Der Jugend eine Heimat geben

Der Jugend eine Heimat geben

Ein Interview mit Dr. Edgar Most, ehemaliger Vizepräsident der Staatsbank der DDR und ehemaliger Direktor der Deutschen Bank in Berlin

Edgar Most, Jahrgang 1940, ist aufgewachsen in der Mitte Deutschlands zwischen Rhön und Thüringer Wald, war immer ein eigenständiger Denker, hat das Bankfach von der Pike auf gelernt, war jüngster Bankdirektor der DDR, in der Übergangsphase 1989/90 Vizepräsident der DDR-Staatsbank, Gründer der ersten Privatbank in der DDR, dann Direktor der Deutschen Bank in Berlin, ist seit 2004 in Rente, aber keineswegs im Ruhestand. Edgar Most kennt Ost- und Westdeutschland. Jeder dritte Arbeitsplatz in den neuen Bundesländern, so heisst es, ist auch seinen Entscheidungen als Bankier zu verdanken. Bei einem Besuch in der Schweiz äusserte er sich zur «Wiedervereinigung», zu seinen Wurzeln, zu seiner Tätigkeit – und zur Jugend.

Zeit-Fragen: Herr Dr. Most, ist die deutsche Wiedervereinigung gelungen?

Dr. Edgar Most: Politisch ist die Wiedervereinigung gelungen, wirtschaftspolitisch ist es eine Katastrophe. Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, werden die Menschen nicht mitgenommen, und demzufolge ist die mentale Wiedervereinigung bis heute nicht da. Das ist eigentlich sehr kritisch zu vermerken.
Man hat zwar den Einigungsvertrag formuliert und vieles gemacht, aber letztlich hat die DDR 40 Jahre Wissen und Können – Plus- und Minusfaktoren – einfach in die Ecke geschmissen und sich praktisch der westlichen Welt hingegeben und vor allem damit dem westeuropäischen Kapital. Und Kapital ist nicht sozial, es hat keine Heimat, und der Markt auch nicht.

Was hätten Sie sich gewünscht?

Erstens: Dass wir den Menschen wieder eine Heimat geben, vor allen Dingen, dass die nachwachsenden Generationen wieder zu Hause bleiben und nicht nur in die Welt hinausströmen. Man kann mal hinausströmen und sich den Wind um die Nase wehen lassen, ist ja alles in Ordnung, aber unter dem Strich muss man auch wissen, wo die Heimat ist. Man muss sich auch der Heimat wieder verschreiben, für die Heimat etwas entwickeln usw.
Zweitens: Seid bereit zu sagen, dass es vereinigungsbedingte Fehler gab. Ich will keine Ursachenforschung nach Verantwortung, ich will die Fehler nur beseitigen lassen.
Der nächste Punkt wäre dann: Jetzt machen wir einen Pakt Ost, in diesem wird strukturiert: Wo wollen wir in 20, 30 Jahren sein? Mit welchen Methoden? Das fängt in der Bildung an, das fängt im Familienleben an. Dass Kinder auch in Gemeinschaften erzogen werden, weil sie dann als Kinder schon lernen, in der Gemeinschaft später auch zu leben. Wenn sich Kinder nur als Individuen entwickeln – der eine geht in die Privatschule, der andere macht das, der das –, sie werden nie in der Lage sein, die Gesellschaft zu vertreten. Sie werden nur in der Lage sein, sich selbst zu vertreten. Das war bei uns eben anders. Wir hatten nicht viel, wir mussten mehr miteinander arbeiten. Vielleicht hat die Partei zuviel reingeredet, das stimmt schon. Das will ich auch gar nicht bestreiten. Manchmal habe ich auch die Schnauze voll gehabt, wenn man’s so sagen darf. Aber heute könnten wir viele neue Wege gehen, und das brauchen wir.

Wir möchten auf Ihr persönliches Wirken zu sprechen kommen. Mit welchen Werten sind Sie aufgewachsen, und wie haben Sie versucht, diese Werte zu leben?

Ich bin im Krieg geboren, 1940, und in die erste Schulklasse nach dem Krieg, 1946, bin ich eingeschult worden. Ich bin auf einem Bauernhof – im Nebenerwerb, würde man heute sagen – aufgewachsen, mit viereinhalb Hektaren Land. Das haben wir alles nebenbei gemacht. Ansonsten hatten wir alle unsere Berufe. Mein Opa war Maurer, meine Mutter war Waldarbeiterin, der Vater war Elektriker, mein anderer Opa war Maler. Die Gross­eltern vor allem haben uns erzogen, mein Vater kam erst 1949 aus der Gefangenschaft wieder, er war der letzte deutsche Kriegsgefangene in Grosny, in Tschetschenien. Als er nach Hause kam, waren wir schon fast selbständige Kinder.
Mein Opa war Kirchenältester in unserer 4000-Seelen-Gemeinde, in der Nähe der Wartburg bei Eisenach, und er war daher Lutheraner. So bin ich auch erzogen worden, ich bin Mitglied der Jungen Gemeinde gewesen.
So bin ich aufgewachsen auf dem Dorf. Zu Hause, wenn ich aus der Schule kam, lag ein Zettel auf dem Tisch: die und die Arbeiten müssen erledigt werden. Da wurde auch nicht geschimpft, da wurde gemacht. Das war für meinen Opa so und auch für meinen Vater, als er wieder zu Hause war, genauso wie für uns als Kinder. Das war die grosse Gemeinschaft.
Nach dem Krieg, als es nicht viel gab, war es auf so einem Bauernhof, auch wenn er noch so klein war, immer noch besser, als in der Stadt zu leben. Wir hatten auch viele Ost-Umsiedler im Dorf. Zu meiner Grossmutter kam immer eine Frau, die um einen Topf Milch gebettelt hat. Meine Grossmutter als Christin hat das auch wirklich gelebt und hat dann immer etwas gegeben, und wenn es nur ein Stück Kartoffel war, ein Stück Brot oder eine Tasse Milch. Das haben wir als Kinder miterlebt: dieses wirklich solidarische Leben. Nicht nur darüber reden, sondern auch machen. Ich glaube, dass hat meinen Charakter und den meiner Geschwister mitgestaltet. Auch als es dann besser ging, wurde diese Grundhaltung beibehalten.

«Seit 1990 frage ich mich: Warum nutzen wir das Geschenk der Einheit Deutschlands nicht, unser Land auch mental zu einer Nation zusammenzuschweissen? Statt dessen wurde alles daran gesetzt, die Bevölkerung in Sieger und Besiegte aufzuteilen und den Osten Deutschlands zum zweiten Mal zum Verlierer zu stempeln. Wenn man einen Krieg verliert, steht man, wenn auch verwundet, recht schnell wieder aus den Ruinen auf. Unterliegt man dagegen in einem kalten Krieg, trampeln die Sieger über Generationen hinweg auf den Besiegten herum. Das spürte ich bei der deutschen Einheit deutlich.»

Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen dritten Weg?, 2009, S. 9f.

Dann haben wir auch gelernt: Ethik und Moral in der Arbeit. Mein Opa war Maurerpolier in einer Privatfirma, und als Maurer­polier ist man ja sozusagen die rechte Hand des Eigentümers. Ich bin mit ihm oft durch die Strassen gelaufen, und er hat über die Backsteine oder Kalksteine gestrichen, als ob er Kühe streicheln würde. Das war seine Arbeit, sein Leben, das habe ich gemocht. Ob er da einen Schornstein ausgebessert hat oder einen Ofen gesetzt oder ein Haus gebaut hat. Da war eine Ehre drin in dieser Arbeit, er hat nicht nur gearbeitet, um Geld zu verdienen, er wollte auch sich selbst verwirklichen. Das habe ich auch bei meinem Vater als Elektriker gemerkt. Diese Erziehung, die eigene Arbeit nicht nur als Mittel zum Geldverdienen zu sehen, sondern auch als etwas für das gemeinsame Ganze zu sehen und sich nicht darüber zu erheben, das ist schon Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung. Ich habe das erst später so richtig begriffen, als Kind nimmt man es nur auf. Aber später, als ich dann selbst im Berufsleben stand, habe ich ja erst einmal mitbekommen, was die Eltern und Grosseltern mir mitgegeben haben.
Das war nicht aufoktroyiert, das war Erleben, vorbildliches Erleben. Und ich bin meinen Grosseltern und Eltern so dankbar, dass ich das zu Hause miterleben durfte. Wir sassen am Tisch abends, vier Kinder, die Gross-eltern, die Eltern, da wurde aus der grossen Pfanne gegessen. Da hatte jeder seinen Löffel und ein bisschen Sauermilch und die grosse Pfanne. So ging das eben.
Also nur allein schon diese Erlebnisse, die haben uns geprägt. Das ist ja heute für viele undenkbar in dieser Konsumgesellschaft. Und ich muss sagen: Mit dieser Einstellung, die meine Vorfahren mir vorgelebt hatten, habe ich versucht – nicht jetzt wissentlich, sondern einfach vom Charakter her –, mich so einzubringen in die Gesellschaft, als ich dann in ein arbeitsfähiges Alter kam und dann noch in eine Entwicklung hineinging in die Bank, die bei uns in unserem Umfeld keiner hatte, also ich bin absoluter Aussenseiter, alle sind Handwerker, und ich werde jetzt Banker.

Wie kam es, dass Sie Banker wurden?

Das ist zustande gekommen, weil sich zum ersten Mal Männer als Lehrlinge bewerben durften. Vorher ging das nicht, da war man Soldat oder Bergmann. Aber jetzt durfte man Banker werden! Ich sollte eigentlich Elektriker werden. Aber dann habe ich mich bei der Bank beworben. Ich bin schliesslich genommen worden als einziger von 18 Bewerbungen, weil ich gut Schach spielen konnte. Ich war zweimal Thüringer Meister im Blitzschach und dreimal Jugendmeister in der Schule. Wir hatten eine eigene Mannschaft in der Schule. Und da in der Bank viele waren, die auch aktiv Schach spielten, mein Filialdirektor selbst auch, sagte er: «Du bist der Richtige, logisches Denken beim Schachspielen, Vorausdenken – was kommt übermorgen und noch später –, dann kannst du ein guter Banker werden.» Das war die Einstellung meines damaligen Chefs.
Ja, so bin ich Banker geworden. Und wenn man erst mal drin ist, will man auch etwas aus sich machen. Als ich meinen Facharbeiter abgeschlossen hatte, die Ausbildung zum Bankkaufmann, damals noch eine bürgerliche Banklehre, wollte ich studieren. Aber dann durfte ich nicht studieren, weil ich Mitglied in der Kirche war. Junge-Gemeinde-Mitglied. Dann kamen schon die Kaderchefs, die SED-bezogen waren, und sagten: «Du haust bestimmt nach dem Westen ab.» Ich lebte ja an der Staatsgrenze nach Hessen. Es war kein Vertrauen da zu mir. «Du hörst mehr auf den Pfarrer und auf den lieben Gott als auf das, was wir zu sagen haben.» Absoluter Blödsinn, überzogen, stimmte auch gar nicht. Wir waren Jugendliche wie alle anderen. Wir haben alles mitgemacht, wir haben Fussball gespielt, wir haben Schach gespielt, haben geboxt, waren immer in irgendwelchen Vereinen organisiert, aber das, was die uns unterstellen wollten, stimmte nicht. Und ich bin drei Jahre lang von der Staatssicherheit verhört worden, mit 14, 15, 16 Jahren, immer am selben Tag des Jahres, an dem ich angeblich gegen die FDJ Sachen gemacht hatte. Dabei war ich selbst FDJ-Sekretär in der Bank.
Aber da ist bei mir auch ein Trotz entstanden. Ich sagte: Ich werd es euch beweisen, ich bin so bodenständig, ich werde nicht abhauen, ich werde immer zu Hause bleiben, ich habe auch Verpflichtungen gegenüber den älteren Generationen. Die haben für mich gesorgt, die werden älter, da musst du auch etwas einbringen. Aber du machst dann alles auf dem zweiten Bildungsweg: So habe ich Abitur, Fachschule, Universität, einen Fachschulabschluss Betriebswirtschaft, Hochschulabschluss Volkswirtschaft, Geld und Kreditwesen in 12 Jahren Fernstudium gemacht. Das macht man nicht so nebenbei …

«Es wäre sinnvoll gewesen, den Osten von innen heraus zu verändern und nicht als Anhängsel der Bundesrepublik. [...] Keiner von uns war gegen die D-Mark-Einführung oder die Einheit. Doch die Bedingungen hätten der ostdeutschen Realität angepasst werden müssen.»

Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen dritten Weg?, 2009, S. 165f.

Aber nach der Wende habe ich dann erlebt, dass mein ganzes Studium nicht mehr anerkannt wurde. Da haben sie einfach entschieden: Wer an den und den Unis und Schulen studiert hat, das gilt nicht mehr. Da hat sich jemand angemasst, über mein Leben zu entscheiden, der mich nicht kannte, der gar nichts wusste …, nur weil ich da und dort studiert habe. Da wurden Schulen als «rote Schulen» eingestuft, auf denen ich als Christ studiert habe. Das muss man sich mal vorstellen! Das war die «Wiedervereinigung».

Sie haben sich sicherlich dagegen gewehrt?

Da war ich ja schon Chef der Deutschen Bank und Chef der Deutschen Kreditbank und habe demzufolge einen Brief an den Ministerpräsidenten nach Thüringen geschickt, an Herrn Vogel, und habe ihm mitgeteilt, dass ich in Gotha an der Fachschule Betriebswirtschaft studiert habe und überhaupt nicht einsehe, dass jemand das Recht hat, einfach darüber zu befinden, ob das noch gilt oder nicht. Ich schrieb: «Ich lehne das rundweg ab, ich verlange, dass das wiedergutgemacht wird.» Das hat er auch gemacht. Er wollte nur wissen, was aus mir geworden ist, er kannte mich ja.

«Die Ursachen der weltweiten Verschuldung und des proportional dazu wachsenden Geldreichtums sind eng mit der Entwicklung der Haushaltsdefizite und Militärausgaben in den USA verwoben, was sich an den Ausgaben für die Kriege in Vietnam, Afghanistan und dem Irak zeigt. Ist es nicht mehr als schizophren, dass durch die Wertevernichtung in Kriegen die Kapitalkonzentration zunimmt und der Reichtum der Vermögenden anwächst?»

Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen dritten Weg?, 2009, S. 246

Dann habe ich an Eberhard Diepgen, den Bürgermeister von Berlin, geschrieben wegen der Universität. Ich habe an der Hochschule für Ökonomie studiert und an der Humboldt- Universität meinen Abschluss gemacht. Das sollte zuerst auch nicht anerkannt werden. Drei oder vier Jahre später wurde das wieder aufgehoben. Die meisten Menschen haben das gar nicht mitgekriegt. Für mich war das eine Demütigung! Eine Demütigung meiner Leistung, 12 Jahre Fernstudium gemacht zu haben, dabei alle möglichen Stufen im Beruf erklommen zu haben, eine Familie gegründet zu haben mit zwei Kindern. Und dann sagt irgend jemand: Das war alles für die Katz. Das gilt alles nicht.
Aber das, was zu Hause vorgelebt wurde, die Wurzeln, das, was mir meine Eltern und Grosseltern mitgegeben haben, habe ich versucht nachzugestalten, ich habe versucht, auch etwas zurückzugeben. Das ist nicht immer einfach. Aber, wie gesagt, nicht aufgebürdet: du musst das jetzt. Sondern es war einfach innen drin. Und als ich weggegangen bin von Thüringen nach Schwedt, hat meine Oma gesagt: «Lass dir den Wind um die Nase wehen, du wirst nicht dümmer davon, aber egal, was du im Leben wirst, vergiss’ nicht, woher du kommst!»
Und ich bin ja dann was geworden, bin am Ende Vize-Präsident der Staatsbank geworden, der Präsident war schon nicht mehr da. Also in der schlimmsten Zeit war ich der mächtigste Mann auf dem Geldgebiet im Osten. Ich war für 13 000 Menschen verantwortlich und für vieles andere mehr – neben jenen in der Wirtschaft, für die ich durch Kredite auch entscheiden konnte, ob sie leben oder sterben. Und die Grundaussage: «Vergiss nicht, wo du herkommst, und vergiss nie, dass du in deinem Leben auch für andere Menschen da zu sein hast», das ist mir erst richtig bewusst geworden, als ich diese hohe Funktion hatte. Da habe ich manchmal gesessen und nachgedacht: «Mensch, wie hätte der Opa reagiert, wie hätte der Vater reagiert?» Einfach nur mal so als Selbstgespräch. Die helfen einem nicht, aber sie helfen einem doch wiederum, weil man sich zurückbesinnt, wie war denn das damals nach dem Krieg, wie haben denn die da entschieden? Ja, und insofern denke ich, wenn ich heute mein Leben Revue passieren lasse: Ich hab es nicht wissentlich, aber indirekt doch so umgesetzt, wie es meine Vorfahren von mir erwartet hatten und was ich mir auch selbst zur Aufgabe gestellt hatte. Aber eben nicht aufgepfropft: Du musst jetzt so, und du musst so. Sondern das Leben bringt so viele Wahrscheinlichkeiten mit sich und plötzlich Themen, und da musst du einfach reagieren.

Können Sie das mit einem Beispiel veranschaulichen?

Ich erinnere mich, als ich in Schwedt Bankdirektor einer Filiale mit der grössten Bilanzsumme war, als jüngster Direktor in der DDR mit 26 Jahren, da hatte ich auch zwei Kraftfahrer und zwei Sekretärinnen. Der eine Kraftfahrer hat einen Unfall gebaut, und zwar hat er einen Tieflader überholt, der Platten geladen hatte. Vor dem Tieflader kam einer mit dem Moped rum und knallte gegen den Wolga. Da war das Knie kaputt und vieles andere. Er lag dann im Krankenhaus. Es war kurz vor der Wahl. Da hat der Staatsanwalt, der Kreisstaatsanwalt, ein Exempel statuieren wollen und gleich gegen meinen Fahrer ein Verfahren angestrengt. Er wollte nun dokumentieren, wie doch dieser Rechtsstaat DDR wirkt. Ich bin als Nebenverteidiger aufgetreten, weil ich wusste, dass mein Kraftfahrer nicht schuld war. Da bin ich dann auch angeklagt gewesen, was ich mir anmasse, gegen die Staatshoheit usw. Jedenfalls wurde mir vorgeworfen, ich würde meinen Fahrer nicht regelmässig zur Qualifizierung schicken und alles so Zeug, was mit dem Unfall gar nichts zu tun hatte. Meinem Kraftfahrer hätte ich mein Leben anvertraut! Ich bin mit ihm nächtelang durch die DDR gefahren, nach Leuna, nach Buna. Für mich war das undenkbar, dass da so etwas war, wie der Staatsanwalt behauptete. Dennoch wurde er verurteilt und bekam eineinhalb Jahre Haft ohne Bewährung! Was sollte ich machen? Ich habe ihn immer im Gefängnis besucht, in Stendhal. Ich habe gedacht, er überlebt das nicht. Er hat in der Haft alle Normen gebrochen, sie haben dort Möbel hergestellt. Er wurde von den Mithäftlingen belastet, weil er zu gut gearbeitet hat, die wollten das alle nicht. Und dann habe ich gesagt: «Du musst hier etwas machen. Der Mann stirbt im Gefängnis, der hält das nicht durch.» Und dann bin ich zum Generalstaatsanwalt der DDR, weil ich einen roten Ausweis hatte, mit dem ich überall rein durfte, bin zum Generalstaatsanwalt rein – unangemeldet, wenn man sich anmeldete, kam man nicht durch. So war ich dort, stand im Sekretariat. Die Sekretärin wollte mich nicht reinlassen. Da kam er gerade aus der Tür heraus. Ich habe ihn angesprochen, da hat er mich mit reingenommen und hat mir ein paar Fragen gestellt. Er hat gefragt: «War er betrunken? Vorbestraft?» Und noch eine dritte Frage. Und dann sagte er: «Dann darf er gar nicht verurteilt sein, höchstens auf Bewährung, aber nie in fester Haft.» Das war für mich schon mal ein Aufhänger, daran habe ich angeknüpft. Er hat gesagt: «Herr Most, ich lasse mir alle Unterlagen kommen, und ich sichere Ihnen zu, dass der sofort aus dem Gefängnis entlassen wird.» Dann habe ich gesagt: «Gut, dann wünsche ich ein Kassationsverfahren, dass zu Lasten des Staates das Urteil wieder kassiert wird.» Da sagte er: «Nein, das mache ich nun auch wieder nicht. Aber der Staatsanwalt, der ihn verurteilt hat, der muss auch die Freilassung bestätigen. Ich werde ihn anrufen, ich werde das veranlassen.» Aber dieser Staatsanwalt in Schwedt hat erst einmal gesagt: «Warten wir erst einmal Weihnachten ab.» Dann musste er Weihnachten, Silvester noch in Haft bleiben, in der ersten Januarwoche hat man ihn rausgelassen. Eine Schikane!

«Mit der derzeitigen Finanzkrise sind wir lediglich knapp am totalen Zusammenbruch vorbeigeschrammt, wobei wir die Krise nicht als überwunden ansehen dürfen, solange die Grundprämissen einer Übereinstimmung von Finanz- und Realwirtschaft nicht erreicht sind.»

Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen dritten Weg?, 2009, S. 244f.

Ich hätte als junger Bankdirektor auch den Mund halten und mich zurückziehen können. Aber der Mensch war mir zu nahe, der hat ja letztlich auch über mein Leben entschieden. Und ich wusste, dass er nicht schuldig war. Die ganzen Unfallaufnahmen waren schlampig gemacht usw.
Dann habe ich ihn rausgekriegt, musste aber Arbeit für ihn nachweisen, sonst hätte er nicht aus dem Gefängnis entlassen werden dürfen. Ich habe den Baugeneraldirektor angerufen, und der hat gesagt: «Dann arbeitet er erst mal bei mir, schwere Maschinen fahren und so.» Aber er ist fünf Jahre später gestorben. Er hat das nie verkraftet.
Das hat für mich einen Einschnitt gegeben in meinem eigenen Leben, und ich sagte: «Du hast noch nicht genug gekämpft, du hättest nicht zulassen dürfen, dass das Verfahren überhaupt zu Ende geführt wurde. Die hätten gar nicht zum Urteil kommen dürfen.» Aber da war ich eben auch noch zu jung und zu unerfahren. Aber ich hatte den Mut, bis zum Generalstaatsanwalt eines Staates zu gehen und zu fordern, dass der wieder rauskommt. Was mir auch gelungen ist! Aber die paar Wochen, die er im Gefängnis gesessen hat, die haben ihn kaputt gemacht.
Solche Lebensgeschichten prägen einen. Ich habe immer versucht, auch Verantwortung für andere mit zu übernehmen, wenn ich davon überzeugt war.

Auch gegenüber Familien und Jugendlichen!

