Die westliche Politik ist ineffektiv und kurzsichtig

Die westliche Politik ist ineffektiv und kurzsichtig

Die Zusammenarbeit der BRICS-Länder basiert auf strategischer Selbständigkeit, der Unantastbarkeit der Souveränität und einem Gleichgewicht der Kräfte

von Fjodor Lukjanow*

ts. Am 4. März wurde Wladimir Putin mit 63,6% der abgegebenen Stimmen zum neuen Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Seine Wahl wurde im Westen mit grosser Gehässigkeit begleitet und kommentiert. Zahlreich waren auch die Versuche, nach dem Muster der Farbenrevolutionen gemäss dem US-Agenten Gene Sharp Russland in Turbulenzen zu stürzen – Serbien, Ukraine und andere Versuche lassen grüssen.
Das russische Abstimmungsergebnis ist klar und steht unwiderruflich fest. Zeit also für den Westen, sich den Gegebenheiten zu stellen und mit den Unterstellungen an die Adresse Putins aufzuhören. Zeit auch, sich ernsthaft mit den Inhalten seiner Politik auseinanderzusetzen, mithin der Politik des flächenmässig grössten Landes unseres Planeten. Denn genau dies hat man im Westen vor den Wahlen vergeblich gesucht: eine inhaltliche und differenzierte Darstellung der ­Positionen des Kandidaten. Ein Ärgernis, mit welchem sich der Bürger des Westens auch bei eigenen Wahlgeschäften immer öfter konfrontiert sieht, raten doch die Think Tanks mit ihren Spin doctors und den Propaganda­tricks des Neurolinguistischen Programmierens den zu wählenden Kandidaten, auf Inhalte zu verzichten und lediglich Stimmungen zu transportieren. Dementsprechend inhaltsleer sind denn auch die Wahlgänge in den westlichen Ländern geworden, wahrlich kein Ruhmesblatt für die Erfinderländer der Demokratie.
Damit die Leser von «Zeit-Fragen» erfahren, welche Positionen das grosse östliche Land künftig vertreten wird, drucken wir hier einen Artikel des Chefredakteurs der Zeitschrift «Russia in Global Affairs», Fjodor Lukjanow, ab. Lukjanow kommt das Verdienst zu, mehrere Artikel Wladimir Putins, insbesondere den letzten vor seiner Wahl, in der Zeitung «Moskowskije Nowosti» analysiert zu haben. Was sich dem Leser da präsentiert, ist eine differenzierte Sicht auf die heutige Welt, die längst nicht mehr die uni­polare Welt von 1991 bis 2006 ist, wie sich viele westliche Zeitgenossen immer noch vormachen. Sondern eine Welt der verschiedenen Pole, mit einer Reihe von Staaten, welche sich die Mär von westlichen Werten, wenn es effektiv um westliche Interessen geht,  nicht mehr anhören mögen, wie dies der Diplomat aus Singapur, Kishore Mahbubani, trefflich formuliert hat – immerhin in den US-Medien als einer der 100 einflussreichsten Denker der Zeit gehandelt.
Irgendwie beschämend für uns Westler, wenn wir uns vom russischen Präsidenten Putin und damit einem Vertreter der BRICS-Staaten sagen lassen müssen, dass die Ergebnisse des Westfälischen Friedens von 1648, die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität, auch heute und weiterhin Grundlagen für ein friedliches und zivilisiertes Zusammenleben sind und sein müssen. Der Ansatz der völkerrechtlich fragwürdigen «responsibility to protect» der westlichen Kriegsallianz, welche ein neues Interventionsrecht propagieren will, an Art. 51 der Uno-Charta vorbei, wird in den aufstrebenden neuen Grossmächten offensichtlich nicht weiter akzeptiert. Insofern haben China und Putins Russland mit ihrem Veto zu Syrien einen Pflock für die Bewahrung der Westfälischen Prinzipien eingeschlagen, Prinzipien, die nach den leidvollen Erfahrungen des verheerenden 30jährigen Krieges den europäischen Völkern den lange ersehnten Frieden brachten. Sollten die Menschen in Europa ihre Geschichte und die Lehren daraus vergessen haben, ist es um so begrüssenswerter, vom Vertreter eines Landes daran erinnert zu werden, welches eine Brückenstellung zwischen Europa und Asien einnimmt, mithin eine wichtige Rolle in einem friedlichen Miteinander der eurasiatischen Völker. Auf Russland zuzugehen mag vielleicht Geostrategen vom Schlage eines Zbigniew Brzezinski nicht in den Kram passen, welche ihre Vormachtrolle durch eine europäisch-russische Freundschaft gefährdet sehen – ein Ansatz für eine friedlichere Welt ist das Aufeinander-Zugehen allemal. Und dies beginnt damit, einander zuzuhören und zuallererst die Position des anderen in Ruhe und unverstellt zur Kenntnis zu nehmen.  

Die Welt ist Putin zufolge unvorhersehbar und vielfältig gefährlich – von der zunehmenden ungeduldigen Kampfeslust und der Erosion des internationalen Rechts bis zum «rechtswidrigen soft power» (ein neuer Begriff), der zwar von aussen eindringt, jedoch innen zersetzt.
Ein gespannt-defensiver Pathos steht im Vordergrund: Man muss bereit sein, den zahlreichen Herausforderungen und Gefahren Widerstand zu leisten. Dadurch unterscheidet sich der Pathos von dem seiner Münchner Rede vor fünf Jahren, die einen offensiven und sogar aggressiven Ton hatte. Statt dessen sind heute Aufregung und Besorgtheit zu erkennen.
Wie soll sich Russland in dieser Welt verhalten?
Russland soll vor allem nicht mehr auf die Ereignisse vor 20 Jahren zurückblicken. Putin schrieb in seinem ersten Artikel darüber, dass die Post-Sowjet-Ära zu Ende und inhaltlich ausgeschöpft sei. Das ist wichtig, weil der Zerfall der Sowjetunion zuvor als Ausgangspunkt bezeichnet worden war. Das Land und die politische Elite konnten das Trauma lange Zeit nicht überwinden. In Putins letztem Artikel wird der kalte Krieg fast nicht erwähnt, was ungewöhnlich ist – vorher kam man ohne diesen Begriff nicht aus. Das bedeutet, dass die Probleme in den Beziehungen zu den USA und zum Westen nicht auf die Trägheit der Konfrontation im 20. Jahrhundert geschoben werden sollten. Das gehört bereits der Vergangenheit an. Die Nichtübereinstimmung der Interessen ist in vielen Fällen objektiv erkennbar.
Putins Russland ist vom Westen enttäuscht. Nicht aus dem Grund, weil der Westen Russland nicht respektiert und es nicht als gleichberechtigten Partner anerkennen will. Darüber wurde bereits viel gesprochen. Viel schlimmer ist etwas anderes: Die westliche Politik bringt nicht die beabsichtigten Ergebnisse. Anders gesagt, sie ist ineffektiv und kurzsichtig. Vom «arabischen Frühling» bis zur europäischen Schuldenkrise, von Iran bis Nordkorea – alles verläuft nicht so, wie es geplant worden war. Putin ist zwar nach wie vor der Ansicht, dass die wichtigsten politischen Impulse vom Westen ausgehen, er verhält sich dazu jedoch ruhiger – beim Westen klappt sowieso nichts. Putin sieht die Situation in der Welt in einer Wechselbeziehung, wobei betont wird, dass alle Handlungen unvermeidliche Folgen nach sich ziehen. Das ist zwar ein banaler Gedanke, die heutige Praxis zeigt aber, dass über die Folgen nur am Ende nachgedacht wird. Jeder Fall wird gesondert betrachtet, als ob er isoliert existiert.
Wladimir Putin schreibt über die Grundlagen der Weltordnung, wobei die üblichen Ansichten wiederholt werden: Im Fokus der internationalen Beziehungen steht das seit Jahrhunderten geltende Prinzip der staatlichen Souveränität. Der Schutz der Menschenrechte von aussen sei «einfache Demagogie». Putin ist fest davon überzeugt, dass noch kein anderes Grundprinzip gefunden wurde, das die Rolle der Souveränität abschaffen würde. Die Weltpolitik basierte auf festen Prinzipien und nicht auf abstrakten Werten, deren praktische Anwendung jedes Mal nach Belieben (ausgehend von den Kräfteverhältnissen) bestimmt wird.
Russland muss laut Putin eine Weltmacht bleiben, die als Akteur in der Weltpolitik überall präsent ist. Dadurch unterscheidet sich Putins Herangehen von dem Medwedews (Schwerpunkt auf den unmittelbaren, geographisch nahen und trotzdem sehr breiten Interessen). Weltumspannende Aktivitäten sind notwendig, um die Positionen im Bereich des direkten Einflusses nicht zu verlieren. Der globale Status ist also nicht für eine Expansion, sondern für den Erhalt des Status quo notwendig. Putin betrachtet Russ­land nicht als einen systematischen Opponenten der USA (wie viele meinen), sondern als einen Garant des klassischen Systems der Visionen und Beziehungen, die Putin zufolge die BRICS-Länder teilen. Als Grundlage dieses Systems gelten die strategische Selbständigkeit, die Untastbarkeit der Souveränität und das Gleichgewicht der Kräfte.
Putin hat keine Zweifel daran, dass Russ­land ein Objekt des ständigen und vorwiegend unfreundlichen Einflusses ist: von den militärischen Herausforderungen (die Raketenabwehr und die Entwicklung der Militärtechnik, die Nato-Erweiterung) bis zum Aufdrängen von Formen der Gesellschaftsordnung (durch «Informationskampagnen» und die rechtswidrige soft power). Die Welt wird gänzlich als ein überaus risikobehaftetes und feindliches Milieu wahrgenommen. Nur ein starker und mächtiger Staat wird sich dabei durchsetzen können. «Russland wird nur dann mit Respekt wahrgenommen und berücksichtigt, wenn es stark ist und fest auf den Beinen steht», schrieb Putin in seinem Artikel.
Putin hat ein grosses Misstrauen gegenüber den USA, das in seinen beiden Amtszeiten bei seinem Treffen mit George W. Bush gewachsen war. Bei seinen öffentlichen Äusserungen ist dies stets durchzuhören. Dabei ist Putin aufrichtig bei seinen Aussagen. Die Pause von dreieinhalb Jahren, als Putin sich nicht unmittelbar mit der Aussenpolitik beschäftigte, konnte den Schmerz wegen der fehlenden Gegenseitigkeit in den 2000er Jahren nicht lindern. Das wird sich auf die Aussenpolitik auswirken.
Dennoch sieht Putin Russland als ein offenes Land, das zur Wirtschaftskooperation mit allen bereit ist, sich nicht verschliesst und im Wirtschaftsbereich keine Autarkie aufbauen will. In diesem Sinne ist seine Äusserung darüber kennzeichnend, dass der Kauf neuer Technik im Ausland übliche Praxis sei (in einem vernünftigen Ausmass). Zudem erklärt er den Nutzeffekt von Russlands WTO-Beitritt, der von Smolensk bis Wladiwostok kühl bewertet wird. Putin interessiert sich für das Grossbusiness, die Förderung von strategischen Allianzen von Grossunternehmen, grosse Deals als Mittel zur politischen Annäherung.
Russland schaut viel aufmerksamer nach China und Asien, darunter in bezug auf die Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens. Eine gemeinsame Position zu den Problemen der Weltordnung, über die seit langem gesprochen wird, wird jetzt vom Wunsch begleitet, den «chinesischen Wind» in die «Segel» der russischen Wirtschaft aufzufangen. Die ernsthaften Absichten gegenüber dem östlichen Nachbarn werden dadurch bestätigt, dass auch «Reibungen» erwähnt werden, darunter Einwandererströme. Das bedeutet, dass China ein tatsächlich wichtiger Teil der aussenpolitischen Agenda ist.
Der Verlauf der Ereignisse in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass eine ernsthafte strategische Planung in der heutigen unvorhersagbaren Welt fast keinen Sinn hat. Es hat sich herausgestellt, dass Russlands bisherige Taktik des Reagierens auf die sich ständig verändernden Impulse die einzig vernünftige Entscheidung ist. Darauf bereitet der russische Präsidentschaftskandidat Nummer eins sowohl sich selbst als auch das Land vor.    •

*    Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

Quelle: Ria Novosti vom 1.3.2012

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