«In drei Wochen sind wir wieder zu Hause»

«In drei Wochen sind wir wieder zu Hause»

Für ehrliche, auf gegenseitigem Respekt beruhende Aufbauarbeit

ab. Romain Rolland führt uns in «Clérambault» an die beginnende Massenpsychose vor dem Ersten Weltkrieg heran – auf französischer Seite. Als das Schwungrad so richtig angelaufen war, seien sie «in drei Wochen sind wir wieder zu Hause» singend und damit die Angst überspielend eingerückt. Bald kommt der 100jährige Gedenktag zum Beginn jenes Krieges. Es lohnt sich, sich noch einmal in aller Ruhe in die damalige Zeit einzulesen und mit heute zu vergleichen. Es lohnt sich auch, mit unserer Jugend nach Verdun zu gehen und auf dem Hartmannsweilerkopf im Elsass über die Walderde zu gehen, in der dicke Schichten von menschlichen Knochen liegen: französische und deutsche. Eine Woche fünf Meter vorrücken, nächste Woche fünf Meter Rückzug, alles im Nahkampf: Gemetzel von Mensch gegen Mensch. Dass sich jener Erste Weltkrieg gelohnt habe, wagt heute niemand mehr zu behaupten. Dass Amerika der Gewinner war und die ausgebluteten europäischen Länder die Verlierer, das weiss heute jeder, der noch Geschichtsunterricht hatte. Dass die Diktaturen der dreissiger Jahre darauf aufstocken konnten oder aufgestockt wurden, steht auch in jedem seriösen Geschichtsbuch mit Angabe aller Quellen dazu – für den Fall, dass der Zeitgeist des 21. Jahrhunderts dies gerne im Winde verwehen würde. Haben die beiden Weltkriege einen Sinn gehabt? Für wen und für was? Wo stünde die Menschheit heute, wenn das 20. Jahrhundert für ehrliche, auf gegenseitigem Respekt beruhende Aufbauarbeit verwendet worden wäre? Die Entkolonisierung hätte man fünfzig Jahre früher freiwillig vornehmen können. Es wäre der südlichen Halbkugel viel unnötiges Leid erspart geblieben. Und die nördliche Halbkugel hätte ein Stück Würde bewahrt.
Am Wochenende des 2./3. April soll Obama in der Nacht um 2 Uhr Schweizer Zeit auf al-Jazira die Kosten des Irak-Krieges angesprochen haben: Die Rechnung sei nun gemacht, der Schaden sei so immens, dass man sich das kaum vorstellen könne. Dieser Krieg und die weiteren hätten die Volkswirtschaft Amerikas und anderer westlicher Länder ruiniert, die Bevölkerung des Irak mit Uranverseuchung zurückgelassen, die halbe Welt oder noch mehr gegen Amerika aufgebracht – es müsse eine Änderung eingeleitet werden. Und darum würden sich die USA ab Sonntag aus den Bombardierungen in Libyen zurückziehen. Man glaubte, aufatmen zu können. Der Bericht «Kinder des Krieges» von ­Kelley Beaucar Vlahos in der Zeitschrift The American Conservative liess sich schon mit mehr Gefasstheit als ein Teil einer möglich werdenden Aufräumarbeit in der Geschichte der neuesten Zeit lesen.
Zwei Wochen später ist das Aufatmen schon wieder vorbei. Obama, Sarkozy und Cameron haben gemeinsam erklärt, dass sie in Libyen dranbleiben werden, auch wenn es lange dauern sollte. Und nun? Nachdenken? Man nimmt manches zur Kenntnis und schluckt und schweigt. In den repräsentativen Demokratien hat das Volk ohnehin nur alle vier Jahre etwas zu sagen. Deshalb bringt uns Schweizern nun der Bundesrat bei, dass wir in der Aussenpolitik nicht dreinreden sollen: Wo kämen wir denn da hin – erst recht wir mit der direkten Demokratie? Wenn das Vertrauen zwischen allen Teilen der Demokratie wieder hergestellt werden könnte, dann liesse sich reden miteinander … Dann wäre ein Handschlag wieder ein Handschlag.
Irgendwann steht man vor seinen liebsten Bücherwänden und zögert lange. Die Gedanken beginnen zwischen Bitterkeit und Trauer zu pendeln: Wozu haben denn die Philosophen, die Dichter und Denker der Welt sich bemüht? In Kishore Mahbubanis Buch «Die Rückkehr Asiens – Das Ende der westlichen Dominanz» gibt es ein Kapitel «Entwestlichung – Die Rückkehr der Geschichte»: «Die 5,6 Milliarden Menschen, die ausserhalb des Westens leben, sind immer weniger von der naturgegebenen Überlegenheit der westlichen Kulturen überzeugt. Statt dessen beginnen viele sogar daran zu zweifeln, dass der Westen der zivilisierteste Teil der Welt ist. Was wir heute erleben, ist ein Prozess, in dem die vielen Schichten des westlichen Einflusses eine nach der anderen entfernt werden. Das ist ein komplexer Vorgang mit vielen unterschiedlichen Entwicklungssträngen. Der Westen muss begreifen, dass es sich dabei um den prägenden Haupttrend der gegenwärtigen Geschichtsepoche handelt.» […] «Der Prozess der Entwestlichung geht über die Geschichte des Antiamerikanismus hinaus. Die westlichen Medien haben den Antiamerikanismus durchaus bemerkt, und in Pew-Zogby-Umfragen wird seine Zunahme in der Welt registriert. Aber viele im Westen wollen darin eine Phase erkennen, die von der groben, unsensiblen Politik einer bestimmten US-Regierung ausgelöst worden ist. Nach dem Ende der Regierung Bush, so glaubten sie, wird sich alles ändern, und die Welt wird Amerika wieder lieben. Der Westen wird wieder verehrt werden. Alles wird gut.» lässt Mahbubani uns wissen. Und: «Das ist ein Trugschluss. Die Einstellung der grössten Bevölkerungen Asiens – der Chinesen, der Moslems und der Inder – hat sich unumkehrbar verändert. Mochten sie sich einst westlicher kultureller Perspektiven bedient und mit Freuden die Welt durch die westliche Brille betrachtet haben, weicht ihre Wahrnehmungsweise heute mit wachsendem kulturellen Selbstvertrauen, immer weiter von der des Westens ab.»1 Der Autor plädiert aber gleichzeitig dafür, dass tragfähige Lösungen nur gemeinsame sein können. Was in einem Gegeneinander erzwungen wird, das hält nicht lange. Ausserdem ist er kein Freund zu starker Eingriffe des Staates in die Wirtschaft.
Wenn nun die Schäden des Irak-Krieges auf uns zukommen – eine steigende Rate von multiplen Karzinomen gehört unter anderem dazu – sollten dann wir als Land, das das IKRK und die Liga der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften beherbergt, nicht ein offenes Herz haben und den Langzeitopfern dieser Kriege der neuesten Zeit an die Seite stehen? Oder ist schon das im Gang, was Jean-Christophe Rufin in «100 Stunden» beschreibt: Die Reduktion der Weltbevölkerung um 50–80%, damit der restliche Teil es gemütlich haben soll? Dies, obwohl der Weltagrarbericht besagt, dass sehr wohl genügend Nahrung für alle angebaut werden kann?
Dschingis ­Aitmatow hat in seinem Buch «Der Richtplatz» die moralisch-ordnenden Systeme einer Prüfung unterzogen: Sie haben alle versagt angesichts der Niedertracht menschlicher Machtsysteme. Nur die Wolfsmutter handelt direkt und unmittelbar, obwohl auch sie nicht überlebt. Aber sie stellt sich wenigstens ihrer Lebensaufgabe voll und ganz – ihrer Lebensaufgabe als Mutter. Im «Kassandramal», das zweite seiner Bücher, das im Westen kaum einer liest – angeblich weil keiner Zeit zum Nachdenken hat – , zeigt er auf, wie diese menschliche Niedertracht sich in Massenpsychosen organisiert, bis sie den Weg zu politischem Handeln und zur Macht in den Händen hat. Beides ungemütliche Lektüre.
Oder soll man den Irak-Krieg mit P. J. O’Rourkes Buch «Give War a Chance» Revue passieren lassen? Zum Beispiel mit folgender Passage: «Es macht richtig Spass, in der Panikindustrie tätig zu sein. Wenn du die Welt nicht dazu bringen kannst, dich zu lieben, dann ist Angstmache das Mittel der Wahl: Alle aus ihrem Bart-Simpson-Versager-und-noch-stolz-darauf T-Shirt aufzuschrecken ist die beste Methode, Aufmerksamkeit zu erregen und sich gebraucht zu fühlen. Meine Kollegen von den Nachrichtenmedien und ich haben diese Strategie seit dem 2. August mit grossem Eifer betrieben. ‹Horror-Show›, ‹Rede vom Krieg›, ‹Bedeutet das wirklich Krieg?›, begleitet von einem Foto, das aussieht wie ein Mobiltelefon, das in eine Serviette eingepackt ist und Sonnenbrille und Bademütze aufhat; mit der Bildunterschrift ‹US-Soldat in Saudi-Arabien beim Testen von Schutzausrüstung gegen chemische Waffen.›
Und die Tageszeitungen und Abendnachrichten sind mit Landkarten wie mit Girlanden geschmückt – Pfeile, die in alle Richtungen zeigen, undeutliche Silhouetten von Panzern und Flugzeugen und angebliche ­Op­ferzahlen, die aussehen wie Telefonnummern von Ferngesprächen.
Die US-Regierung war auch ganz schön gut darin, überall Alarmstimmung – ausser  all dem Geld und den Waffen – zu verbreiten. Wir schicken 250 000 Soldaten, 600 Kampfflugzeuge, drei Flugzeugträgerverbände und 26 B-52-Bomber an den Persischen Golf, vielleicht ein bisschen zu spät, um Kuwait noch zu retten, aber gerade noch rechtzeitig, um den US-amerikanischen Verteidigungshaushalt zu retten. Eine gut-gezielte Interkontinentalrakete … und Saddam Hussein würde die Botschaft sofort verstehen – aber das würde den Kongress keineswegs davon abhalten, all unser Tarnkappenbombergeld zu nehmen und es den Performance-Künstlerinnen der NEA National Endowment for the Arts2 zu geben, um es an ihren nackten Körpern zu reiben und dabei die männlichen Steuerzahler anzuschwärzen.
Jedermann hat mit der Hussein-Hysterie Bargeld gemacht. Die Sowjetunion sammelt Punkte im ‹Wir-tun-so-als-ob-wir-eine-zivilisierte-Nation-wären›-Wettbewerb. Die Uno denkt, sie hat vielleicht endlich etwas gefunden, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen kann; sogar meine Verlobte plant ein Vermögen mit ‹Fuck-Irak›-Auto-Aufklebern zu machen. Literaturagenten stellen Zeugenstaffeln auf – Zeugen,  die bereit sind, alles zu sagen – und schicken Faxe nach Bagdad, um die eingeschlossenen Amerikaner zu instruieren, ergreifende Gedanken und spirituelle Einsichten zu haben und – wenn möglich – ein bisschen gefoltert  zu werden.
So viele TV-Kamera-Teams sind auf den Mittleren Osten niedergegangen, dass die arabischen Behörden die Touristenhotels stürmen, um in den Gideon-Bibeln das Thema  Plagen nachzulesen – Exodus, ­Kapitel 7 bis 12 einschliesslich: Blut, Frösche, Läuse, Fliegen, totes Vieh, Furunkeln, Hagel, Heuschrecken, Dunkelheit, erstgeborene Söhne und – tatsächlich: Rundfunk­moderatoren. Klar doch, Jesse Jackson ist auch schon da und warnt die Welt in vers de societé Versen vor der Situation: ‹Wo der Ölpreis hinaufgeht und der Blutpreis sinkt› – wobei die Umstände zu ernst für einen Reim sind.
Also dachte ich mir, ich gehe besser selbst mal rüber. Ich bin schon dreimal im Mittleren Osten gewesen und weiss einige arabische Wörter, einschliesslich la (‹nein›) und Ayna akrab mal’ab golf? (‹Wo ist hier der nächste Golfplatz?›); also bin ich auch ein Experte und kann die Dinge in die richtige Perspektive rücken und kann euch ein deutlicheres Bild von den kommenden Ereignissen geben und euch vielleicht einige unnötige Ängste und Befürchtungen nehmen, die von so zynischen, sensationslüsternen Journalisten, wie ich einer bin, geschürt worden sind.»3
O’Rourke schlägt also vor, die eigenen Nerven mit Sarkasmus zu polstern und innen in Drahtseile zu verwandeln? Vielleicht … Ob Liebe und Mitmenschlichkeit dann durch diese Drahtseile noch geleitet werden, ist eine andere Frage. Oder sollen wir Schweizer uns lieber an Jeremias Gotthelf erinnern, der gesagt hat: «Schwer ist es, die rechte Mitte zu treffen: das Herz zu härten für das Leben und es weich zu halten für das Lieben.» Die Entscheidung wird jeder für sich treffen müssen. Die Strukturen der Macht sind zur Zeit mit  Gefährlicherem beschäftigt oder bringen es auch hervor: Die Kriege gehen weiter. Willkürlicher Verschleiss an «Human Resources» wie vor hundert Jahren? Ist das der Homo sapiens?    •

1    S. 144/145 und 146
2    Nationale Kulturstiftung der USA
3    S. 163/164
Literatur:
Dschingis Aitmatow: Der Richtplatz, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-20381-5
Dschingis Aitmatow: Kassandramal, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-20290-X
Kishore Mahbubani: Die Rückkehr Asiens.
Das Ende der westlichen Dominanz, 2008,
ISBN 978-3-549-07351-3
Romain Rolland: Clérambault, Rütten&Loening, 1922 (antiquarisch erhältlich)
P. J. O’Rourke: Give War a Chance. Eyewittness ­Accounts of Mankind’s Struggle Against Tyranny, ­Injustice and Alcohol-Free-Beer, 1992,
ISBN 0-8021-4031-9
Jean-Christophe Rufin, 100 Stunden, 2008,
ISBN 987-3100685094

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK