Am Anfang waren viele bunte «papas»

Am Anfang waren viele bunte «papas»

Wie eine kleine Knolle die grosse Welt eroberte

von Heini Hofmann

In einer Zeit des kulinarischen Überflusses kann es nicht schaden, sich daran zu erinnern, dass die Zeit der Hungersnöte nicht weit zurückliegt. Eine der wichtigsten Waffen im Kampf gegen den Hunger war die heute von der Speisekarte nicht mehr wegzudenkende Kartoffel. Doch diese war ursprünglich kein einheimisches Gewächs.
Ein Blick zurück zeigt, dass der lange Weg des Erdapfels von seinem Ursprung in den Anden bis zu seiner aktuellen Bedeutung in der Welternährung als global drittwichtigste Kulturpflanze einer eigentlichen Odyssee gleichkommt.

Herkunft aus den Anden

Vermutlich begann die Kultivierung der Kartoffel vor mehr als 10 000 Jahren an den Ufern des Titicacasees in den bolivianischen und peruanischen Anden, als die ersten Bewohner dieser Region wilde Kartoffeln gezielt zu kreuzen und zu veredeln begannen. Vor gut 7000 Jahren entstand dann die heutige Kartoffel (Solanum tubersosum). Insgesamt 187 andine Wildarten hat man gefunden, von 4 000 Meter über Meer bis hinunter zur Küste. Im Vergleich zu den heutigen, kultivierten Kartoffeln imponiert die Formen- und Farbenvielfalt der wilden Ahnen. Auch in der Blütenvielfalt – von Rot über Rosa und Lila bis zu Violett und Weiss – widerspiegelt sich deren Biodiversität.
Der Kartoffelanbau war für die Entwicklung der andinen Hochlandzivilisationen entscheidend, da Mais sich auf dieser Höhe nicht eignete. Alle wichtigen vorspanischen Andenkulturen, so auch das Inkareich, das sich vom Norden Ecuadors bis in den Süden Chiles erstreckte, basierten auf dem Kartoffelanbau. Die Bedeutung der Knollenfrucht offenbart sich auch in deren Kunst; auffallend sind vor allem Keramiken mit Kartoffelmotiven.

Schwiegertochter-Kartoffel

Die Inkas verwendeten kein Geld; geleistete Arbeit wurde mit Nahrungsmitteln abgegolten. Und dank dem Kartoffelanbau gab es keinen Hunger. Noch heute bearbeiten die Bauern von Pisac in dem den Inkas heiligen Urubamba-Tal ihre Kartoffelfelder mit dem traditionellen Grabspaten oder Anden-Fusspflug. Zuerst bitten sie die Berggötter um Erlaubnis für die Aussaat ihrer Kartoffeln. Im Herbst feiern sie dann den altehrwürdigen Brauch des «ayni», eine Art Erntedankfest.
Jene Kartoffeln, die in sehr hoch gelegenen Bergregionen angepflanzt werden und gegen Frost unempfindlich sind, enthalten Bitterstoffe. Diesem Umstand wird mit einem alten Verfahren aus der Vorinkazeit begegnet: Während mehreren Nächten werden die Kartoffeln im Freien zum Gefrieren ausgebreitet und dort belassen oder auf den Grund von Bachläufen gelegt. Mehrere Wochen später quetschen die Bauern mit den Füssen die Flüssigkeit aus den Knollen und entfernen dabei auch gleich deren Schalen. Anschliessend erfolgt Trocknung an der Sonne. Das so entstehende Produkt, Chuño oder Tunta genannt, ist nahezu unbegrenzt haltbar. Gefriertrocknung also schon damals!
Und natürlich war Kartoffel nicht gleich Kartoffel. Manch eine Sorte hatte eine wichtige kulturelle Bedeutung. So beispielsweise die knorrige Knolle namens Iunchuy waqachi auf Quechua, was zu Deutsch soviel heisst wie «lässt die Schwiegertochter weinen». Diese ausgesprochen vielhöckrige Kartoffel wurde jeweilen der Braut zum Schälen gereicht. So sie die nicht leichte Aufgabe meisterte, durfte sie den Mann heiraten...

Zart wie gekochte Kastanien

So, wie europäische Seefahrer die Neue Welt entdeckten, so eroberte die Kartoffel durch sie die Alte Welt. Die erste historische Erwähnung des Knollengewächses stammt aus dem Jahr 1537, als Jiménez de Quesada eine spanische Expedition ins Hochland des heutigen Kolumbien führte. Spätere Beschreibungen aus verschiedenen Gegenden Südamerikas deuten darauf hin, dass die Kartoffel schon damals in weiten Teilen der Anden verbreitet war. So liegen von den Inkas Berichte vor über Anbaumethoden, einen Fusspflug, das Unkrautjäten und die Ernte.
«Die Häuser», so heisst es in einem Bericht, «waren bestens versorgt mit Mais, Bohnen und ‹Trüffeln› (Kartoffeln), kugelige Wurzeln, die ausgesät werden und Stengel ausbilden. Sie befinden sich unter der Erde und haben die Grösse von einem Ei mehr oder weniger...». Oder ein Soldat schrieb: «Ausser Mais gibt es zwei andere wichtige Hauptnahrungsmittel für die Indios. Eines nennen sie ‹papa›, und es ist eine Art ‹Erdknolle›, die gekocht so zart ist wie gekochte Kastanien, aber nur eine dünne Haut hat, wie Trüffel, und genau wie diese in der Erde wächst.»

Der Siegeszug nach Europa

Es versteht sich von selbst, dass die Seefahrer die tolle Knolle mit nach Europa brachten. Obschon keine schriftlichen Dokumente über deren erstes Auftauchen bekannt sind, gibt es Anhaltspunkte, die auf eine frühe Einführung nach Spanien um 1570 hindeuten. Der erste konkrete Hinweis stammt aus dem «Hospital de la Sangre» im spanischen Sevilla, wo den Patienten solche ‹papas› zubereitet wurden.
Um 1590 herum soll die Knolle auch den Weg nach England gefunden haben, und 1597 fand sie in John Gerards «Herball» die erste Erwähnung. Damit ist auch die heute noch umhergeisternde Irrtheorie widerlegt, wonach Sir Francis Drake die tolle Knolle aus Virginia nach England importiert haben soll. In Wien publizierte der Gelehrte Charles d’Ecluse (genannt Clausius) 1601 in seinem «Rariorum Plantarum Historia» die Illustration einer Kartoffel, bei der bereits deutlich zwischen Sprossknollen und Wurzelknollen unterschieden wurde.

Vehikulum Protestantismus

In Europa verbreitete sich die Kartoffel über drei Hauptwege: Zum einen als «Objekt der Neugierde» unter Wissenschaftlern und Botanikern. Zum andern als «Objekt der Nutzung» in den Klöstern des Karmeliter-Bettelordens. Der dritte Weg der Verbreitung folgte – ab 1648, also nach dem Ende des 30-jährigen Krieges – der Ausbreitung des protestantischen Glaubens, weil dessen Anhänger, wenn Verfolgungen sie zwangen weiterzuziehen, die Kartoffel mitnahmen. In die Schweiz jedoch sollen die ersten Kartoffeln von einem Gardisten aus Rom via Glarus nach Basel gebracht worden sein, wo sie der Botaniker Gaspard Bauhin 1596 erstmals beschrieb.
Der Siegeszug der tollen Knolle war nicht mehr aufzuhalten: 1680 pflanzte sie König Jan III Sobieski im Garten seines Palastes in der Nähe von Warschau in Polen. 1748 verbot dann plötzlich das französische Parlament den Anbau der Kartoffel, weil die Meinung aufgekommen war, sie verursache Lepra. 1753 begründete der schwedische Botaniker Carl Linnaeus die moderne Nomenklatur in seinem Werk «Species Plantarum», worin auch die Kartoffel aufgeführt war.

Hunger, Flucht und Tod

Ein Vierteljahrhundert nach dem Verbot in Frankreich setzte sich hier der Wissenschaftler Parmentier für die erneute Popularisierung der Kartoffel ein, unterstützt von König Louis XVI, der sie im Garten von Versailles gedeihen liess. Auch Friedrich der Grosse in Preussen verordnete 1774 seinem Volk den Anbau dieser Knollen als Vorsorge gegen Hunger. So war denn am Ende der Napoleonischen Kriege im Jahre 1815 die Kartoffel das Grundnahrungsmittel auf dem Teller der meisten Europäer. Sogar Thomas Jefferson servierte – nach einem Frankreichaufenthalt – seinen Gästen im Weissen Haus erstmals Kartoffeln.
Doch dann kam der grosse Schock: In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts brach in Amerika die verheerende Kraut- und Knollenfäule aus und wurde 1845 via Belgien nach Europa verschleppt, wo sie sich rasch ausbreitete, besonders dramatisch in Irland, wo praktisch die gesamte Ernte vernichtet wurde. Resultat: Hungersnot und Krankheiten, über eine Million Tote und ebenso viele, die gezwungen waren auszuwandern.
Trotzdem verbreitete sich die Kartoffel weiter: 1850 verordnete Zar Nikolaus I seinem Volk den Kartoffelanbau, und in Alaska wog man – während des Goldrausches – die Knollen auf Grund ihres Vitamin C-Gehaltes mit Gold auf. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Kartoffel bereits in ganz Europa als Grundnahrungsmittel angebaut, und in den Jahren des Zweiten Weltkrieges sicherte sie in Europa und Russland die Ernährung der Bevölkerung.

Die weltweite Verbreitung

Ausserhalb Europas verbreitete sich die Kartoffel auf zwei Wegen: Europäische Missionare, Siedler und Kaufleute brachten sie nach Nordamerika, Afrika, Asien und in den pazifischen Raum. Das Land mit der höchsten Kartoffelproduktion ist heute China, und Afrika steht als Kontinent bezüglich Anbau an dritter Stelle. Kurz: Das Vermächtnis der Anden, deren Völker die wilde Kartoffel domestiziert und veredelt hatten, ist inzwischen ein globales Erbe geworden.
Zur Zeit ist die Kartoffel, nach Reis und Weizen, die drittwichtigste Nahrungspflanze der Welt. In über 130 Ländern werden Kartoffeln angebaut, die von mehr als einer Milliarde Menschen konsumiert werden. Im Jahre 2005 übertraf die Anbaufläche für Kartoffeln in den Entwicklungsländern erstmals jene der Industriestaaten. Dennoch ist der Kartoffelkonsum in Europa weltweit der höchste.
Doch die Geschichte der Kartoffel ist noch nicht zu Ende geschrieben; denn im Zuge von Klimawandel und steigenden Getreidepreisen, aber auch auf Grund der zunehmenden Nutzung von Nahrungsmitteln als Biotreibstoffe, wird die tolle Knolle für die weltweite Ernährungssicherung in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen.     •

Röstiland Helvetien
HH. In der Schweiz mit ihrer Nationalspeise Rösti werden auf gut 11 000 Hektaren Erdäpfel angepflanzt (während des Zweiten Weltkriegs waren es noch 80 000). 65 Prozent der Ernte gelangen in den menschlichen Konsum, 30 Prozent dienen als Viehfutter und 5 Prozent werden als Saatkartoffeln eingesetzt. Momentan werden rund 30 Sorten angebaut. Der Verzehr pro Jahr und Kopf beträgt 45 Kilogramm. Mit steigendem Wohlstand wurde die Kartoffel von der Notspeise zur Beilage.

 

Die Schweiz ist mitbeteiligt
HH. Total gibt es rund 5000 Kartoffel­sorten (etwa 3000 allein in Peru), wovon rund 300 Wildformen sind. Nicht nur ihr Aussehen, auch ihre Farben variieren vom hier bekannten Gelb und Braun bis zu Rot, Violett, Blau und Schwarz. Obschon die Identifizierung der ganzen Knollen-Palette noch nicht abgeschlossen ist, sind immer mehr ursprüngliche Sorten gefährdet, da sich auf dem Markt nur die Hochertragssorten durchsetzen. Deshalb kommt der Basisforschung im Internationalen Kartoffelzentrum CIP (Centro Internacional de la Papa) in Lima, welches auch von der Deza (Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) unterstützt wird, grosse Bedeutung zu.
    Die Wissenschaftler am CIP suchen nach alten Sorten mit besonders hohem Nährwert und kreuzen deren Eigenschaften in Hochertragssorten ein, um sie so marktgängiger zu machen. Auch werden ursprüngliche, vom Aussterben bedrohte Sorten als Gourmetdelikatessen (für den Export gefroren) lanciert, womit den Kartoffeln und den Anden-Bauern geholfen ist. Auch Swiss­aid setzt auf die Kartoffel und betont, dass immer noch mehr als 860 Millionen Menschen hungern, obschon genügend Lebensmittel für alle produziert werden könnten. Die Kartoffel hätte ganz speziell das Potenzial, das globale Hungerproblem zu lösen.

 

Topinambur – die «Diabetikerkartoffel»
HH. Vom Aussehen her erinnern die bräunlichen, knorrigen Knollen entfernt an Ingwer. Topinambur, ein bis drei Meter hoch wachsendes, aus Mexiko stammendes und der Sonnenblume verwandtes Knollengewächs war vor allem in Frankreich beliebt. Es wurde dann aber Mitte 18. Jahrhundert von der ergiebigeren Kartoffel verdrängt.
    Heute spielt Topinambur mit seinem mild-nussigen Geschmack nur noch eine unbedeutende Rolle und wird vor allem als Tierfutter angebaut, obschon er wegen der vielen Vitamine und Spurenelemente als besonders gesund gilt und erst noch die Gewichtsabnahme unterstützt: Mit 30 Kalorien pro 100 Gramm unterbietet er die Kartoffel (mit 85 Kalorien) deutlich, und zudem wirkt er wegen des hohen Inulingehaltes appetithemmend. Inulin wirkt sich aber auch günstig auf den Insulinhaushalt aus, weshalb Topinambur auch «Diabetikerkartoffel» genannt wird.

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