Hamburg – Kumulieren und Panaschieren bricht Macht der Parteien

Hamburg – Kumulieren und Panaschieren bricht Macht der Parteien

Modernstes Wahlrecht aller Bundesländer

von Burga Buddensiek

Am 20. Februar wurde in Hamburg erstmals nach einem neuen Wahlrecht gewählt. Konnte früher nur über die von den Parteien aufgestellten starren Kandidatenlisten entschieden werden, hatten die Bürger in diesem Jahr mit insgesamt zehn Stimmen einen wesentlich grösseren Einfluss darauf, wer in das Landesparlament einziehen wird. Die Stimmen liessen sich beliebig auf die Kandidierenden verteilen (panaschieren) oder auch gehäuft auf einen Kandidaten setzen (kumulieren), um so dessen Wahlchancen zu verbessern. Die von den Parteien vergebenen Listenplätze verloren damit an Bedeutung. Mandatsbewerber konnten nun nach den Erfolgen ihrer bisherigen Tätigkeit und nach Beurteilung ihrer Fachkompetenz gewählt werden.

«Das neue Wahlrecht wird Hamburg mehr verändern als die Volksgesetzgebung», konstatiert Manfred Brandt gelassen. Der 66jährige Agrarwissenschaftler hat mehr als zehn Jahre für dieses Wahlgesetz gekämpft. 1996 gründete er mit wenigen Gleichgesinnten den Hamburger Landesverband «Mehr Demokratie» und zwei Jahre später schob er den ersten Vorstoss zur Wahlgesetzänderung per Volksentscheid an. «Der Bundesverband von Mehr Demokratie hatte damals an diesem Thema überhaupt kein Interesse. Für den stand die Volksgesetzgebung absolut im Vordergrund», erinnert sich der gelernte Landwirt. Also gründete man den Verein «Mehr Bürgerrechte» und versuchte es auf eigene Faust. Der Erfolg kam jedoch nicht sofort. Weil sich einige Veränderungen im ersten Wahlgesetzentwurf als nicht mehrheitsfähig herausstellten, brach der Verein die Unterschriftensammlungen für ein Volksbegehren im Frühjahr 2001 ab. «Ein Abbruch ist nicht so schlimm wie ein Scheitern», wusste der langjährige Kommunalpolitiker – aber auch, dass man einen langen Atem braucht, um etwas zu bewirken.
Sie sind noch zu dritt, als sie im Herbst 2002 den Neuanfang wagen. «Da muss­ten wir richtig strampeln», nennt es Manfred Brandt. Sie suchen Verbündete und finden sie schliesslich bei «Omnibus für Direkte Demokratie GmbH» und irgendwann gesellt sich der Bundesverband von «Mehr Demokratie e.V.» doch noch dazu. Und zusammen klappt es: Am 13. Juni 2004 entscheiden sich mehr als 256 500 Wahlbürger per Volksentscheid für das modernste Wahlrecht aller Bundesländer! Dessen hauptsächliches Ziel ist es, den Einfluss der Parteien auf die Zusammensetzung der Bürgerschaft (Hamburger Landesparlament) zu minimieren. Ausschlaggebend für die Aussicht auf ein Mandat sollte ausschliesslich die Anzahl der Stimmen sein, die ein Kandidat durch das Kumulieren und Panaschieren der Wähler erreichen konnte. Ein Gegenvorschlag von CDU und SPD, der dem Bundeswahlrecht ähnlich war und die Parteienlisten festschreiben wollte, wurde vom Volk abgelehnt.
Man hatte schliesslich seine Erfahrungen: Viele Bürger erinnerten sich noch daran, dass das Hamburger Verfassungsgericht wegen «schwerer demokratischer Defizite im Kandidatennominierungsverfahren der Hamburger CDU» im Mai 1993 die vorangegangene Bürgerschaftswahl für ungültig erklärt hatte. Ein Erfolg der sogenannten «CDU-Rebellen», einer CDU-internen kritischen Gruppe, der u.a. der Staatsrechtler Prof. Karl Albrecht Schachtschneider angehörte.
So wie sich die hansestädtische CDU-Führung jahrelang gegen die internen Reformversuche der «Rebellen» wehrte, so wollte sie sich auch nicht durch den Bürgerwillen geschlagen geben. Mit einer denkbar knappen absoluten Mehrheit (drei Stimmen) in der damaligen Regierung beschlossen die Christdemokraten im Oktober 2006 ein Wahlgesetz, womit die entscheidenden Merkmale des vom Volk bestimmten Wahlrechts wieder abgeschafft und der Einfluss der Parteien auf die Kandidatenwahl gesichert wurde.
Die Opposition stellte sich auf die Seite der Initiative. GAL und SPD klagten gegen die Gesetzesänderung vor dem hamburgischen Verfassungsgericht, was 2007 nochmals zu einer Wahlrechtsänderung führte. Diese ging Manfred Brandt und seinen Mitstreitern aber nicht weit genug. Wieder gingen sie auf die Strasse, sammelten im Herbst 2008 (Volksinitiative) ausreichend viele Unterschriften für ein Volksbegehren und konnten auch dieses Anfang 2009 erfolgreich beenden.
Inzwischen hatte sich für die CDU das Blatt gewendet. Seit Februar 2008 regierte man mit der GAL und der auf das Volksbegehren folgende Volksentscheid hätte am Tag der Bundestagswahl 2009 stattfinden müssen. Wohl eher aus politischem Kalkül als aus Einsicht beugte man sich dem Willen des Volkes. Der Vorschlag der Initiative wurde am 26. Juni 2009 weitgehend übernommen und kann nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit der Bürgerschaft und nicht mehr gegen den Bürgerwillen geändert werden. Zwar ist das nun rechtmässige Wahlrecht ein Kompromiss, aber Manfred Brandt ist nicht unzufrieden: «Es wird vielleicht noch zwei bis drei Legislaturperioden dauern», ist seine Einschätzung, «aber dann werden Wähler und Kandidaten wissen, was sie in der Hand haben».
Vor dem Volksentscheid über das Wahlrecht 2004 hatte Hamburg das rückständigste Wahlrecht aller Bundesländer: Wahlkreise waren Utopie und starre Landeslisten der Parteien die einzige Wahlmöglichkeit. Jeder Bürger konnte nur eine Stimme an eine Partei vergeben und damit deren Kandidaten­liste akzeptieren.
Heute gibt es 17 Wahlkreise, in denen je nach Grösse drei bis fünf Kandidaten direkt gewählt werden. So wissen die Bürger, welcher Mandatsträger in der Bürgerschaft für ihren Wahlkreis zuständig und Ansprechpartner ist. 71 der insgesamt 121 Sitze der Bürgerschaft werden über die Wahlkreise vergeben. Auch parteilose Einzelkandidaten stellen sich hier zur Wahl. Die restlichen 50 Sitze werden über die Landeslisten besetzt. Dort besteht die Möglichkeit, die Stimmen einer Partei zu geben und damit ihre Liste zu akzeptieren. Sie können aber auch den Kandidaten direkt zugeteilt werden.
1035 Kandidaten hatten sich in diesem Jahr um die 121 Bürgerschaftsmandate beworben. Für die meisten Wähler war dies eine grosse Herausforderung, denn kaum jemand kannte die zur Wahl Stehenden. Die verkürzte Zeit auf Grund vorgezogener Neuwahlen (nach dem Bruch der schwarz/grünen Koalition im Dezember) erschwerte zusätzlich die Auseinandersetzung mit dem neuen Wahlrecht. Dennoch liess sich auch im verkürzten Wahlkampf bereits ermessen, dass in Hamburg nun ein anderer – demokratischer – Wind weht: In zahlreichen Veranstaltungen versuchten die Kandidaten, sich bekannt zu machen und den Wählern die neuen «Wahlmöglichkeiten» zu erklären. Die regionalen Medien nahmen ihren Aufklärungsauftrag durch tägliche Berichterstattung in erstaunlichem Umfang wahr. Aber auch über das Internet wurden den Hamburgern zahlreiche Hilfen angeboten: Sei es, dass man den eigenen Kandidaten direkte Fragen stellen konnte oder über die Antworten zu wesentlichen Themen der Hamburger Politik herausfinden mochte, welcher der Kandidaten die eigene Meinung am ehesten vertritt (Abgeordnetenwatch und Kandidatencheck, Internetportal des Politologen Gregor Hackmack); sei es, dass man sich über den Vergleich der Wahlprogramme der Parteien Entscheidungshilfe für seine Stimmenabgabe meinte verschaffen zu können (wahl-o-mat der «Landeszentrale für politische Bildung»); sei es, dass man Genaueres über den Modus der Stimmenauszählung erfahren wollte (Wahlbroschüre des Landeswahlleiters) oder mehr über Aussehen und Vita der Mandatsbewerber als hilfreich empfand (persönliche Kandidaten-Webseiten). Vielen Hamburgern gefiel die neue Herausforderung und das damit verbundene Gefühl, einen wirklichen Einfluss auf die zukünftige Politik der Stadt zu bekommen, manche haben sicher vor der Herausforderung kapituliert.
Den Parteien war mit zunehmender Wahltagsnähe deutliche Nervosität anzumerken. Man versuchte, die ungewohnte «Bürgerwahlfreiheit» durch innerparteiliche Wahlkampfrichtlinien zu unterlaufen, und je näher die Abstimmung rückte, desto mehr wurde das neue Wahlrecht in Frage gestellt. Wahlbeteiligung und Quote der ungültigen Stimmen würde darüber entscheiden, ob das Wahlgesetz einer Modifizierung bedarf, verlautete aus mehreren Parteibüros.
Die Rückschau auf die Wahlen zeigt zwar, dass die Wahlbeteiligung einen historischen Tiefstand von 57,3 Prozent erreicht hat, was jedoch in Bundesländern mit gleichbleibendem Wahlgesetz auch nicht anders ist. Die Anzahl der ungültigen Stimmen (3,1%) ist nicht wesentlich höher als bei der letzten Bürgerschaftswahl und liegt im Bundesvergleich der Länder eher im unteren Bereich. Nach einer Auswertung von wahlrecht.de haben die Wähler 23 von 121 Sitzen der Bürgerschaft anders besetzt, als die Parteispitzen sich das vorgestellt hatten. So war es angesichts drastischer Kürzungen im Kultur­etat durch den letzten Senat den Hamburgern anscheinend ein Bedürfnis, die Interessen der Kultur im Rathaus mehr vertreten zu sehen. Sie katapultierten die auf Platz 60 der SPD-Landesliste nominierte Intendantin des «Ernst-Deutsch-Theaters», Isabella Vértes-Schütter, auf Platz neun und damit ins Parlament. Auch Walter Scheuerl, Motor des erfolgreichen Volksentscheids gegen die Schulreform und nun parteiloser Kandidat für die CDU (Listenplatz fünf), bekam doppelt so viele Stimmen wie der auf Platz zwei gesetzte CDU-Landeschef und Fraktionsvorsitzende Frank Schira. Insgesamt kann man den ersten «Durchlauf» des neuen Wahlrechts als gelungen bezeichnen. Kleinere Mängel, die im wesentlichen der kurzen Vorbereitungszeit geschuldet waren, lassen sich leicht beheben. «Ohnehin ist das neue Wahlrecht eine strukturelle Änderung, die viele ihrer Effekte erst mittel- und langfristig voll entfalten wird, zum Beispiel, was den Bekanntheitsgrad der Kandidaten angeht», meint Manfred Brandt.    •

Sozial und solide – Ein alt bewährtes Bürgerkonzept

rr. Vor 100 Tagen hat Hamburg gewählt. Die Zeit der Experimente ist vorbei. Damit auch die Zeit der Regierungsbeteiligung der Grün Alternativen Liste. Die Bürger haben sich für eine alt bewährte Politik der Hansestadt entschieden. Dazu gehört zum einen, dass die soziale Verantwortung wahrgenommen wird. Dazu muss die Wirtschaft ihren Platz haben. Projekte werde nur noch durchgeführt, wenn sie auch bezahlt werden können. Und so ganz nebenbei findet sich eine Stellungnahme der neuen Gesundheitssenatorin, die klare Worte in der Drogenplitik findet. Es braucht keine Experimente. Sie könne die Gefährlichkeit beurteilen, ohne selbst Drogen genommen zu haben. Das ist eine von vielen Stellungnahmen, die aufzeigen: Die soziale Frage und die dazu vorhandenen soliden Grundlagen, diese zu lösen, ist nach wie vor (wahl-) entscheidend.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK