Hilfe zur Selbsthilfe – die Entwicklung der Schweizer Berghilfe

Hilfe zur Selbsthilfe – die Entwicklung der Schweizer Berghilfe

Der Aufbau der Schweizer Berghilfe veranschaulicht auf lebendige Art und Weise, wie es der «Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft» (SGG) mit ihrem Engagement gelang, in der ganzen Bevölkerung Solidarität und Verantwortungsgefühl geg enüber den Bewohnern der Bergregionen hervorzurufen. Das am Wohle des Mitmenschen orientierte Zusammenwirken vieler Beteiligter führte zu einer beeindruckenden Kreativität und einer beachtlichen Vielfalt von Aktivitäten, die bis heute das Leben vieler Menschen erleichtern und zugleich der Gemeinschaft als Ganzes dienen.

ks. Mitte der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts begannen sich kantonale und eidgenössische Behörden wie auch gemeinnützige Kreise für die Wohlfahrt der Bergbevölkerung zu engagieren. Die Abwanderung und damit drohende Entvölkerung der Berggebiete war allgemein als Problem ins Bewusstsein gerückt. Unter harter Arbeit erst Jahrzehnte zuvor errungenes Kulturland wurde wegen des Bevölkerungsrückgangs wieder aufgegeben.
Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, der nicht nur Mangel, sondern auch Hunger mit sich gebracht hatte, hatten vor Augen geführt, wie bedeutsam die Sicherstellung der Ernährung für die eigene Bevölkerung ist und wie problematisch die Auswirkungen einer hauptsächlich international ausgerichteten Nahrungsmittelproduktion sind. Die Bundesbehörden entwickelten infolgedessen neue Zielsetzungen in der Agrar- und Ernährungspolitik und Massnahmen zu deren Umsetzung. Schwerpunkte waren u.a. der Ausbau des Brotgetreideanbaus und eine effiziente und arbeitssparende Produktion durch bäuerliche Familienbetriebe, Produktionsgenossenschaften und von Agronomen geführte private oder staatliche Gutsbetriebe. 1918 kam es zur Gründung der Schweizerischen Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft SVIL: Um die Ernährungsfrage lösen zu können, müsse die Lebensmittelproduktion zu einer Angelegenheit aller gemacht und dürfe nicht allein den Bauern und dem Markt überlassen werden. Darin waren sich der SVIL und der VSK, der Verband Schweizerischer Konsumvereine, einig. Wichtige Träger der neuen Ernährungs- und Agrarpolitik waren auch die Agronomen, die seit 1871 an der ETH eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung erfuhren und auf Grund ihrer bäuerlichen Herkunft zugleich über praktische Erfahrungen verfügten, so also in jeder Hinsicht eine solide Ausbildung vorweisen konnten. Viele dieser Agronomen waren in gemeinnützigen Kreisen anzutreffen.
Die Entwicklung der Berggebiete war jahrelang Gegenstand der Diskussion in gemeinnützigen wie auch in wirtschaftlichen und politischen Organisationen und bei den kantonalen und eidgenössischen Behörden. Gleich der Nahrungsmittelproduktion sollte die Integration der Bergbevölkerung in die schweizerische Gesellschaft zur Sache des ganzen Volkes gemacht werden.
Auf Grund einer Motion, welche vom Bund die Ergreifung von «Massnahmen gegen die Entvölkerung der Berggebiete» verlangte, setzte der Bundesrat eine Kommission ein, in der u.a. auch Mitglieder der SGG und der SVIL vertreten waren. Die Kommission nahm sich der «Hebung der Wohlfahrt der Gebirgsbevölkerung» an und lud Frauen des Schweizerisch Gemeinnützigen Frauenvereins (SGF) zur Mithilfe ein. Nachdem sich die Frauen an ihrer Jahresversammlung 1927 in Samedan darüber hatten informieren lassen, wie gemeinnützige Frauenvereine einen Beitrag zur Linderung der Not der Bergbevölkerung leisten könnten, riefen sie die Bevölkerung zu Weihnachten dazu auf, Kleidung, Lebensmittel und Bargeld für die Menschen im urnerischen Meiental zu spenden. Die Reaktion der Bevölkerung auf den Aufruf war überwältigend, so dass auch andere Regionen noch mit dem Notwendigen versorgt werden konnten. Bald darauf, im September 1928, wurde vom SGF eine «Kommission für Hilfe an die Bergbevölkerung» eingesetzt. Um sich ein genaueres Bild von der Bedürftigkeit der Menschen in den Berggebieten zu machen, verschickte man Fragebögen an die Frauenkommission vor Ort. Auch der Aufruf vom Oktober 1928 «Hilfe für die Bergbevölkerung» wurde weitum erhört – Wäsche, Kleider, Nahrungsmittel wurden von vielen Menschen gespendet. An der Jahresversammlung der SGG im Jahre 1929 wurde die Idee der Heimarbeit als Mittel zur Bekämpfung der Not in den Berggebieten diskutiert, was schliesslich im Frühling 1930 auf die Gründung des Schweizerischen Heimatwerks hinauslief, welches einem Teil der Bergbewohner zukünftig zu einem Nebenverdienst verhalf. Bei einem erneuten Aufruf im Jahre 1931, «Für unser Bergvolk», durch den etwa 4500 Familien und Einzelpersonen unterstützt werden konnten, hatten auch die Medien mitgeholfen und sich die Schweizerischen Bundesbahnen beteiligt, indem sie einen Teil der Frachtkosten erliessen. Im Laufe der Zeit wandte man sich in den gemeinnützigen Frauengruppen zunehmend dem Gedanken der neuen Ernährungs- und Agrarpolitik, «Selbsthilfe durch Selbstversorgung», zu, was Folgen für einen weiteren grossen Spendenaufruf im Winter 1936/37 hatte: Nur noch die Alten, Kranken, Wöchnerinnen und Kleinkinder wurden mit Kleiderpaketen bedacht. Allen anderen wollte man mittels Kursen (Gemüseanbau, Geflügel- und Kaninchenzucht, Nähen und Flicken, Kochen, Säuglings- und Krankenpflege und Handfertigkeitskurse für Burschen) Anregungen zur Selbsthilfe geben. Auch die Vermittlung von Praktikantinnen oder die Herausgabe der Zeitung «Das Bergvolk» durch die SGG, die im Rahmen einer Hilfsaktion des SGF den Hilfspaketen beigelegt wurde, stand unter dem Vorzeichen der «Hilfe zur Selbsthilfe». Als Reaktion auf die Zeitung begannen die Bergbewohner der SGG direkt über ihre Lage zu berichten. Dies wiederum hatte zur Folge, dass man von ihrer Kreditnot erfuhr. Daraus entstand die Idee der Vermittlung von Ferienwohnungen in den Berggebieten an die Unterländer als Nebenverdienst für die Bergbewohner, bei der die SGG die Koordinationsaufgabe (bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts) übernahm. Ein aufklärerisches Ziel wurde auch mit der Idee «Radio dem Bergvolk» verfolgt. Über Radios, die in Schul- und Gemeindehäusern aufgestellt wurden, wollte die SGG den Menschen in den abgelegenen Berggebieten den «Anschluss an die Welt und ihre geistigen Güter» ermöglichen, aber auch Brücken zu ihnen schlagen, um «das nationale Zusammengehörigkeitsbewusstsein» zu fördern. Im Oktober 1938 setzte die SGG die «Kommission Hilfe für Berggemeinden» ein, deren Ziel es war, Gemeinden bezüglich forst- und landwirtschaftlicher Projekte finanziell zu unterstützen. 1942 taten sich die wichtigsten öffentlichen und privaten Organisationen und Körperschaften, die sich mit sozialer Arbeit im Berggebiet befassten, in einer Kommission zusammen «Kommission für soziale Arbeit in Berggegenden/KOSAB», die zukünftig unter dem Namen Berghilfe bekannt werden sollte. Die SGG unterstützte die Gründung der Kommission mit einem finanziellen Beitrag. Die Kommission sollte die Zusammenarbeit der laufenden Bestrebungen der sozialen Arbeit in Berggegenden fördern, künftige Hilfstätigkeiten geeigneten Trägern zuweisen und eine gemeinsame Mittelbeschaffung durchführen. Ab 1944 wurden jährlich Geld- und Naturalsammlungen durchgeführt. Das Sekretariat der Berghilfe wurde von der SGG unterhalten. Bis 1952 gewährte die Berghilfe bereits finanzielle Zuschüsse im Umfang von 1 Million Franken, von denen der grösste Teil für Projekte zur Finanzierung von Bauten und maschinellen Einrichtungen verwendet wurde und ein kleinerer Teil für Projekte der Mütter- und Jugendhilfe oder für Kurse und Heimarbeit. Auch heute noch trägt die «Schweizer Berghilfe» zur Verbesserung der Existenzgrundlagen und der Lebensbedingungen im Schweizer Berggebiet bei und fördert die Selbsthilfe der dort ansässigen Bevölkerung. Im Jahr 2010 unterstützte sie 497 Projekte mit 20,4 Millionen Franken.
Das grosse Engagement gemeinnütziger Kreise über viele Jahre hinweg liess unzählige Menschen in den Berggebieten konkrete Hilfeleistung erleben, was dazu führte, dass sich Vertrauen entwickeln und dadurch tatsächlich eine Integration der Bergbevölkerung in zunehmendem Masse gelingen konnte.    •

«Freiwillig verpflichtet. Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800», Beatrice Schumacher, Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2010. Sämtliche Zitate sind diesem Werk entnommen.

Literatur: <link http: www.berghilfe.ch>www.berghilfe.ch

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK