Immanuel Kant und internationale Beziehungen der Neuzeit

Immanuel Kant und internationale Beziehungen der Neuzeit

von Prof. Dr. habil., Oberst i.G.a.D. Wjatscheslaw Daschitschew,
Russische Akademie der Wissenschaften, Zentrum für internationale wirtschaftliche und politische Studien, Wirtschaftsinstitut

Der theoretische Nachlass von Kant, insbesondere sein Traktat «Zum ewigen Frieden» kann und muss auch heutzutage als die unabdingbare Norm des Verhaltens der Staaten, vor allem der Grossmächte, in der Weltarena dienen.
Leider machten sich europäische Politiker seine Lehre nicht zu eigen. Statt des ewigen Friedens kam es in Europa und auf anderen Kontinenten ununterbrochen zu Kriegen. Die europäischen Völker erlebten im 20. Jahrhundert den Schrecken zweier «heisser» und eines «kalten» Weltkrieges. Das Perpetuum mobile von Kriegen und Konflikten dreht sich ständig, auch im 21. Jahrhundert.
In seinem philosophischen Traktat «Zum ewigen Frieden» formulierte Kant die wichtigsten «Verbotsgesetze», von denen sich die Staatsmänner in ihrer Politik auf internationaler Ebene unbedingt leiten lassen sollten, um den Frieden nicht zu gefährden und den Ausbruch von Kriegen verhindern zu können. Wie lauten diese Gesetze?

«Kein Staat darf sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates gewaltsam einmischen.»

So begründete Kant das fundamentale Prinzip des Völkerrechts – die Souveränität jedes Staates, deren Verletzung oder Zerstörung der Anfang allen Übels für die internationale Gemeinschaft ist und auch zur Entfesselung von internationalen Konflikten führt. Die willkürliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, so Kant, kann «nur die Anarchie» in internationalen Beziehungen heraufbeschwören. Er war der Meinung, zwischen den Staaten sei der Krieg zum Zwecke der Bestrafung (bellum punitivum) unzulässig. Es wäre verhängnisvoll, die Staaten nach dem Prinzip «Suzerän (Lehnsherr) – Vasall» zu gliedern.
Im Gegensatz zu Kant betrachten die ­Politiker in Washington «Bestrafungskriege» ­(Jugoslawien, Afghanistan, Irak) als eine normale und notwendige Praxis. Sie schrecken nicht davor zurück, das eigene Volk und die Weltöffentlichkeit durch falsche Vorwände und primitive Argumente irrezuführen, um diese Kriege zu rechtfertigen und entfesseln zu können.
Das Problem der Souveränität eines Staates sieht heute, im Zeitalter der schnell voranschreitenden Internationalisierung, natürlich anders aus als in der Vergangenheit. Unter den Verhältnissen der regionalen oder kontinentalen Integration, wie das in der EU der Fall ist, können einzelne Staaten einen Teil ihrer Staatshoheit an die gemeinsame internationale Organisation freiwillig delegieren, wenn das ihren sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessen entspricht. Das steht nicht im Widerspruch zu dem von Kant formulierten Prinzip der Nicht­einmischung. Er hielt die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates für unzulässig. Das schliesst aber die Einwirkung der internationalen Gemeinschaft auf die Führung eines Staates nicht aus, wenn zum Beispiel diese Führung durch ihre Handlungen den Frieden und die Stabilität in einer Region oder auf globaler Ebene gefährdet.
In einem neuen Lichte muss das Problem der Souveränität betrachtet werden, auch im Hinblick auf die Spannungen und Gegensätze in einem Vielvölkerstaat, die durch das Streben eines Volkes innerhalb dieser Völkergemeinschaft nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung hervorgerufen werden. Es muss alles getan werden, um dieses Problem friedlich und im Einvernehmen der Beteiligten am Konflikt lösen zu können. Ein gutes Beispiel dafür gibt die friedliche «Ehescheidung» zwischen Tschechien und der Slowakei.
Kant hat hervorgehoben, dass die Einmischung von aussen auch im Falle der inneren Unruhen oder des Kampfes zwischen einzelnen politischen Gruppierungen in einem Staat unzulässig sei. Sie kann schwerwiegende Folgen für die internationale Gemeinschaft haben. Als Beispiel können hier die bürgerkriegsähnlichen Ereignisse in Syrien dienen, in die sich Aussenkräfte einmischen und den Frieden im Nahen Osten und in anliegenden Regionen gefährden.

«Kein einziger Staat, ob klein oder gross – das hat keine Bedeutung – darf von einem anderen Staat erobert werden.»

Dieses Prinzip hat Kant so erklärt: der Staat sei eine Gemeinschaft von Bürgern, über deren Schicksal dieser Staat selbst und niemand anderes entscheiden darf. Seine Einverleibung in einen anderen Staat würde seine Liquidierung als moralisches Subjekt und seine Umwandlung in ein blosses Objekt bedeuten. Anders gesagt, verhängte Kant das Verbot für Eroberungskriege, die Herrschaft eines Volkes über das andere.
Für unsere Gegenwart bedeutet das Unzulässigkeit der hegemonialen Politik, in welcher Form sie sich auch immer offenbaren mag – in einer imperialistischen, messianisch-ideologischen, nationalistischen, finanzoligarchischen, religiösen Art usw. Die grobe Verletzung dieses «Verbotsgesetzes» von Kant führte zu zwei Weltkriegen. Ihnen lag immer die Imperialpolitik zugrunde. Wenn sie nicht gestoppt wird, kann es wiederum zu einem grossen Unheil für die Menschheit führen.
In vergangenen Epochen konnte die Eroberung von Staaten, besonders durch Grossmächte, nur unter Anwendung der Militärgewalt und durch die Besetzung des Territoriums der Opfer erzielt werden. Im nuklearen Zeitalter änderte sich dieses Verfahren. Nach 1945, im nuklearen Zeitalter, als der Krieg zwischen nuklearen Mächten die gegenseitige Vernichtung bedeutete und aufhörte, als rationales Mittel zur Erreichung von gestellten politischen Zielen zu dienen, erfolgte die Herstellung einer fremden Hoheit über europäische Staaten vor allem durch «stille Eroberung», eine «Strategie der indirekten Einwirkung» (Liddel Hart). In den Vordergrund rückten die subversiven propagandistischen, psychologischen, wirtschaftlichen, finanziellen Mittel und die Beeinflussung der Personalpolitik (die Schaffung einer verzweigten Lobby – Vollzieher der proamerikanischen Politik). Die günstigen Bedingungen für die Anwendung dieser Mittel hat der Kalte Krieg durch den Antago­nismus der beiden hegemonialen Mächte – der USA und der Sowjetunion – geschaffen. Aber auch nach seiner formellen Beendigung im Jahre 1990 hat die Bedeutung dieser Mittel in der USA-Politik für die Stärkung und Ausweitung ihrer Herrschaft, besonders für die Beeinflussung Russlands, noch mehr zugenommen. Die amerikanische regierende Elite nutzt sie effektiv, um die Nato- und EU-Länder unter ihrer Kontrolle zu halten. Deutschland ist bis heute ein Staat geblieben, dessen Befindlichkeit und Politik entscheidend durch die USA beeinflusst wird. Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt schrieb in diesem Zusammenhang: «Es gibt für die Mehrheit der kontinental-europäischen Nationen in absehbarer Zukunft weder einen strategischen noch einen moralischen Grund, sich einem denkbar gewordenen amerikanischen Imperialismus willig unterzuordnen […]. Wir dürfen nicht zu willfährigen Ja-Sagern degenerieren. Auch wenn die USA in den nächsten Jahrzehnten weitaus handlungsfähiger sein werden als die Europäische Union, auch wenn die Hegemonie Amerikas für längere Zukunft Bestand haben wird, müssen die europäischen Nationen gleichwohl ihre Würde bewahren. Die Würde beruht auf dem Festhalten an unserer Verantwortung vor dem eigenem Gewissen.»1
Besonders erfolgreich erwies sich die Anwendung der Strategie der indirekten Einwirkung seitens der USA gegenüber Russland. Es gelang Washington, die amerikanische Lobby in russischen Führungsgremien zu etablieren. Sie lenkte die Entwicklung Russ­lands in falsche Bahnen, was eine nie da gewesene Schwächung und Degradierung seiner Wirtschaft, der Sicherheit, die Verarmung des Landes und des Volkes, den Zerfall der Moral der herrschenden Klasse und der ganzen Gesellschaft zur Folge hatte.

«Kein einziger Staat darf sich im Krieg gegen einen anderen Staat solche Handlungen erlauben, die nach dem Eintreten des Friedens das gegenseitige Vertrauen unmöglich machen.»

Wie Kant hier richtig voraussah, kann ein «Vernichtungskrieg» nur «zum ewigen Frieden auf dem grossen Friedhof des menschlichen Geschlechts» führen. Das bezieht sich insbesondere auf die amerikanischen atomaren Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki. Das Menetekel dieser beiden Städte hängt seitdem immer über der Menschheit. Man kann auch die schonungslose Zerstörung der Industrie, der Infrastruktur, der Raffinerien, Fernseh- und Radiosender in Jugoslawien durch die Luftwaffe der USA bzw. der Nato sowie die durch die Angriffe auch verursachten grossen Verluste in der Zivilbevölkerung erwähnen. Sie halten auf lange Jahre unfreundliche Gefühle der Serben zu Amerikanern wach. Auch der Irak legt Zeugnis von diesem Phänomen ab.

«Die Regierungen müssen für die Reduzierung der Militärausgaben und Rüstungen sorgen. Die stehenden Heere sind allmählich zu liquidieren.»

Kant ging mit dieser Erkenntnis sozusagen als Stammvater der Abrüstungspolitik in die Geschichte ein. Man kann seine Mahnung heute unmittelbar an das Weisse Haus richten. Die Militärausgaben der USA betragen derzeit mehr als 600 Milliarden Dollar im Jahr, das entspricht etwa 50% der Weltmilitärausgaben; sie liegen damit weit höher als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Die Hochrüstung ist die Basis der Herrschaftspolitik. Zum Vergleich: Die Militärausgaben Russlands betrugen umgerechnet 9,35 Milliarden Dollar (2002), 11,6 Milliarden (2003) und 14,93 Milliarden US-Dollar (2004). Die regierenden Eliten der USA treten also als die Antriebskräfte der Aufrüstung in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges auf.

«Eine richtige Friedensregelung kann nur eine solche sein, die in sich die Samen eines neuen Krieges nicht enthält.»

So Kants weitere Weisheit. Wir wissen, welche verhängnisvolle Rolle der Versailler Friedensvertrag in der Geschichte Europas spielte. Er bahnte den Weg zum Zweiten Weltkrieg. Der «Friedensvertrag» von Potsdam 1945 erwies sich als nicht besser. Er spaltete Europa in zwei feindselige Lager auf und führte zum Kalten Krieg. Nur die Pariser Charta, die von allen europäischen Staaten, den USA und Kanada im November 1990 unterzeichnet wurde und unter den Kalten Krieg einen Schlussstrich zog, konnte eine Friedensordnung in Europa ohne Trennungslinien, ohne Blockstrukturen, ohne fremde Dominanz schaffen. Sie hatte einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter und enthielt vorzügliche Prinzipien (Überwindung der Spaltung Europas, gleiche Sicherheit für alle europäischen Staaten, Abrüstung, Förderung der Demokratie in Europa, kein Staat darf sich über das Völkerrecht stellen, von Europa darf kein Krieg mehr ausgehen usw.). Aber diese Prinzipien, mit kantischem Geist angefüllt, waren mit der Herrschaftspolitik der USA vollkommen unvereinbar. Deswegen fanden sie keine Anwendung und gerieten bald nach der Unterzeichnung der Charta in Vergessenheit.
Die Bedeutung der aufgezählten Grundsätze Immanuel Kants für die gegenwärtigen internationalen Beziehungen ist offensichtlich. Im Mittelpunkt seiner politischen Philosophie steht als wichtigste These: In den internationalen Beziehungen soll nicht die Gewalt, sondern das Recht herrschen. Die Einhaltung der Kantschen Gesetze setzt hohe intellektuelle und moralische Eigenschaften bei den Staatsmännern voraus. Die Ambitionen Herrschsucht und Habgier – so Kant – führen zu Kriegen.
Nach Kant kann der Frieden aufrechterhalten werden, wenn Politik und Moral untrennbar verbunden sind. Der «nackte Pragmatismus, ausgehend von Eigensucht» sei mit Friedenspolitik unvereinbar. Moral und Recht stellt Kant auf die gleiche Stufe. Sie sind gleichwertig. Moralisch, sittlich und für den Frieden dienlich sind nur solche politischen Handlungen, die auf dem Recht, auf dem Gesetz beruhen. Die Abkehr von der Moral für egoistische Interessen, die Trennung der Politik von der Moral, sind für die Völkergemeinschaft verhängnisvoll.
Die internationalen Beziehungen können sich nicht segensreich und wohltuend entwickeln, wenn sie vom Stand der Menschenrechte und Freiheiten in dem einen oder anderen Staat abhängig gemacht werden. Es wäre sonst ein falscher und gefährlicher Weg der Entwicklung der internationalen Gemeinschaft.
Der Entstehung von Kriegen liegt vor allem die Herrschaftspolitik zugrunde. Das folgert auch aus der Lehre von Kant. Nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieben als einzige Supermacht die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie setzten sich zum Ziel, ihre Alleinherrschaft in der Welt zu errichten (eine uni­polare Weltordnung). Die damit verbundenen Absichten wurden im «Projekt für das Neue Amerikanische Jahrhundert»2 sehr anschaulich dargelegt. Es wurde Mitte 1997 von Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und anderen amerikanischen Anhängern des Sozialdarwinismus in den internationalen Beziehungen ausgearbeitet Die Leitlinien dieses Projektes und die ihm zugrundeliegende «neue globale Moral» der USA bildeten die Basis der Politik der Bush-Administration. Zusammenfassend sehen sie wie folgt aus:
–    Die internationalen Beziehungen sind Machtbeziehungen; das Recht spielt darin nur eine untergeordnete Rolle.
–    Die Macht ist das bestimmende Element, und das Recht legitimiert den jeweils herrschenden Zustand.
–    Die Vereinigten Staaten sind die dominierende Macht in der Weltordnung, die von allen anerkannt werden muss.
–    Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.
–    Die USA sind gegenwärtig in der Lage, ihre Sichtweisen, Interessen und Werte der Menschheit aufzuzwingen.
–    Die Vereinigten Staaten müssen ihre Hegemonie in der Welt stärken.
–    Die Menschenrechte stehen über dem Prinzip der Souveränität von Staaten und Völkern.
Statt das demokratische Prinzip «Einheit in Vielfalt» einzuhalten, das als Basis einer friedlichen und stabilen Weltordnung dienen muss, statt der Achtung der Souveränität, der Eigenarten der nationalen Entwicklung jedes Volkes, seiner Kultur und seiner Identität hat die amerikanische Administration den Grundsatz der Gleichschaltung der Völker, die Priorität und die Allgemeingültigkeit der amerikanischen Werte für die ganze Welt ihrer Politik zugrunde gelegt. Etwas Gleiches haben wir schon erlebt, als Stalin und seine Nachfolger versuchten, die kommunistischen Werte in der sowjetische Sichtweise der ganzen Welt aufzuzwingen. Die Methoden der Durchsetzung dieser «globalen» Werte waren auf beiden Seiten ziemlich ähnlich. Im Mittelpunkt stand die Gewalt, die Politik der Stärke.
Die Prinzipien des «Projekts für das Neue Amerikanische Jahrhundert» standen von Anfang an im krassen Gegensatz zu der Lehre von Kant, zu den Forderungen nach Demokratisierung der internationalen Beziehungen. Es ist erstaunlich, wie die regierende amerikanische Elite, die die USA als einen Hort der Demokratie ausgibt, sich auf der Welt wie ein autoritärer Alleinherrscher verhält. Die Träger hegemonialer Politik waren zu allen Zeiten die schlimmsten Friedens­störer und die destruktivste Kraft in den internationalen Beziehungen.
Die «neue globale Moral» ist dazu berufen, das Recht der USA zu legitimieren, «präventive humanitäre (?!) Kriege» zu führen, wo und wann es ihr genehm ist. Die Doktrin der «beschränkten Souveränität» von Breschnew ist von der amerikanischen Doktrin «der unbegrenzten Einmischung in die inneren Angelegenheiten» der souveränen Staaten abgelöst worden. Das bedeutet den vollen Bruch des Völkerrechts seitens der USA. An seine Stelle trat das Recht des Stärkeren. Die Motive dieser «Erneuerung» des Völkerrechts sind primitiv. Man solle mit Gewalt die «Schurkenstaaten» bekämpfen, in denen individuelle Freiheiten und Menschenrechte verletzt werden, und diese Normen von aussen einführen.
Die «neue globale Moral» der USA steht im krassen Gegensatz zum Nachlass von Immanuel Kant. Die Adepten der amerikanischen Hegemonialpolitik behaupten, ihr Konzept in Fragen «Krieg und Frieden» sei veraltet und habe im Hinblick auf die Gegenwart seine Bedeutung verloren. Nichts wäre gefährlicher, als diese falsche These in der Aussenpolitik einzuhalten.
Es ist interessant zu betrachten, welchen Niederschlag die Grundsätze des Traktats «Zum ewigen Frieden» bei der Umwandlung der sowjetischen Aussenpolitik während der sozialistischen Reformation – der Perestroika – fanden. Seit Stalins Zeiten war sie durchdrungen vom Geist eines ideologischen Messianismus. Darauf basierte die Expansion der Sowjetunion nach aussen mit dem Ziel, anderen Ländern die kommunistische Ordnung nach sowjetischem Vorbild und folglich die Vorherrschaft der Sowjet­union als Träger dieser Ordnung mit Gewalt aufzuzwingen. Oft hat das missgestaltete Formen angenommen. Zum Beispiel kann man hier das Unternehmen der Breschnew-Führung Ende 1979 nennen, Afghanistan zu erobern und das afghanische Volk zur kommunistischen Lehre zu bekehren. Damals habe ich erfolglos versucht, in einer am 8. Januar 1980 an den Kreml gerichteten Denkschrift zu verdeutlichen, der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan sei ein aussichtloses Abenteuer, das mit einer politischen und militärischen Blamage enden werde. Das war ein Ruf in der Wüste3. Die Amerikaner haben daraus keine Lehre gezogen und 22 Jahre später versucht, Afghanistan wieder zu erobern. Sie wiederholten die Dummheit Moskaus. Das endete wieder mit einer Blamage.
Bis zum Beginn der Gorbatschow-Reformen konnte die sowjetische Führung nicht verstehen, dass die Praxis der Herrschaft (gleichgültig von wem sie ausgeht, von einem sozialistischen oder einem kapitalistischen Land) dem ewigen Streben des Menschen, des Volkes oder der politischen Macht nach Freiheit und Unabhängigkeit widerspricht und unabwendbar negative Reaktionen und Widerstand hervorruft. Im System der internationalen Beziehungen führt jede derartige Praxis zu internationaler Spannung, zu Konflikten und Kriegen. Sie verhindert die Entwicklung harmonischer, für alle günstiger Beziehungen zwischen den Ländern. Die Kremlführer von Stalin bis Tschernenko waren davon überzeugt, dass das Modell «Herr – treuer Untertan» am besten für die Beziehungen der Sowjetunion mit sozialistischen Ländern und für die Konsolidierung der kommunistisch orientierten Kräfte im «Klassenkampf gegen den Kapitalismus» geeignet wäre. In diesem Sinn verband sich das sowjetische Messias-Bewusstsein mit den Forderungen des Kreml nach Führung in der weltweiten sozialistischen Bewegung und mit den sowjetischen imperialen Ambitionen.
Abgesehen davon, dass eine solche Politik zur Ost-West-Konfrontation und zum «Kalten Krieg» führte, säte sie Zwietracht zwischen Ländern des sozialistischen Lagers. Und sie hatte noch einen Nachteil. Mono­polisierung und Zentralisierung der Macht erwürgen immer die Entwicklung und Vielfalt, indem sie die Erkennung und Förderung von Neuerungen und die Herausbildung lebensfähiger Gesellschaftsformen verunmöglichen. Das Bemühen, den Sozialismus im Rahmen des sowjetischen Modells zu halten, blockierte eine Modernisierung. Als ein Beispiel dafür kann man die Niederschlagung des «Prager Frühlings» – der Reformbewegung in der Tschechoslowakei durch militärische Macht anführen, die tragische Folgen für den Sozialismus und auch für die Sowjet­union haben sollte.
So beging die sowjetische Aussenpolitik vier Hauptsünden:
a)    Sie provozierte den West-Ost-Konflikt, der oft am Rande eines nuklearen Krieges war;
b)    gab Anlass zu Konflikten in­nerhalb des sozialistischen Lagers;
c)    blockierte die Reformierung der sozialistischen Gesellschaft im Sinne ihrer Demokratisierung und der Steigerung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Effizienz;
d)    wälzte auf die sowjetische Wirtschaft eine untragbare Last, was später zu einem der Gründe des Zerfalls der Sowjetunion wurde.
Der schädliche Charakter eben dieser «vier Sünden» der sowjetischen Aussenpolitik wurde für die Kremlführung leider viel zu spät, erst mit Beginn der Perestroika, offensichtlich. Damals schob sich die Aufgabe in den Vordergrund, die Sowjetunion aus der unnötigen und gefährlichen Konfrontation mit dem Westen herauszuziehen. Diese Konfrontation verschlang die besten Kräfte des Landes und verunmöglichte die Lösung weit wichtigerer Aufgaben der inneren Entwicklung, insbesondere die radikale Steigerung des Lebensstandards der sowjetischen Bürger. Zugleich hielt sie in der westlichen Gesellschaft die Vorstellung von der Sowjet­union als einer gefährlichen imperialistischen Macht aufrecht. Tatsächlich ging es darum, richtige Wege zu finden, um den Kalten Krieg zu beenden. Diese historische Aufgabe konnte nur durch radikale Regelung der ideologischen Prinzipien der damaligen sowjetischen Aussenpolitik gelöst werden. Allem voran durch Abwendung vom «Klassenkampf» in der internationalen Arena, von der Messiasrolle der Sowjetunion als «führende Kraft» der «kommunistischen und Volksbefreiungsbewe­gung» und von dem Ziel «Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt»4.
Nur so konnten Bedingungen zum Ausgleich der politischen Interessen mit dem Westen geschaffen werden, um die Ost-West-Konfrontation zu entschärfen oder ganz zu beenden, die Voraussetzungen für einen realen Prozess zur Abrüstung, zur Beseitigung der Gefahr eines Atomkrieges zu schaffen.
In der sowjetischen Aussenpolitik war völlig ausser acht gelassen worden, dass es im System der internationalen Beziehungen die «Gesetzmässigkeit der negativen Rückwirkung» gibt: Wenn eine Grossmacht danach strebt, unter diesem oder jenem Vorwand ihre hegemoniale Einflusssphäre zu errichten und zu erweitern, unterwerfen sich schwache Staaten freiwillig oder unfreiwillig ihrer Herrschaft. Diese wird noch stärker und unterwirft stärkere Staaten mit dem Bemühen, eine bestimmte Weltordnung unter ihrer Hegemonie zu schaffen. Die Ausweitung ihrer Herrschaft beginnt, die Interessen anderer Staaten zu bedrohen, insbesondere von Grossmächten. Nun kommt es zur negativen Rückwirkung. Staaten vereinigen sich gegen diese Herrschaft in einer «Antikoalition», die mit der Zeit unaufhaltsam so stark wird, dass die Hegemonialmacht das militärische und wirtschaftliche Gegeneinander nicht durchhalten kann. Jeder Hegemonismus und jeder Expansionismus, unter welcher ideologischen Maske er auch auftritt, trägt in sich den Keim des eigenen Untergangs. Das lehrt die Erfahrung von zwei «heissen» Weltkriegen und einem «kalten».
Ausserdem verstiessen sowjetische Führer grob gegen grundlegende Prinzipien der Aussenpolitik, wie sie schon Clausewitz formulierte: Aussenpolitische Ziele müssen genau den verfügbaren Materialressourcen entsprechen, um sie zu erreichen. War die Sowjet­union etwa in der Lage, die Konfrontation mit allen Grossmächten des Westens durchzustehen? Dies war eine gefährliche Illusion. Der Kalte Krieg erwies sich als äusserst nützlich für regierende Kreise der Vereinigten Staaten. Ohne sich darüber Rechen­schaft abzulegen, gestattete ihnen die sowjetische Führung, grossen ­politischen und wirtschaftlichen Nutzen aus der Konfrontation zu ziehen und ihre Herrschaft in den Ländern Westeuropas zu verstärken. Der bekannte italienische Journalist, Politiker und Russlandkenner Giulietto Chiesa schrieb: «Die Sowjetunion hat den Rüstungswettlauf im Kampf mit den Vereinigten Staaten um die militärische Vorherrschaft verloren. Den Rhythmus dieses Wettlaufs hatten die Vereinigten Staaten lange vor Erscheinen von Ronald Reagan vorgegeben. Die Russen begingen einen tödlichen Fehler, als sie in diesen Wettlauf einstiegen. Sie haben viel zu spät erkannt, dass sie ihn verloren hatten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt stürzte das System zusam­men.» Tatsächlich hat die Konfrontation mit dem Westen mit steigender Intensität die Kräfte der Sowjetunion ausgesaugt.
Es war unerlässlich, einen Ausweg aus dieser gefährlichen Lage zu finden. Eben diese Aufgabe hat ab 1985 die neue sowjetische Führung Michail Gorbatschows auf sich genommen. In den Jahren der Peres­troika wurden in der sowjetischen Aussen­politik die Grundsätze einer neuen aussen­politischen Denkweise und die neuen Prinzipien der Aussenpolitik ausgearbeitet. Den mühsamen Prozess der Umgestaltung der sowjetischen Aussenpolitik habe ich in meinem Buch «Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik» dargelegt, das mit dem Vorwort von Michail Gorbatschow und mit dem Prolog von Hans-Dietrich Genscher in Deutschland 2002 herausgegeben wurde. Darin sind viele meiner analytischen Denkschriften veröffentlicht worden, die vom Institut für sozialistische Länder der Akademie der Wissenschaften Breschnew, Gromyko, Andropow, Gorbatschow, Schewardnadse und anderen sowjetischen Entscheidungsträgern unterbreitet worden sind. In diesen Memoranden wurde im Grossen und Ganzen die Notwendigkeit begründet, die Wege zur Überwindung des Kalten Krieges und der Aufrüstung zu finden, um alle materiellen und geistigen Kräfte für die Lösung von friedlichen Aufgaben im Inneren des Landes und für die demokratische Reformierung des sozialistischen Systems einsetzen zu können.
Im Ergebnis der harten Arbeit, heisser Diskussionen, des Zusammenstosses verschiedener Standpunkte und der Annahme der besten von ihnen auf verschiedenen politischen und wissenschaftlichen Ebenen gelang es, eine prinzipiell neue aussenpolitische Doktrin der sowjetischen Aussenpolitik auszuarbeiten und durchzusetzen. Sie entsprach der friedlichen Lehre von Kant. Hier sind ihre Wesenszüge:
–    Abkehr von der messianischen Herrschaftspolitik und ihre Verurteilung;
–    Einstellung der Ost-West-Konfrontation und des Rüstungswettlaufs;
–    Einhaltung des Prinzips: «Nicht die Macht, sondern das Recht muss in den internationalen Beziehungen herrschen»;
–    Anerkennung des Rechts und der Freiheit jedes Volkes, seinen eigenen Weg der Entwicklung zu wählen;
–    tiefe Demokratisierung und Humanisierung der internationalen Beziehungen;
–    Herstellung eines untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Politik und der Moral;
–    Schaffung eines gesamteuropäischen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Raumes (die Idee des «Gemeinsamen europäischen Hauses»).
Die Durchsetzung dieser Prinzipien in der sowjetischen Aussenpolitik in den Jahren 1986–1990 ermöglichte es, die Bedingungen für die Beendigung des Kalten Krieges zu schaffen und den gesamteuropäischen Konsens zu finden, verkörpert in der Pariser Charta, die von allen europäischen Ländern, den USA und Kanada im November 1990 unterschrieben wurde. Dieses historische Dokument stand im Einklang mit Grundsätzen des Traktats von Kant, «Zum ewigen Frieden». Es schien, als ob eine neue Epoche des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa angebrochen wäre. Aber ein Jahr verging, und der konfrontative Geist kehrte wieder nach Europa zurück. Die regierenden Kreise der USA konnten der Versuchung nicht widerstehen, ihre Herrschaftspolitik unter den nach dem Zerfall der Sowjetunion viel günstigeren Verhältnissen fortzusetzen und den europäischen Konsens im Namen des Friedens zu zerstören. So bleibt Europa gespalten, militarisiert, von einer ausserkontinentalen, herrschsüchtigen Macht beherrscht. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges wurde nicht gebannt. Heute kommt es darauf an, die Prinzipien der Friedenslehre von Kant zum Alltag des europäischen und internationalen Lebens zu machen.    •

1    Helmut Schmidt, «Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen», München 2004, S. 238
2    «Project for the New American Century. Statement of Principles», Washington D.C, 3. Juni 1997
3    Dieses Memorandum wurde später, während der Perestroika, veröffentlicht. Sehen Sie: «Afghanistan: die Sicht aus dem Jahre 1980», «Moskowskije nowosti», 23.07.1989
4    Die Notwendigkeit eines gründlichen Wandels in der sowjetischen Aussenpolitik begründete ich in einer Denkschrift für den Generalsekrätär der KPdSU, Juri Andropow, am 10. Januar 1983.
Sie wurde unter dem Titel «Nicht durchhaltbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik» im «Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 1997, Akademie Verlag, Berlin 1997, veröffentlicht.

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