die Steinemanns in Basel Tagebuch über diese anstrengende Aufzucht geführt (was dann auch für den Berliner Zoo hilfreich war); denn der weisse Winzling brauchte tagsüber alle zwei und nachts alle drei Stunden die Flasche. Nachdem er sich anfänglich nur robbend fortbewegte, konnte er am 40. Tag erstmals auf den Beinen stehen, und am 82. Tag gelang ihm, nach Bärenmanier «Männchen» zu machen. Nun entwickelten sich die Raubtierallüren, Zähne und Krallen hinterliessen Spuren an Händen und Möbeln, und Steinemanns Wohnungseinrichtung machte schwere Zeiten durch ...

Berlin holte bei ihr Ratschläge

Als Luzi zu kräftig und das Spazieren mit ihm im Zoogelände zu gefährlich wurde, musste er nachts und später gänzlich ins Raubtierhaus zügeln. Und da man ein auf den Menschen fixiertes Schoppentier schwerlich in die Gruppe (zumal nicht zum eigenen Vater) reintegrieren kann – deshalb werden solche Handaufzuchten im modernen Zoo nur noch ausnahmsweise gemacht –, ­musste Luzi im Alter von knapp einem Jahr (Gewicht jetzt rund 80 kg) verstellt werden; er kam in einen französischen Privatzoo, wo er leider infolge einer missglückten Wurmbehandlung eines unnötigen Todes starb.
Zita Steinemann, die Ziehmutter von Luzi, die nach der Pensionierung im Zolli-Betriebsgebäude und in den letzten Jahren in einem Altersheim wohnte, war bis ins hohe Alter am Zoogeschehen interessiert. Der Wirbel um Knut in Berlin hat bei ihr viele Erinnerungen und Emotionen aus der Zeit mit Luzi wachgerufen, und aus lauter Sympathie hat sie dem Berliner Bärenpfleger Thomas Dörflein ein Präsentchen geschickt, worauf er ihr telefonierte und sich bei ihr Ratschläge holte. Sie selber war bescheiden und stand nie im Rampenlicht, obschon sie ein bisschen Zoogeschichte geschrieben hat.     •

*Der Autor war früher Tierarzt des Basler Zoos.

Jöö-Effekt und Kindchenschema

hh. Einst waren sie PR-Trümpfe und Kassenschlager der Tiergärten, die niedlichen, weil zahmen Flaschen-Tierkinder. Einige schafften es zu weltweitem Bekanntheitsgrad, wie das in Europa erstgeborene, von Menschhand aufgezogene Basler Gorilla-Mädchen Goma. Heute ist die Sichtweise eine andere. Denn solche auf den Menschen geprägte Schoppentiere lassen sich nur schwerlich oder überhaupt nicht mehr in die Gruppe integrieren. Deshalb lässt man in heutigen Zoos meist die Natur entscheiden, wer überleben soll. Ausnahmen – bei gefährdeten oder schwierig zu haltenden Spezies wie den Eisbären – bestätigen die Regel.
Allerdings zeigt sich dann wie bei den Eisbären-Flaschenkindern Knut in Berlin, Flocke in Nürnberg und Siku in Dänemark fast in erschreckendem Mass, wie sehr wir Menschen, da wir der Natur entfremdet sind, auf Jöö-Effekt und Kindchenschema ansprechen, welches solch’ ein kleiner weisser Knuddel-Knut in ganz besonderem Masse verkörpert.
Die Weltpresse übertrumpfte sich mit Superlativen, die Eintrittszahlen im Berliner Zoo explodierten, und das Trittbrett-Marketing florierte. Schliesslich wurde Knut sogar zum Flaggschiff im Kampf gegen den Klimawandel. Manchmal heiligt eben der Zweck die Mittel. Schoppentiere im Zoo sind ein zwiespältiges Thema, bei dem sich Sentimentalität und Marketing um die Ammenlorbeeren streiten. In der Schweiz ist dies nun insofern kein Thema mehr, weil die Zoos in Basel und Zürich schon vor längerer Zeit auf weitere Eisbärenhaltung verzichteten.

Unzertrennlich: Hund und Bär

hh. Seit Luzi in Steinemanns Wohnung lebte, war Bichette, die Französische Bulldogge, ausser sich vor Aufregung. Doch vorerst durfte sie den kleinen Luzi nur aus Distanz betrachten; dabei hätte sie ihn so gerne bemuttert. Quiekte Luzi, war Bichette dermassen besorgt, dass sie kläglich zu heulen begann. Selbst sein behagliches, für junge Eisbären typisches Summen interpretierte sie als Wimmern, was sie fast zur Verzweiflung brachte.
Erst ab dem 50. Lebenstag von Luzi durfte die Hundedame endlich bei der Pflege aktiv mithelfen. Nach dem Schoppen leckte sie ihm mit grossem Eifer die Schnauze sauber, begleitete ihn auf seinen Erkundungsspaziergängen durch die Wohnung und verweilte, sobald er sich müde niedergelegt hatte, wachend neben ihm. Die Umsorgung ging so weit, dass Bichette scheinträchtig wurde. Sie wollte das Bärchen säugen und scharrte es immer wieder unter ihren Leib, um ihm die Zitzen anzubieten. Das musste unterbunden werden, damit sie keine «wilde Milch» produzierte.
Mit der Zeit allerdings bekam Bichette zu spüren, dass ihr gehätscheltes Pflegekind kein Hundebaby, sondern ein heranwachsendes Raubtier war. Bei jeder Gelegenheit biss Luzi sie in die Beine. Sichtlich enttäuscht ob so viel Undank zog sie sich immer mehr vom grob und gröber werdenden Kumpan zurück und beaufsichtigte ihn nur noch aus sicherer Entfernung. Dies bedeutete das unromantische Ende einer ungleichen Tierfreundschaft. Sentimental betrachtet: ein trauriger Moment. Realistisch beurteilt: ein logisches Geschehen.

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