«Für mich ist es wichtig, dass sich jedes Kind entwickeln kann»

«Für mich ist es wichtig, dass sich jedes Kind entwickeln kann»

Ein Besuch in der Astrid Lindgren Förderschule in Weisswasser

Gespräch mit der Schulleiterin Christiane Burges

Dies vorweg: An der Astrid Lindgren Förderschule in Weisswasser wird eine beeindruckende Arbeit geleistet. An ihr werden Schüler mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung unterrichtet und betreut. Es sind vor allem Schüler, die in den allgemeinbildenden Schulen nicht ausreichend gefördert werden können. Träger der Schule ist das Landratsamt Görlitz. Die Schulleiterin, Frau Burges, stellt im folgenden Gespräch die Arbeit ihrer Schule ausführlicher vor.

Christiane Burges, Schulleiterin: Unsere Schule wurde am 1. August 1991 gegründet. Wir wurden zunächst in zwei alten Villen in der Luxemburgstrasse untergebracht, da, wo vor der Wende die Fördereinrichtung für geistig behinderte Kinder war. Aber man hat schnell festgestellt, dass es perspektivisch viel zu klein war. Ich habe den Antrag gestellt, eine Schule zu bauen oder umzubauen, und am 1. Januar 1994 konnten wir dann in dieses Haus hier einziehen. Das Haus wurde vorher als Kindergarten und Krippe genutzt und war frei geworden. Die Stadt hat es an den Landkreis abgegeben, denn alle Förderschulen, Hochschulen und Gymnasien werden vom Landkreis geleitet; die Oberschulen und Grundschulen hingegen von den Gemeinden. Wir hätten damals auch die Möglichkeit gehabt, ein ganz neues Haus zu bauen, aber mir war es wichtiger, dass wir möglichst stadtzentral sind, damit wir alles, was wir hier ringsum haben, nutzen und unsere Schüler die Wege, wenn immer möglich, selbständig bewältigen können. Das Einzugsgebiet ist relativ gross, es umfasst den ehemaligen Landkreis Weisswasser und Niesky und reicht bis Görlitz. Deshalb kommen viele Schüler auch mit dem freigestellten Schülerverkehr, das heisst, mit dem Taxi.

Zeit-Fragen: Wie viele Schüler haben Sie?

Das schwankt, aber in den letzten zehn Jahren waren es immer so zwischen 50 und 60. Sie müssen sich das so vorstellen, dass die Schüler immer in Stufen zusammengefasst werden. Die Unterstufe umfasst entsprechend die 1. bis 3., die Mittelstufe die 4. bis 6., die Oberstufe die 7. bis 9. und die Werkstufe die 10. bis 12. Klasse. In der Regel führen wir immer zwei Unterstufen-, zwei Mittelstufen-, zwei Oberstufen- und zwei Werkstufen-Klassen. Mit der Werkstufe erfüllen wir auch noch die Berufsschulpflicht. Die normale Schulpflicht ist mit der neunten Klasse abgeschlossen, da aber niemand die Berufsschule für unsere Schüler stellt, bieten wir diese intern gleich mit an. In der Unterstufe haben wir im Durschnitt sechs Schüler pro Klasse, in der Mittelstufe ebenso und in der Ober- und Werkstufe sind es acht bis zehn. Es kommt natürlich auch drauf an, welches Schülerklientel in einer Klasse ist, und da ist die Bandbreite ganz gross, das heisst, wir haben Schwerst-Mehrfachbehinderte und Körperbehinderte mit dem Schwerpunkt Gehhilfen, wo die Eltern wünschen, dass sie wohnortnah untergebracht sind. Der «klassisch Geistig-Behinderte» ist inzwischen der geringste Anteil an Schülern. Gemeint sind damit Schüler, bei denen eine spezielle medizinische Indikation vorliegt oder Schüler mit einem IQ-Wert von unter 65. Es sind mehr Schüler, die in allen anderen Leistungsschulen durch den Raster fallen, die vielleicht die Lernförderschule schaffen könnten, aber so starke Verhaltensauffälligkeiten haben oder sich nicht konzentrieren können, dass es nicht geht.
Bei den Lernförderschulen ist die Leistungsanforderung gegenüber der Regelschule um ein bis zwei Jahre runtergebrochen und bei unserer Schule sind es drei bis vier Jahre. Der Lernstoff ist bei uns auf alles ausgerichtet, was die Schüler lebensfähig macht. Bei der Einschulung sind die Schüler sechs oder sieben Jahre alt, aber von der Entwicklung oft erst zwei- bis dreijährig. Dort bieten wir nicht Lesen, Schreiben und Rechnen an, sondern: Wie schmier ich ’ne Stulle, wie deck’ ich den Tisch, wie kann ich mich an- und ausziehen, also ganz lebenspraktische Aufgaben. Mit dem Unterricht in Mathe, Deutsch und anderen Angeboten fangen wir in der Regel in der Mittelstufe an, also wenn die Schüler zehn bis zwölf Jahre alt sind; das ist natürlich sehr individuell. Alles, was wir anbieten, ist auf den Stand des jeweiligen Schülers abgestimmt. Daneben haben wir viele Werken-Angebote, also Werken in Keramik, in Holz- und Metallbearbeitung sowie in Pappe und in Textil. Die Schüler kochen auch selber. Da gibt es natürlich auch verschiedene Stadien, das heisst, die Kleinen machen sich Tee oder eine kleine Quarkspeise. Die Grösseren fangen schon an mit einem Salat oder kleineren Gerichten. Und auf der Werkstufe wird sozusagen regelmässig gekocht. Sie sollen ja lernen, sich selber zu versorgen. Entsprechend ihrem Stand kriegen sie auch Rezeptbücher.

Gibt es hier in Sachsen auch eine Diskussion über Integration und Inklusion?

Darauf wollte ich ohnehin zu sprechen kommen. Wir haben ein Stammhaus. In diesem Stammhaus werden alle Aufgaben des Fachunterrichts abgedeckt. Enthalten sind aber auch drei Klassen mit schwerst Mehrfachbehinderten. Für diese Kinder werden auch Physio-, Ergo- und Logotherapien auf Rezeptbasis angeboten. Diese Kinder sind hier im Stammhaus untergebracht, weil wir hier auch die nötigen Einrichtungen haben, wie etwa ein Pflegebad und anderes.
Wir haben ausserdem noch eine komplette Etage im Gymnasium nebenan. Dort sind alle die, die körperlich fit sind und die Wege selbständig bewältigen können, in Klassen zusammengefasst. Dort ist auch eine interne Trainingswohnung integriert. Das heisst, die Schüler sind den ganzen Tag dort und erfüllen dort das Werkstufenkonzept, also die Berufsschulpflicht; sie kochen für sich, gehen von dort in ihre individuellen Praktika und haben auch bestimmte Unterrichtsangebote. Für unsere ganz Fitten haben wir noch eine ausgelagerte Trainingswohnung.
Seit 1991/1992 haben wir auch noch ein Schulkooperationsprojekt mit verschiedenen Grundschulen der Stadt Weisswasser, das heisst: Wir machen gemeinsamen Unterricht in den Fächern, die wir für geraten halten, das sind vor allem Sport, Werken, Musik und Kunsterziehung. Die restlichen Fächer machen wir separat. Zurzeit wird ja das Inklusions-Prinzip ganz gross geschrieben, aber das gilt hier immer unter Vorbehalt, und der Vorbehalt ist in Sachsen so, dass man sagt: Die Voraussetzungen müssen da sein, und wenn die nicht da sind, kann das nicht gewährt werden.

