Der Beitritt zu einer supranationalen Organisation gefährdet die Grundlagen des Schweizer Staatswesens

Der Beitritt zu einer supranationalen Organisation gefährdet die Grundlagen des Schweizer Staatswesens

von Thomas Kaiser, Historiker

Wenn wir am 18. Oktober ein neues Parlament wählen, liegt es in der Hand der Bürgerinnen und Bürger, wer nachher als Volksvertreter im Bundeshaus in Bern sitzt. Deshalb ist es wichtig, sich genau zu überlegen, wem man seine Stimme gibt. Die Zeiten, in denen wir uns befinden, stellen uns vor grosse Herausforderungen. In den Ländern Europas und der EU bestehen grosse Probleme, und mit dem Konflikt in der Ukraine liegt die Gefahr eines europäischen Krieges plötzlich wieder im Bereich des Möglichen. Wie sich die Schweiz darin ­positionieren will, hängt letztlich von uns Bürgern ab. Wollen wir eigenständig bleiben, unseren Staatshaushalt in Ordnung halten und unser Staatswesen gegen Angriffe von aussen schützen, oder wollen wir uns der EU andienen? Dieser Schritt hätte für uns und unser Staatssystem weitreichende Folgen.

Wenn Kandidaten in einer Staatskundeprüfung gefragt werden, was die Besonderheiten des Schweizer Staatswesen sind, wird in der Regel zuallererst die direkte Demokratie genannt, erst in zweiter Linie erwähnen sie die Neutralität, den Föderalismus oder die Vielsprachigkeit der Schweiz. Das ist nicht zufällig, denn in keinem Land der Erde besitzt die Bevölkerung so viele politische Mitspracherechte wie in der Schweiz, das ist augenfällig. Zwar gibt es in anderen Staaten, zum Beispiel in Deutschland, Möglichkeiten auf der Stufe der Gemeinden oder auf Ebene der Bundesländer, gewisse politische Entscheidungen einem Referendum zu unterstellen. Das ist im besonderen in Bayern der Fall, denn hier war der Vorsitzende des Verfassungsrats, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Verfassung für Bayern ausarbeitete, der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner, der während des Krieges in der Schweiz im Exil weilte (vgl. Wilfried Scharnagel. Bayern kann es auch allein, S. 64). Doch in keinem Staat gibt es so umfassende Möglichkeiten der Mitsprache wie in der Schweiz. Selbst auf gesamtstaatlicher Ebene kann das Volk direkt mitbestimmen. In den Ländern der Europäischen Union finden wir nur präsidiale oder parlamentarische Demokratien, in denen das Volk neben den zyklischen Wahlen nur in den seltensten Ausnahmefällen direkt an politischen Entscheidungen beteiligt wird. Das Initiativrecht auf nationaler Ebene kennt keines dieser Länder. Das Einzigartige der Schweiz ist also vor allem ihre direkte Demokratie.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man sagen, dass die Schweiz ein Sonderfall ist, der auf Grund seines Systems in kein supranationales Gebilde passt, in dem der Bürger vor allem verwaltet wird.

Bauern waren die rechtmässigen Träger der politischen Macht

Die Schweiz kann man aber nur vom Bürger her verstehen. Denn seit der Gründung der Eidgenossenschaft im Mittelalter besitzen ihre Einwohner ein hohes Mass an Freiheit, was sich in der Übertragung von viel Verantwortung auf den einzelnen manifestiert.
Das Übertragen der Verantwortung beruht auf der Überzeugung, dass der Bürger dieses Vertrauen in der Regel nicht missbraucht, sondern sich grundsätzlich positiv für sein Gemeinwesen einsetzt. Diese Betrachtungsweise lässt sich bereits im Mittelalter feststellen. So waren es zum Beispiel in Graubünden die Bauern, die sich aktiv an der Entwicklung des Staatswesens beteiligten. Sie waren hier die rechtmässigen Träger der politischen Macht. Auch oblag ihnen die Verantwortung, ihre Gemeinden gegen Angriffe zu verteidigen. Die so gearteten Bauernheere erwiesen sich schlagkräftiger als ausländische Söldnerheere (vgl. Rudolph C. Head. Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden, S. 13 ff). Man wusste, was man zu verteidigen hatte, nämlich ein relativ grosses Mass an Freiheit und Selbstbestimmung.
In der heutigen Zeit ist die Unterscheidung von Steuervergehen und Steuerbetrug, was in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien usw. nicht verstanden wird, ein Beispiel, das uns das grundsätzliche Vertrauen in den Bürger deutlich vor Augen führt. Der Mitbürger wird als Mitmensch gesehen, der ebenfalls ein Interesse am Gemeinwohl hat. So wird der Steuerzahler, wie in anderen Ländern üblich, nicht mit Misstrauen betrachtet und nicht als potentieller Steuerhinterzieher gesehen. Vergleichen wir das Steuerwesen mit anderen Ländern, müssen wir feststellen, dass diese Sichtweise erfolgversprechender ist. Die Schweiz hat bis heute ihre Finanzen im Griff. Auch wenn immer wieder Versuche unterommen werden, mehr auszugeben, als eingenommen wird. Mit der Schuldenbremse hat das Volk seinerzeit einem verantwortungslosen Umgang mit dem Geld einen Riegel geschoben.

Die innere Einstellung der Bürger zeichnet sich durch Gleichwertigkeit aus

Die direkte Demokratie funktioniert nur, wenn wir Bürgerinnen und Bürger haben, die durch Schule und Erziehung so geprägt werden, dass sie sich für die Geschicke des Landes interessieren und sich mit den politischen Fragen, die das Land betreffen, konstruktiv auseinandersetzen. Der Wille, an der politischen Entscheidungsfindung mitzuwirken, muss vorhanden sein, wenn wir die direkte Demokratie weiterhin erhalten und leben wollen.
Bis in der Schweiz sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene die direktdemokratischen Elemente in den jeweiligen Verfassungen festgeschrieben wurden, brauchte es grosse Anstrengungen und einen zähen Kampf, denn wer gibt schon gerne Macht ab. In den einzelnen Kantonen war es ein zähes Ringen, bis die Privilegierten bereit waren, die «Untertanen» an der Regierung zu beteiligen (vgl. Benjamin Adler. Entstehung der direkten Demokratie, S. 102 ff). Dennoch war die Schweizer Kultur und Tradition eine andere als zum Beispiel im deutschen Kaiserreich und den nachfolgenden Versuchen in Deutschland, eine demokratische Staatsform zu etablieren. Denn nicht nur die gute Schulbildung ist für das Funktionieren der direkten Demokratie eine Grundkomponente, sondern auch die innere Einstellung der Bürger untereinander, die sich durch Gleichwertigkeit auszeichnet, und das Milizsystem, das dafür sorgt, dass auch der Politiker in seinem Empfinden und Verhalten ein Teil der Gesellschaft bleibt und nicht abgehoben über seinen Wählern dahinschwebt, wie wir das aus anderen parlamentarischen Demokratien kennen. Dass man bei einem Spaziergang durch Bern auf eine oder einen unserer Bundesrätinnen oder Bundesräte trifft, nicht umringt von Bodyguards, wie wir das in anderen Ländern beobachten, ist keine Seltenheit, ganz abgesehen davon, dass man unsere Parlamentarier während der Session regelmässig in öffentlichen Verkehrsmitteln antreffen kann. Für unsere Nachbarländer ein Ding der Unmöglichkeit. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit werden Politiker in schwarzen Limousinen ins Parlament chauffiert, weit entfernt von ihren Wählern. Ausser am Fernseher oder bei Wahlveranstaltungen bekommt der Bürger seine Volksvertreter nicht zu Gesicht.

Keine aggressive Aussenpolitik

Die direkte Demokratie erlaubt, Entscheidungen zu fällen, die von der Mehrheit der Bürger getragen werden. Zum andern hat die Schweiz kein System von Regierung und Opposition, wie dies in parlamentarischen Demokratien üblich ist, sondern ein Konkordanzsystem, das zwar in letzter Zeit etwas durcheinander gewirbelt worden ist. Der Bundesrat, die Schweizer Regierung, setzte sich lange aus den grossen Parteien zusammen, die gemeinsam die Geschicke des Landes lenkten. Das erweist sich als stabilisierend für unser Land und stellt auf der anderen Seite eine Bremse für machtpolitische Gelüste einzelner dar.
Seit Jahrhunderten hat die Schweiz keine aggressive Aussenpolitik mehr betrieben, sondern vor allem für die Stabilität und Sicherheit im Inneren des Landes gesorgt, was, wenn man an den Sonderbundskrieg 1847 denkt, hoch anspruchsvoll war. Ob die Schlacht bei Marignano für diese Einsicht ausschlaggebend ist, soll hier nicht Gegenstand der Auseinandersetzung sein (vgl. Zeit-Fragen Nr. 9/10 vom 31.3.2015). Nur so viel sei dazu gesagt: Die Absage an die Machtpolitik ist eine Grundkomponente der modernen Schweiz, und diese lässt sich auch mit der Infragestellung einzelner historischer Ereignisse nicht wegdiskutieren. Wer hier versucht, einen Kahlschlag anzulegen, der hat mit der Schweiz etwas anderes im Sinn, als ihre Rolle als souveränen, neutralen, direktdemokratischen Kleinstaat zu stärken, der aufgrund seiner gelebten Neutralität auf dem internationalen Parkett oft als einziger Staat noch einen Ort für Verhandlungen anbieten kann.

Immerwährende bewaffnete Neutralität

Die Mehrsprachigkeit der Schweiz und ihre Lage im Herzen Europas unterstützten die Idee, den Weg der Neutralität zu gehen. Im Gegensatz zu anderen «neutralen» Staaten hat die Schweiz sich nicht nur dann auf die Neutralität berufen, wenn es für sie von Vorteil war. Die Neutralität ist eine Grundkomponente des schweizerischen Staatsverständnisses und gehört zu ihr wie die direkte Demokratie und der Föderalismus. In regelmässigen Umfragen attestiert die Schweizer Bevölkerung der Neutralität immer eine Zustimmung von nahezu 100 Prozent. Letztes Jahr waren es 96 Prozent (vgl. Sicherheitsbericht ETH 2014). Dass die Neutralität nur dann durchzusetzen ist, wenn sie eine bewaffnete ist – alles andere wäre Phantasterei. Aus diesem Grund haben die Vorväter des Schweizer Bundesstaates in weiser Voraussicht die immerwährende bewaffnete Neutralität als eine der Säulen unseres Staatswesens festgezimmert. Wer das mit dem fadenscheinigen Argument in Frage stellt, dass das in der heutigen Welt antiquiert sei, verfolgt eine eigene Agenda. Die Konflikte in letzter Zeit bestätigen die Bedeutung der Neutralität mehr denn je.
Die Neutralität hat aber nicht nur eine Funktion nach aussen, sondern gibt auch eine Beruhigung im Inneren des Landes, was bei den verschiedenen Sprach- und Kulturregionen eine beachtliche Leistung ist. So entspringt der Geist des Roten Kreuzes «Tutti fratelli», alle sind Brüder, genau dieser Auffassung (vgl. Henri Dunant. Eine Erinnerung an Solferino). Die Rotkreuz-Bewegung, wie sie sich seit ihrer Gründung 1863 entwickelt hat, war nur auf dieser Grundlage möglich. Solange die Neutralität eingehalten wird, kann sowohl das IKRK als auch die Schweiz ihre Sonderrolle beim humanitären Engagement wahrnehmen. Das heisst, das IKRK kann aktiv werden in politischen Kontexten, die es anderen Hilfsorganisationen schon lange nicht mehr erlauben, vor Ort zu sein. Das gleiche gilt auch für die Schweiz und hat sich letztes Jahr, als sie den Vorsitz der OSZE innehatte, deutlich gezeigt. Dank ihrer neutralen Verhandlungsposition ist es gelungen, das Minsker Abkommen zu beschliessen und damit einen Prozess einzuleiten, der heute, ein Jahr später, ganz kleine Früchte trägt. Die Neutralität der Schweiz ist also im internationalen Konzert etwas Aussergewöhliches, worauf die internationale Staatengemeinschaft auf keinen Fall verzichten kann. Wäre die Schweiz ein Mitglied der EU, dann müsste sie die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (Gasp) mittragen, die nichts anderes darstellt als einen militärischen Beistandspakt und im Kriegsfall eines Mitgliedslands solidarisches Handeln verlangt. Von Neutralität keine Spur. (vgl. Kasten)
Wenn wir uns die staatspolitischen Grundlagen der Schweiz vergegenwärtigen und sie kontrastieren mit den Herausforderungen, vor denen wir stehen, dann lässt sich eines festhalten: Ein Aufgehen der Schweiz in einer supranationalen Organisation wie der EU oder Nato führt zu einem Verlust grundlegender Eigenheiten der Schweiz. Die Entwicklungen der letzten Jahre und im besonderen der letzten Wochen und Monate haben vielen Zweiflern vor Augen geführt, wie die EU funktioniert. Die Argumentation der EU-Befürworter, die Schweiz könne sich dann einbringen und mitgestalten, wenn sie auch dabei wäre, ist ein schwaches Argument. Sowohl bei den Sanktionen gegen Russland als auch bei der Krise in Griechenland als auch bei der Flüchtlingskrise zeigt sich, dass die kleinen Länder in der EU nichts, aber auch gar nichts zu sagen haben. Den Kurs der EU bestimmen die Grossen nach dem alten undemokratischen Prinzip: Wer zahlt, befiehlt. Dass sich die Schweiz mit den Nachbarländern gut stellt, ist sicher keine falsche ­Politik, aber dort, wo es in unserem Land ans Eingemachte geht, braucht es Persönlichkeiten, die sich hinstellen und einmal sagen: Bis hierher und nicht weiter.
Die direkte Demokratie lebt von der Aktivität ihrer Bürgerschaft. Sie allein hat es in der Hand, wohin die Reise gehen wird. Ob die Schweiz weiterhin ein souveräner, föderaler, direktdemokratischer und neutraler Staat sein wird, der die Probleme mit Mass und zum Wohle seiner Bürger löst, hängt letztlich von uns Bürgern selbst ab. Nutzen wir unsere Mitsprache und melden uns zu Wort, wo es um unser Land und letztlich um unsere Freiheit geht. Verloren ist sie schnell, sie zurückzugewinnen wird, wenn es überhaupt gelingt, Jahrzehnte dauern.    •

Rahmenabkommen – ein Diktat der EU

«Ein Rahmenabkommen würde eine enge Verflechtung mit der EU mit sich bringen. Das zu erwartende Diktat der EU würde in seinem vollen Umfang spät erkannt, und schliesslich würde das Rahmenabkommen doch als unpraktikabel und als der Schweiz unwürdig empfunden. […] Wer sich für ein umfassendes Rahmenabkommen und damit für die Perspektive eines späteren Beitritts entscheidet, verzichtet für die Zukunft auf Neutralität, Souveränität sowie Unabhängigkeit und trägt dazu bei, die direkte Demokratie, den Föderalismus und die Gemeindeautonomie zu untergraben. Eine Schweiz in der EU wäre eine wesentlich andere Schweiz als die heutige. Das von der EU erwartete (institutionelle) Rahmenabkommen muss unter diesem Gesichtspunkt bewertet werden.»
Carlo Jagmetti

Quelle: «Neue Zürcher Zeitung» vom 6.10.2015

«Wäre die Schweiz ein Mitglied der EU, dann müsste sie die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (Gasp) mittragen»

«Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Aussenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschliesslich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.»

Quelle: EU-Vertrag Artikel 24, Abs. 1

«Die Mitgliedstaaten unterstützen die Aussen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten das Handeln der Union in diesem Bereich.»

Quelle: EU-Vertrag Artikel 24, Abs. 3

«Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die andern Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung . . .»

Quelle: EU-Vertrag Artikel 42, Abs. 7

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