«‹Ausstieg› aus der Kernenergie» – eine politische Täuschung?

«‹Ausstieg› aus der Kernenergie» – eine politische Täuschung?

zf. In mehreren Artikeln der letzten Ausgabe von «Zeit-Fragen» haben sich die Autoren mit der Zukunft der Kernenergie auseinandergesetzt. Dabei wurde offensichtlich, dass es dringend eine vernünftige, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Debatte über die Risiken, aber auch über eine mögliche, sinnvolle Weiterentwicklung der Nukleartechnik braucht. Da die Energiefrage eine Menschheitsfrage ist genau so wie der Schutz vor weiteren ähnlichen Unglücken wie Tschernobyl und Fukushima, werden Lösungen sicherlich auf internationaler Ebene entwickelt werden müssen. Auf nationaler Ebene braucht es ein rationales Mitdenken und – Handeln.    
    Diplom-Ingenieur H. W. Gabriel, ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Kerntechnik, hat sich in diesem Zusammenhang bereit erklärt, einige Fragen zu beantworten, die sich auf die gegenwärtige Debatte und eine mögliche sicherere Weiternutzung der Atomenergie und ihrer Voraussetzungen beziehen.

Welche technischen Eigenschaften begründen die Stillegung heutiger Kernkraftwerke?

1.     Erfahrungen mit dem «Ausstieg»
Seit den nicht verschweigbaren, schweren Unfällen in Harrisburg und Tschernobyl beruhigten die Politiker die Bevölkerung verbal, möglichst schnell aus der Kernenergie aussteigen zu wollen. Hinter vorgehaltener Hand hörte man bei vielen Volksvertretern aller grossen Parteien allerdings die wahre Haltung: die Bürger werden sich schon beruhigen, es bleibt der Status quo. Selbst die «Grünen» bewirkten mit ihrem «Ausstiegsgesetz» nichts anderes als einen Statuserhalt, und das über Jahrzehnte. Die Vermutung, es handele sich um ein «Parteierhaltungsgesetz», ist nicht von der Hand zu weisen. Mit «Fuku­shima» wiederholt sich das alte Spiel mit vier havarierten Reaktoren.
2.     Die «Naturwissenschaft» ist als wesentliches Korrektiv der Meinungsbildung schon ausgestiegen.
Politische Sprechblasen und naturwissenschaftliche Korrektheit sind unverträglich. Wissenschaftler im Bereich der Kernenergie sind zu Duckmäusern degradiert worden. Widerspruchslos nehmen sie die Täuschung hin, dass ein undifferenzierter Ausstieg aus der Kernenergie möglich sei. Sie verweisen weder auf die unverzichtbare Sonnenenergie (Kernfusionsenergie), noch auf die verzichtbaren, gefährlichen, generischen Eigenschaften heutiger Druck- und Siedewasserreaktoren. Sie trauen sich auch nicht, neue Kernenergiekonzepte zu Ende zu denken, weil dies gegen das Besitzstandsinteresse der Elektrizitätskonzerne läuft. Der Schwanz wackelt mit dem politischen Hund und der Intelligenz. Der «Ausstieg aus der Kernenergie gegenwärtiger technischen Prägung» ist offensichtlich auch wegen Prägungen im menschlichen Verhalten unverzichtbar. Wissenschaftler werden von Ministerien nicht nach fachlicher Kompetenz in Kommissionen berufen, sondern nach Repräsentanz einer gesellschaftspolitischen Gruppe. Gelenkte Verantwortung soll verschoben, politisches Mandat vorgegaukelt werden. Mit diesem Prinzip drehte sich heute noch die Sonne um die Erde.
3.    Welche generischen Eigenschaften und technischen Prägungen begründen die sofortige Stillegung der Kernkraftwerke?
Für die Energieproduktion werden überwiegend Druckwasser-(Pressurized water reactor, PWR-)und Siedewasserreaktoren (Boiling water reactor, BWR) eingesetzt. Diese Technik begann vor 60 Jahren mit kompakten Antrieben für Atom-U-Boote. US-Firmen vergrösserten diese Reaktoren um das 100-fache, ohne den sensiblen physikalischen Charakter wesentlich verändern zu können (generische Eigenschaften werden bei der Geburt fixiert):
–    Grosse Mengen an Radioaktivität entstehen über die Laufzeit bis zum Brennelementwechsel nach 1 bis 4 Jahren. Die Menge an Radioaktivität, welche bei dieser langsamen Energiefreisetzung entsteht, liegt integral etwa 3 Grössenordnungen über der aus einer Kernexplosion.
–    Die hohe Radioaktivität ist verbunden mit einem Wasserdruck von bis zu 150 bar bei Wassertemperaturen bis 300 °C (bei Siedewasserreaktoren etwas niedriger).
–    Auch bei abgeschaltetem Reaktor muss die Radioaktivität im Brennstoff mit Pumpen gekühlt werden.
Grundforderung: Die Menge an Radioaktivität darf nicht ausgetrieben werden. Frage ist, ob die aktiven und passiven Vorkehrungen eine Freisetzung im Grundsatz verhindern können. Da dem erfahrungsgemäss nicht so ist, wird bei Weiterbetrieb der KKW mit der Bevölkerung, ohne deren Votum, «russisches Roulette» gespielt. Eine Streitfrage ist dann nur, ob die Trommel 6 oder 1000 Kammern besitzt und nur mit einer Magnum-Patrone gefüllt ist. Neuerdings dominieren die Psychologen in der amtlichen Reaktorsicherheit: Weil man es nicht mehr wagt, gravierende Unfälle mit Zuordnung «kleinste Wahrscheinlichkeit» wegzudiskutieren, flüchtet man in den angenehmer klingenden neuen Begriff der «Robustheit», der in keiner Rechtsverordnung vorkommt. Kein KKW mit grosser oder kleiner Robustheit erhält heute eine privatwirtschaftliche Risikoversicherung, da Schäden bis zur Vernichtung einer Volkswirtschaft auftreten können. Ein Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission hatte einst Angst, von der Bevölkerung im Fall des Irrtums an den nächsten Baum geknüpft zu werden.
4.     Temporärer Weiterbetrieb
Von heut auf morgen ist keine Stillegung eines Systems möglich. Es wäre bei Verantwortung zu überlegen, mit welchen zusätzlichen Massnahmen ein kurzfristiger Weiterbetrieb einiger KKW möglich ist. Diese Entscheidung muss vom Parlament in namentlicher Abstimmung gefällt werden und nicht namenlos von alten verbrauchten ministerialen Seilschaften. Das Parlament sollte sich einer unter Verschluss arbeitenden Fachgruppe bedienen. Man möge bedenken, dass schon eine begrenzte Absenkung von Druck, Temperatur und Leistung die an sich engen Sicherheitsmargen vergrössert.
Nur mit Gerede ist kein Weiterbetrieb zu vertreten.
5.    Weitere negative generische Punkte und Ausblick
Die Entsorgung/Endlagerung der radioaktiven Abfälle und der Missbrauch von Spaltstoffen sind für alle aktuellen KKW klärungsbedürftig. Fundiert zu durchdenken ist die Möglichkeit des Wegfalls wesentlicher negativer generischer Sicherheitsprobleme bei neuen Konzepten.
Um beim Modell des «russischen Roulettes» zu bleiben: gesellschaftspolitisch entscheidend ist nicht eine fiktive Zahl der Kammern in der Trommel des Revolvers, sondern eine geringe Treibenergie und geringe Giftigkeit der Patrone. Sie darf die Schläfe nicht durchschlagen.

Dipl.-Ing. H. W. Gabriel

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