Ich kann mich erinnern: In einer Festschrift «150 Jahre Zürcher Volksschule» wurde 1982 die Sonderschulung behinderter Kinder als grosse Errungenschaft gepriesen, als Ausdruck eines humanen Geistes und als Zeichen von Solidarität. Man war stolz, dass jedes Kind eine seinen Gebrechen und seiner Bildungsfähigkeit angepasste Schulung und Erziehung erhielt. Zwanzig Jahre später begann man, diese besondere Förderung als Diskriminierung zu diffamieren. Und heute wird gefordert, dass die Sonderschulen aufgehoben und alle Kinder in die Regelschule integriert werden sollen. Sind Sie davon auch betroffen?

Erst kürzlich hatten wir Eltern, die unbedingt wollten, dass ihre Tochter in eine Grundschule kommt, möglichst wohnortnah. Nach der Diagnostik, die wir durchführen, war es aber eindeutig ein G-Kind, das heisst, ein Kind mit Schwerpunkt Geistige Entwicklung, das unbedingt nach unserem Lehrplan unterrichtet werden sollte. Das Problem ist, dass dieses Mädchen selbst in einer kleinen Grundschulklasse ein besonderes Angebot bräuchte, das unserem Lehrplan entspricht. Sie bräuchte einen Sonderpädagogen, den die Schule parallel zur Verfügung stellen müsste. Jetzt müssen Sie sich das einmal vorstellen: Das Mädchen müsste mindestens 15 Stunden, wenn die anderen ihre Deutsch- und Mathe­angebote haben, ein Angebot auf ihrem Level kriegen. Das kann die Grundschullehrerin doch gar nicht leisten, die muss sich ja um die anderen kümmern. Neben diesen Fächern gibt es aber auch Sport und andere Fächer, in denen das Mädchen nicht mitmachen könnte. Es bräuchte einen Integrationsbegleiter, also noch einmal eine weitere Person. Das Mädchen muss beim Transport begleitet werden, es braucht Hilfe beim Schuheanziehen und beim Umziehen und, und, und. Jetzt gucken Sie mal den Aufwand an, den man betreiben müsste, und hier steht eine Schule, die das alles leisten kann. Eigentlich ist das doch verrückt, oder? Inzwischen ist diese Frage geklärt. Die Eltern haben von ihrem Recht auf Widerspruch und gerichtlichen Schritten Gebrauch gemacht und in der Instanz des sächsischen Oberverwaltungsgerichts Recht bekommen, so dass das Mädchen seit Ende November in einer Grundschule unterrichtet wird, mit all den genannten Rahmenbedingungen.

Dabei ist es fraglich, ob der ungeheure Aufwand, der nun betrieben werden muss, wirklich zum Wohl des Kindes ist. Der Gedanke, dass die Sonderförderung diskriminierend sein soll, ist nicht richtig. Es gibt nun einmal Unterschiede, auch organisch bedingte Behinderungen, und man kann es doch nur begrüssen, dass diese Kinder dann auf ihrer Stufe gefördert werden.

Aber das ist eine Sache, wo wir uns in den Diskussionen mit Eltern immer mehr zurücknehmen, weil die Eltern sagen: Es gibt die Behindertenrechts-Position, wir haben das Recht darauf, und wir möchten das. Natürlich geben wir Empfehlungen, und die Eltern erkennen das auch an. Das Problem ist einfach nur, dass sie etwas wollen, von dem sie meinen, dass es ihnen zusteht. Sie wollen, dass ihr Kind glücklich ist, und meinen, dass sie ihm helfen, wenn es wohnortnah in die Schule geht. Das ist aber oft nicht zu Ende gedacht. Für mich ist es wichtig, dass sich jedes Kind entwickeln kann. Es bleibt doch nicht immer die oder der kleine Niedliche, es muss ja irgendwann in die Gesellschaft integriert werden. Wenn die Schulzeit vorbei ist, muss entschieden werden, ob es in die Behindertenwerkstatt oder in den freien Arbeitsmarkt geht und wo es dann wohnen soll. Die Schule hat doch die Aufgabe, die Kinder darauf vorzubereiten. Es geht doch darum, dass jedes Kind auf seinem Niveau gefördert wird, so dass es später sein Leben bewältigen kann. Und das ist unser Grundansatz.
Viele Bundesländer haben die Förderschulen einfach zugemacht und die Kinder in andere Schulen gesteckt. Von daher bin ich froh, dass Sachsen im Moment zuwartet. Im Moment hat uns die Kultusministerin zugesagt, dass die Förderschulen bleiben. Ich sage im Moment, denn man weiss ja nie … Es gibt den Begriff des Aussitzens, mal warten, was passiert. In einigen Bundesländern, in denen man die Kinder integriert hat, stellt man jetzt fest, dass es nicht geht. Es geht nicht einmal die Integration, geschweige denn die Inklusion.

Die Realität ist eben anders als die Theorie. Bei der Inklusion sollen die Kinder eigentlich gar nicht mehr gefördert, sondern einfach in ihrem «Anderssein» akzeptiert werden.

Die meisten Eltern wollen das gar nicht. Sie sind froh, dass ihre Kinder zu uns kommen können und unterstützen uns. Eine Mutter hat mir gesagt: «Ich wollte auch, dass mein Kind in die Regelschule geht, aber ich sehe ja, dass es nicht geht, und bin froh, dass es diese Schule gibt.»
Ausserdem haben wir in Sachsen akuten Lehrermangel, jedes Jahr wird um jeden Lehrer gekämpft. Das ist so: Zur DDR-Zeit sind aus den Geburtsjahrgängen 1955 bis 1960 in unserer Region viele Lehrer eingestellt und neue Schulen aufgemacht worden. In Weisswasser lebten damals 45 000 Menschen, jetzt sind wir bei 16 000 bis 18 000. Die Stadt wurde inzwischen zurückgebaut und die Lehrer überall hin verteilt. Aber so, wie sie alle gemeinsam angefangen haben, gehen sie nun auch gemeinsam in Pension. Es wird einen Cut geben, ohne Ende. Erschwerend kommt hinzu, dass viele, die heute in Sachsen ausgebildet werden, in die alten Bundesländer abwandern, weil sie dort mehr verdienen und verbeamtet werden; sie gehen dann weg. Ich verstehe das einfach nicht, Kinder gibt es doch überall, auch hier in der Lausitz.
Eine Sache würde ich gerne noch erwähnen: Wir haben seit drei oder vier Jahren eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Integrationsfachdienst, und dadurch haben wir für unsere Schüler schon viele individuelle Praktika in Betrieben auftun können. Unser Ziel ist es, sie wenigstens teilweise auf dem ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein Beispiel: Wir arbeiten seit Jahren mit dem Pferdehof in Rietschen zusammen, wo Kinder reiten gehen, ein therapeutisches Reitangebot. Sie lernen dort auch den Umgang mit Pferden und die Pflege. Eine Schülerin, der es dort besonders gut gefallen hat, wird jetzt als Hilfskraft angestellt. Und bei diesem Prozess, der sich über viele Stufen erstreckt, übernimmt der Integrationsfachdienst die ganze Abklärung und Begleitung. Eine andere Schülerin wollte unbedingt in die Pflege. Sie war auch in der Pflege, und die Arbeit hat ihr Spass gemacht, aber die Umgebung hat ihr nicht gefallen. Sie hatte dort keine Ansprechperson, mit der sie mal schwatzen konnte und die ihr Anerkennung gab. Und da hat sich der Integrationsfachdienst super darum gekümmert und eine andere Stelle gefunden, wo sie in dem Team sofort integriert war. Da besteht nun eine gute Chance, dass sie im nächsten Jahr angestellt wird. So gibt es Möglichkeiten, unsere Schüler zu integrieren. Sie haben ja gute Voraussetzungen, sie haben eine gute Einstellung, sie wollen, sie kommen freiwillig, sind lieb und aufgeschlossen, sie sind pünktlich und bummeln nicht rum.

Man spürt, dass Sie sich sehr für Ihre Schüler einsetzen, und das braucht es wohl in erster Linie. Vielen Dank.     •

(Das Gespräch mit der Schulleiterin führte Dieter Sprock.)

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