Etwas mehr Nachdenklichkeit könnte dem heutigen Europa nicht schaden

Etwas mehr Nachdenklichkeit könnte dem heutigen Europa nicht schaden

ts. Seit der Öffnung des eisernen Vorhangs beteiligt sich das, was sich heute Europa nennt, an einem Krieg nach dem anderen. Resultat: eine Weltwirtschaftskrise und eine innereuropäische wirtschaftliche Misere, die alles Gesehene in den Schatten zu stellen droht. Und alles nur, damit sich Goldman Sachs und weitere Banken in ihrer masslosen Gier weitere Nullen hinter ihre x-stelligen geraubten Vermögensbestände schreiben können. Und schon wird der nächste Nato-Einsatz geplant, diesmal in Somalia …     
    Hätte Europa nicht etwas anderes zu tun? Statt die Kriegstrommeln zu rühren, innezuhalten und über Kriege und deren Folgen ehrlich nachzudenken?    
    Der nachfolgend abgedruckte Text von J.R. von Salis aus dem Jahr 1945 ruft uns in eindringlichen Worten und Bildern in Erinnerung, was Krieg für die Betroffenen bedeutet: seelischer Zusammenbruch, Hoffnungslosigkeit, Betrogen-Sein auf der ganzen Linie. Und dies nicht nur auf seiten der Angegriffenen, nein, der Bumerang, den der Aggressor in den Himmel geschleudert hat, wird mit hundert- und tausendfacher Wut zurückkommen und die eigenen Städte zerschlagen. Von Salis gibt uns Nachgeborenen, die den Respekt vor dem Krieg verloren haben, zu bedenken, dass ein Krieg zur Umkehrung aller Dinge führt: «Wer mächtig war, ist zur Ohnmacht verurteilt, wer unterdrückt war und litt, ist der Meister.» Kriege, so die Einsicht nach der Lektüre des unten abgedruckten Auszuges, sind als Angriffskriege immer ein Verbrechen, darüber hinaus aber auch nie plan-, geschweige denn begrenzbar. Um mit dem grossen Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt zu sprechen, kommt es immer zur schlimmstmöglichen Wendung, zur Katastrophe, und zwar auch für die Täter. Was schon Barockdichter wie Andreas Gryphius in den «Tränen des Vaterlandes» und Heinrich von Kleist in seiner Meister-Novelle «Die Marquise von O…» und viele andere Dichter nach verheerenden Kriegen wie dem 30jährigen oder den Napoleonischen und all den anderen festhielten: Krieg ist unter keinem Titel zu rechtfertigen, da immer von unmenschlichen Motiven geprägt und Unmenschlichkeit nach sich ziehend. Es stünde der hoch ausgebildeten, gut genährten und mit allem ausgestatteten Jugend des europäischen Abendlandes, in der Gefolgschaft der europäischen Aufklärung und des Humanitätsideals der deutschen Klassik, gut an, sich mit besonnenen Älteren einer ehrlichen und an der Menschenwürde orientierten Politik zu verpflichten. Die Welt sieht uns dabei zu. Eine Welt, die multi­polar geworden ist und sich gerne an den Werten des Westens, so sie denn ehrlich und universell sind, mit orientiert, wie dies Kishore Mahbubani mehrmals betont hat. Damit der Bumerang nicht zurückschlägt, gibt es nur eins: Man darf ihn erst gar nicht werfen, dies das Vermächtnis des grossen J.R. von Salis.

