Editorial

Editorial

ev. In seiner denkwürdigen Rede «Unser Schweizer Standpunkt», die Carl Spitteler am 14. Dezember 1914 vor der Gruppe Zürich der Neuen Helvetischen Gesellschaft gehalten hat, ruft er in einer Zeit, in der die machtpolitischen Auseinandersetzungen der europäischen Nachbarn und die Parteinahme für die eine oder andere Seite das Land zu zerreissen drohen, zur Besinnung auf den inneren Zusammenhalt auf. Was er dazu anführt, sind nicht einfach «realpolitische» Argumente seiner damaligen Gegenwart. In jener konkreten Gegenwart spricht er seine Landsleute auf Grundlegendes an. Grundlegendes für ein Land, das nicht durch Eroberung oder machtpolitische Gründung eines Herrschaftshauses, sondern primär aus dem Geist der Genossenschaft und des freiwilligen Zusammenschlusses zur Wahrung der grösstmöglichen Selbstbestimmung entstanden ist. Und diesen Willen haben nicht nur die einen oder die anderen, die Deutschschweizer oder die Welschen, die Tessiner oder Rätoromanen; vor allen Unterschieden steht das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit im gemeinsamen Willen, der historisch gewachsenen, mehrsprachigen Schweiz anzugehören und sie erhalten zu wollen. «Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben, der dem Ausland gegenüber eine politische Einheit darstellt?» fragt er und ruft auf, die Verantwortung zunächst da wahrzunehmen, wo man zuallererst dazu aufgerufen ist: zu Hause, im eigenen Haus. Vieles, was Spitteler in dieser Rede anspricht, ist heute so aktuell und nötig wie damals. Sein Aufruf zu einer staatspolitischen Bescheidenheit, die Grossmachtpolitik den Grossmächten überlässt, ist heute so bedenkenswert wie damals. In einer Welt im Umbruch, in einer Welt, in der die grossen Finanzmächte um die Neuordnung ihrer Verhältnisse ringen und Gewalt und Krieg weiterhin zum Arsenal der Machtpolitik gehören, ist seine Mahnung, sich nicht durch parteiische, weil an eine Partei gebundene Argumente verleiten und dazu hinreissen zu lassen, in den Kanon der Machtpolitik einzustimmen, so aktuell wie je. Die Neutralität ist dann der natürliche Ausdruck des Kleinstaates, in dem das Volk und nicht Machtpolitik das letzte Wort hat, eines Staates, dessen Hauptaufgaben nicht Macht und Prestige, sondern primär die Verwirklichung der republikanischen Idee der grösstmöglichen Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen und das Gemeinwohl sind. Heute wie damals. Es soll keiner jammern, die heutige Lage sei ach so schwierig. Die Generation von 1914 hatte Schwieriges vor sich, und dies erst noch in relativer Armut. Sie hat sich ihrer Zeit aber ehrlich gestellt. Das können wir auch heute – wir müssen es nur tun und müssen es wollen. Redlicher werden, ehrlicher sein, dem Gemeinsamen Sorge tragen – das ist ganz einfach!•

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