Bei der Armee «Rhein und Donau», April 1945

von J. R. von Salis

Ehe der Vorstoss zum Bodensee, ins Alpenreduit und zur Teilnahme am vollständigen Sieg der alliierten Armeen in Deutschland und Österreich einsetzte, hatte die französische I. Armee, wie ihre amerikanischen und englischen Kameraden an den anderen Sektoren der Front, noch die letzten schweren Kämpfe dieses Krieges auszufechten. Es ist offensichtlich, dass die Deutschen gehofft hatten, den Gegner durch einen «heissen Empfang» um die Früchte seiner Rheinüberquerung zu bringen, und dass überall, von der holländischen Grenze bis nach Baden und Württemberg, trotz den bereits vorher erlittenen Rückschlägen, die deutschen Militärs und Parteistellen sich durch die Wucht und den Erfolg der alliierten Offensive überraschen liessen. So unwahrscheinlich es jetzt, da man vor dem Trümmerhaufen des Dritten Reichs steht, klingen mag: In der Deutschlandoffensive der Alliierten hat das Überraschungsmoment noch einmal eine grosse Rolle gespielt, und alles, was man sah, zeugte von der vollständigen Überraschung und Verwirrung, die der erfolgreiche Einbruch des Feindes ins rechts­rheinische Reichsgebiet erzeugt hat.
Vor allem hatte die Zivilbevölkerung etwas Derartiges offensichtlich nicht erwartet, und das plötzliche Erscheinen der Franzosen in den Tälern des Schwarzwaldes, in den kleinen Städten am Neckar und an der oberen Donau hat die Bewohner vor allem verblüfft, verwirrt und bestürzt. Noch hofften wohl viele Badener und Württemberger, die deutschen Truppen würden sich in einem geordneten Rückzug ins Alpenreduit begeben, um dort dem Ansturm der Feinde die Stirn zu bieten. Als aber die endlosen Züge von deutschen Kriegsgefangenen in beklagenswertem Zustand durch Städte und Dörfer und über die Landstrassen den Gefangenenlagern zugeführt wurden, die bisher der Unterbringung der alliierten Kriegsgefangenen gedient hatten, verlor das Volk seine letzten Hoffnungen und Illusionen.

Zu einem Volk von Heuchlern erzogen

Es mögen später andere Reaktionen im Verhalten der Bevölkerung des besetzten Deutschland eintreten: Zunächst hat man den Eindruck eines völligen seelischen Zusammenbruchs und einer gänzlichen Hoffnungslosigkeit. Alles hatte getrogen, und um alles sind die Deutschen betrogen; in den südlichsten Gebieten, von der Donau bis zur Schweizer Grenze, wurden an manchen Orten die einziehenden Franzosen freundlich und in Konstanz sogar freudig begrüsst. Es mag vielerorts Erleichterung darüber herrschen, dass die Bombengefahr aufgehört hat, ja, in Stuttgart sagte uns ein Passant, ein älterer, einfacher Mann, mit dem wir plaudern konnten, es sei gut, dass man wieder sagen könne, was man denkt, ohne sich immer bespitzelt und für jedes unvorsichtige Wort in seinem Leben bedroht zu fühlen: «Die Nationalsozialisten haben uns zu einem Volk von Heuchlern erzogen, und es ist höchste Zeit, dass wir uns das Heucheln wieder abgewöhnen und offen sagen können, was wir denken.» Andererseits ist doch noch das Misstrauen gegen das Neue und Unbekannte – in einem Wort: gegen die Besetzung durch feindliche Truppen – das vorherrschende Gefühl; dazu kommt die vollkommene Ungewissheit über das weitere Schicksal des Landes. Bedrückt, ängstlich, aber nicht unfreundlich, im Gegenteil zu jedem Dienst und zu jeder Auskunft bereit und diese auch gewissenhaft gebend, den Befehlen der Besatzungsmacht mit gewohnter Disziplin und Pünktlichkeit nachkommend, bereit zu arbeiten und fleissig zu arbeiten, wenn ein Platzkommandant Arbeitskräfte requiriert, akkurat im Befolgen des Ausgehverbotes oder anderer Anordnungen: so fanden die Franzosen ein Volk vor, das in seiner Niederlage und Enttäuschung diszipliniert, arbeitsam und ordentlich geblieben ist, was übrigens die ersten, schwierigen Aufgaben der Besatzungsbehörden nicht wenig erleichterte. Überall hat sich die Zusammenarbeit zwischen Lokalbehörden und französischen Militärbehörden bisher reibungslos gestaltet.

Krieg führt zur Umkehrung aller Dinge

Heute erlebt Europa die Umkehrung aller Dinge: Wer mächtig war, ist zur Ohnmacht verurteilt, wer unterdrückt war und litt, ist der Meister. Es gibt in Deutschland zwei Arten von glücklichen Menschen: die Soldaten der siegreichen Armeen, die, mit neuem militärischem Ruhm bedeckt, endlich den Lohn für lange, blutige, im Lauf der Jahre mit schweren Rückschlägen verbundene Kämpfe empfangen, und die Fremdarbeiter, Deportierten und Kriegsgefangenen, deren Sklavendasein nun beendet ist, denen mit der Niederlage Deutschlands die Freiheit und neue Hoffnung wiedergegeben wurde. Das untergegangene Regime des Nationalsozialismus hat zweifellos eine letzte, schwere Schuld gegenüber dem deutschen Volk auf sich geladen, als es die nicht zum Kriegsdienst eingerückte Zivilbevölkerung – Frauen, Greise und Kinder – schutzlos mit den Fremdarbeitern zurückliess. Was nach den Worten eines hohen französischen Offiziers beim Abzug der deutschen Wehrmacht aus Stuttgart vorgefallen ist, war ein «Sklavenaufstand». Halb verhungerte, in Lumpen gekleidete, unter drückenden Bedingungen arbeitende und lebende Fremde waren plötzlich in Freiheit, wollten sich satt essen und zu einer Garderobe kommen. Solche Fremdarbeiter und Deportierte gab es überall, ihre Zahl muss enorm gewesen sein, denn sie beherrschten das Bild der Strassen in den Städten und Dörfern Süddeutschlands. Ausserdem entliessen die «Stalags» ihre Insassen, und auch diejenigen Kriegsgefangenen, die nicht in Lagern interniert, sondern in «Kommandos» bei Bauern und Gewerbetreibenden untergebracht waren, hatten teil an der grossen, freudigen Befreiung.

Ihrem Heimatboden entrissene Menschen

Die französischen Besatzungsbehörden sahen sich vor nicht einfache Aufgaben gestellt, denn es galt, diese Ströme zu kanalisieren, die befreiten Gefangenen und Sklaven neu zu gruppieren, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und doch Unordnung und Ausschreitungen vorzubeugen oder ihnen ein Ende zu bereiten, wo solche vorgekommen waren. In einem Land, wo keine Eisenbahn fährt – und gar nicht fahren könnte, da die Deutschen mit einer Gründlichkeit ohnegleichen ihr ganzes Bahnnetz durch Sprengungen unbrauchbar gemacht haben, nachdem die anglo-amerikanischen Bomber längst zahllose wichtige Bahnhöfe und Brücken zerstört hatten – und wo das Strassennetz durch die Autotransporte einer kriegführenden Armee belastet ist, begegnet der Abtransport der befreiten Gefangenen und Deportierten allerhand Schwierigkeiten. Man trifft sie im ganzen Land, in den Dörfern des Schwarzwaldes wie auf der Schwäbischen Alb und auf allen Landstrassen an, wie sie sich anschicken, in kleinen Gruppen mit ihrem Bündel, oft einen Leiterwagen hinter sich herziehend, das ungastliche Land zu verlassen. Am zahlreichsten sind unter diesen Wanderern die Franzosen, die es nicht weit haben bis zum Elsass; aber auch viele Russen lassen sich’s nicht verdriessen, nordwärts zu gehen. Man erkennt diese Fremden an den Bändern in ihren Nationalfarben, die sie am Rockaufschlag tragen; die meisten sind noch in den Ortschaften, wo sie interniert waren, und warten auf den Abtransport. Wir trafen auffallend viele Holländer. Die Kinder jeden Alters sind unter diesen verschleppten Fremden erstaunlich zahlreich. Russische Knaben von zehn und zwölf Jahren ziehen in den Strassen herum und bilden mit anderen Schicksalsgenossen ein dankbares Publikum für die militärischen Aufzüge der Franzosen. Sonntag morgen, als wir an einem Waldrand des Schwäbischen Jura geduldig auf die Reparatur unseres Wagens warteten, kam ein strahlender polnischer Papa mit seinen beiden kleinen Mädchen an der Hand daher und erklärte uns in einem schwierigen Deutsch, er komme von der Messe. Es muss ein unerhörtes Gefühl sein, nach fünf Jahren Gefangenschaft und Erniedrigung an einem strahlenden Frühlingsmorgen durch den Wald und querfeldein mit seinen Kindern zum nächsten Dorf in die Kirche wandern und seine Freiheit geniessen zu können. Sehr rasch haben die Franzosen sogenannte «Centres d’acceuil» für befreite Kriegsgefangene und Fremdarbeiter organisiert, wo sie ihre Zeit verbringen, die Mahlzeiten einnehmen, Kaffee trinken und übernachten können. In Speyer fanden wir sie beim «Z’vieri» in einem zu diesem Zweck requirierten Kaffeehaus, wo nun die deutsche Kapelle für diese Menschen spielt, die nicht alle freudig sind, weil sie zu viel Leid erlebt haben und nicht wissen, ob sie zu Hause die Ihren noch am Leben und ihre Stadt oder ihr Dorf unzerstört finden werden; Greise sitzen dort vor ihrem Kaffee neben Knaben. Welche unselige Wut hat doch all dieses Unglück angerichtet, alle diese Menschen ihrem Heimatboden entrissen, sie in der Welt herumgejagt, bis nun in kleinen deutschen Städten eine Art Turm zu Babel übriggeblieben ist, wo keiner die Sprache des anderen versteht und eine französische Armee ins Land kommen muss, um zum Rechten zu sehen und die Unglücklichen heimzubefördem . . .

Krieg – ein fürchterlicher Bumerang

Der fürchterliche Bumerang, den Hitler und Göring vor fünf Jahren in den Himmel Europas schleuderten, als sie mit ihrer Luftwaffe fremde Städte «ausradieren» wollten, ist nach seinem verheerenden Flug mit hundert- und tausendfacher Wut zurückgekommen und hat die deutschen Städte zerschlagen. Der Anblick dieser einst blühenden Städte ist trostlos und bestürzend, und niemand kann vor diesem zerbrochenen, zermalmten, verbogenen, zerbröckelnden, verbrannten, in wüstem Durcheinander herumliegenden Riesenspielzeug seine widerspruchsvollen Gefühle zu einem restlos aufgehenden Urteil zusammenfassen. Blühender Flieder und Ginster, ja sogar in den Gärten zerstörter Häuser Tulpen und andere Blumen, die trotz allem ihre jungen Farben der Frühlingssonne entgegenstrecken, grelles Grün von ungeduldig ausschlagenden Bäumen und Büschen zeugen vom Triumph der Natur über vergangenes Menschenwerk. Stuttgart liegt in Trümmern; nur die Villenquartiere auf den sich über den Stadtkern erhebenden Hügeln sind unversehrt. Der Bahnhof, dessen Fassade noch rauchgeschwärzt steht, ist ein wildes Durcheinander von verbogenem Eisen, das Hotel Marquardt ist ganz ausgebrannt, das königliche Schloss ist nur noch eine teilweise stehengebliebene Rokokofassade, daneben ist das stattliche Gebäude, in dem die Zentrale derAuslandspropaganda der NSDAP untergebracht war, ebenfalls halb zerstört: denn Stuttgart war die Hauptstadt des Auslanddeutschtums . . .

Klänge der Marseillaise in Stuttgart

In der Nähe der Hauptstrasse hatte ein Bataillon französische Infanterie zu einer Fahnenübergabe Aufstellung genommen. Es sind ehemalige F. F. I., die sich freiwillig für zwei Jahre zum Kriegsdienst gemeldet hatten und nun, nachdem sie eine militärische Ausbildung erhalten und erste Erfahrungen in einem organisierten Feldzug gesammelt haben, als reguläre Einheit in die französische Armee aufgenommen wurden. (In der französischen Armee in Süddeutschland dürften nunmehr ein bis zwei Regimenter ­F. F. I. Aufnahme gefunden haben; die Offiziere des Maquis, soweit sie zur Armee wollten, haben inzwischen eine Kaderausbildung genossen, die übrigen Kader dieser neuen Einheiten sind aus Berufsoffizieren gebildet.) In tadellos gegliederten Kolonnen präsentieren diese blutjungen Soldaten, die sportlich sitzende Khakiuniformen und weisse Gamaschen tragen, vor der Regimentsfahne das Gewehr, während das Regimentsspiel die Klänge der Marseillaise in die Ruinenstadt schmettert. Ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen, einige Einheimische, alte Leute, bleiche Mädchen und Kinder, blicken wie gebannt auf das kontrastreiche Schauspiel. Mit dem klingenden Spiel an der Spitze marschiert das Bataillon durch die Hauptstrasse zum Schloss, vor dessen gähnenden Löchern und übriggebliebenen Ornamenten das erste Défilé eines französischen Regiments in der eroberten Hauptstadt Württembergs stattfindet. Die Schlacht um Stuttgart wird vielleicht in die Kriegsgeschichte als ein Musterbeispiel einer vorzüglich ausgeführten Operation des modernen Bewegungskrieges eingehen. Als die Einheiten de Lattres am 30. März in der Nacht zwischen Speyer und Germersheim den Rhein überquerten, fanden sie jenseits der Pforzheimer Senke vor Stuttgart vier deutsche Divisionen, die dort den Frontalangriff des Feindes erwarteten. De Lattre liess nur wenige Streitkräfte westlich von Stuttgart, während er eine Panzerdivision durch den Schwarzwald nach Süden schickte – wo die Deutschen wegen der Bodenbeschaffenheit den Angriff für unwahrscheinlich hielten. Bei Freudenstadt, wo heftige Kämpfe stattfanden, machte die Panzerdivision eine Wendung nach Nordosten und gelangte so in den Süden von Stuttgart. Im Rücken bedroht, von vorn aus der Richtung von Pforzheim angegriffen, gerieten die Verteidiger von Stuttgart in Verwirrung und mussten am 21. April den Franzosen die Stadt überlassen. Gleichzeitig war eine französische Kolonne von Karlsruhe aus (das schon am 4. April den Franzosen in die Hände gefallen war) auf dem rechten Rheinufer südlich vorgestossen, wo wir in Rastatt die Spuren der schweren Kämpfe sahen, die dort stattgefunden hatten. Am Bahnhof von Rastatt hing die zerfetzte, aber noch leserliche Aufschrift «Deutscher Sieg oder bolschewistisches Chaos». Diese Kolonne hat sich dann der Stadt Kehl bemächtigt und nach Durchkämmung der Schwarzwaldhöhen die letzte Bedrohung von Strassburg vom Badischen her ausgemerzt. Bei Freudenstadt ist ausser der Einheit, die den Angriff auf Stuttgart ausführte, eine andere Einheit nach Süden, Richtung Schweizer Grenze, vorgestossen, worauf die am Rhein und in den südlichen Ausläufern des Schwarzwaldes befindlichen Teile von vier deutschen Divisionen von ihrem Rückzug abgeschnitten waren. Bei einem Versuch, den der dort kommandierende General machte, durch einen Ausbruch sich mit dem Gros der deutschen Armee am Bodensee zu vereinigen, wurden diese vier Restdivisionen – es waren nur noch ungefähr 12 000 Mann – von französischen Fliegern und motorisierter Artillerie vernichtet, der Rest der Truppenbestände gefangengenommen. Erst die Liquidierung dieser feindlichen Taschen im Schwarzwald erlaubte es den Franzosen, in der letzten Aprilwoche den Vormarsch gegen den Bodensee und Konstanz aufzunehmen. Vorher musste die Neckarlinie gesichert, bei Donaueschingen und Sigmaringen die Donau forciert werden, wobei eine französische Kolonne von Sigmaringen aus Ulm besetzte.

Reif zur totalen Niederlage

Das ist in grossen, schematischen Zügen der Verlauf des französischen Feldzugs in Süddeutschland, der genau vier Wochen gedauert hat. Der Widerstand der deutschen Wehrmacht war gebrochen; die deutsche 19. Armee und die ihr in der letzten Phase beigegebenen zwei Armeekorps, die allerdings zu ihrem grossen Nachteil der Unterstützung durch die Luftwaffe ermangelten, waren zersplittert, teilweise aufgerieben und zum grössten Teil mit ihren Generälen gefangengenommen. Auf französischer Seite waren die an diesen Operationen führend beteiligten Korpskommandanten die Generäle de Monsabert und Béthouart. De Lattres und seiner amerikanischen Kollegen Bestreben war es, so rasch zum Alpenréduit zu gelangen, dass dort dem Gegner keine längere Verteidigung möglich sei; daher waren im Westen Feldkirch und weiter östlich Immenstadt als Ziele des französischen Vormarsches bezeichnet worden. Da die Vernichtung des Gegners bereits zur Tatsache geworden war, ehe er Zeit hatte, in geordnetem Rückzug in die Alpen zurückzufallen, sind die Armeen Patch und de Lattre zuletzt, ohne Widerstand zu finden, in Südbayern und in Österreich eingedrungen. Die deutsche Wehrmacht war reif zur totalen Niederlage, nachdem sie ihren Gegnern jahrelang das Beispiel des totalen Krieges gegeben hatte.
Als wir in der Nacht des 29. April über Konstanz in die Schweiz zurückkehrten, wuss­ten wir, dass der Krieg zu Ende ging. Alles war praktisch schon fertig, denn es ist nicht möglich, dass eine Armee vollständiger besiegt, ein Land mehr zusammengebrochen sein kann als Deutschland und seine Wehrmacht. Es gibt in Deutschland noch Städte, die gänzlich unversehrt sind, wie Baden-Baden und Speyer; es gibt kleine Städtchen, wie Sigmaringen und Tübingen, die kaum oder gar nicht gelitten haben, es gibt zahllose intakte Dörfer, einen reichen Boden, bestellte Felder, grosse Wälder. Auf dieser Grundlage, unter fremder Besetzung, wohl noch lange ohne eigene Staatlichkeit, aber mit Bescheidenheit und Fleiss, wird das deutsche Volk sich im Laufe langer Jahre eine neue Existenz aufbauen müssen.

Quelle: J. R. von Salis. Kriege und Frieden in ­Europa. Politische Schriften und Reden 1938–1988.
Orell Füssli. Zürich 1989. Auszug aus dem Text: Bei der Armee «Rhein und Donau», April 1945. S.79–85. ISBN 3 280 01921 4s

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