Verantwortung zu übernehmen war auch gegenüber der Jugend wichtig. Ich war Pate einer ganzen Schule, war Pate von Schulklassen. Da musste ich auch jeden Monat mal hin, mich zeigen, mit den Kindern was machen, irgendwelche Sachen aushecken, musste mich um die Bildung kümmern – und bekam von der Schule mitgeteilt, wenn es mit den Kindern nicht gut ging.
Wenn einer nicht mitkam, hat man geguckt, aha, die Mutter ist bei uns beschäftigt. Die Mutter – hat die ein Problem? Gibt es da familiäre Probleme, muss man da mal ein Gespräch führen, muss man da mal helfen? Muss man ihr mal eine Woche Freizeit geben, damit sie sich einmal um die Kinder kümmert, nicht nur um den Beruf? Weil die Frauen ja alle berufstätig waren. Das kann heute gar keiner mehr nachempfinden! Wir haben als Gesellschaft gelebt und wie eine grosse kommunale Einheit. Nicht jeder konnte das, nicht jeder hatte die Ader dafür, nicht jeder hatte die Macht dazu. Aber ich habe es so erlebt. Und ich habe versucht, mich in diesem Sinne dort einzubringen. Eigentlich so, wie ich auf meinem kleinen Dorf erzogen wurde.
Ich habe viel erlebt und versucht, auch in dieser Richtung das, was ich zu Hause mitgekriegt habe, einzubringen. Und ich hoffe, meine Kinder haben das auch so erlebt, an ihrem Vater, dass sie jetzt, wo sie eigene Kinder haben, das auch weiterleben. Meine Kinder sagten immer: «Papa, du warst zu streng! Bei dir musste immer …» Ich habe nicht geschlagen, aber ich habe gesagt: «Wenn ihr um zehn Uhr zu Hause zu sein habt, dann seid ihr auch um zehn Uhr zu Hause.»
Aber als sie selbst verheiratet waren und ihre eigenen Kinder heranwuchsen, also meine Enkel, da kamen sie und sagten: «Papa, du hast es wohl doch richtig gemacht.»
Jetzt, wo sie Mitte 40 sind, da kann man ja über manches reden. Das freut mich dann, dass man da merkt – bei den Enkeln –, dass sie eigentlich in den Fussstapfen der Alten weiterleben, natürlich neu, in der heutigen Zeit. Aber ich bin dann dankbar dafür, dass man merkt, dass man da weiterlebt! Nicht so, wie man selbst ist, aber es sind Punkte gesetzt. Wenn jede Familie dieses Plus hätte, auch die Chancen dazu hätte, das weiterzugeben, dann würde es in der Gesellschaft besser aussehen.

«Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass ihre Probleme gehört und ernstgenommen werden. [...] Der Staatssozialismus ging nicht zuletzt wegen des Allmachtanspruchs einer Partei zugrunde. Der Neoliberalismus mit seinem Glauben an den Markt hat ebenso versagt. Die soziale Marktwirtschaft ist auf Grund der neuen Strukturen der Gesellschaft in Arbeit und Demographie nicht mehr zu finanzieren. Wir stehen also vor grundlegenden neuen Herausforderungen. Die Finanz- und Systemkrise wird keine Gewinner hervorbringen. Aber viele wachrütteln. Darin besteht vielleicht ihre eigentliche Chance: Wir müssen den Willen aufbringen, etwas zu verändern.»

Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals. Gibt es einen dritten Weg?, 2009, S. 259f.

Aber leider sind die Familien und die Gesellschaft immer weiter auseinandergedriftet. Und weil bei uns im Osten das junge Volk abwandert, kann die Familie nicht mehr zusammenleben. Das Zusammenwirken und -leben der Alten, der Mittleren und der Jungen ist nicht mehr gegeben. Die Generationen sind in der Welt verstreut. Wie soll dann das familiäre, gesellschaftliche Gesamtleben überhaupt noch funktionieren? Auf den Dörfern geht es ja manchmal noch, weil dann die Alten immer noch da sind, bei denen die Enkel ab und zu abgeliefert werden können. Aber in der Gesamtheit ist es einfach eine Katastrophe. Die Gesellschaft, insbesondere auf Grund der Internationalität, auf Grund der globalen Welt, entwickelt sich in die völlig falsche Richtung.
Das ist meine Erkenntnis nach 70 Jahren Leben, und ich muss sagen: Das hast du alles schon einmal besser gekonnt. Und auch besser beeinflusst. Aber heute ist selbst der Einfluss so gering. Man muss deshalb einmal neue Dinge probieren und mal sagen: «Bis hierher und nicht weiter. Und hier hört es auf. Und hier bestimmt nicht mehr das Geld und das Kapital, hier hat die Gesellschaft das Sagen.» Und damit die Mitverantwortung des Einzelnen fürs Ganze. Das hat mit Sozialismus gar nichts zu tun. Wenn ich so etwas diskutiert habe oder auch bei uns in der Deutschen Bank, da hiess es immer: «Willst du deine DDR wiederhaben, oder geht es dir um den Sozialismus?» Mir geht es nicht um den Sozialismus, die gehen alle in die Kirche, sie sind alle Christen – angeblich. Die Kirche hat das schon vor ein paar hundert Jahren gelehrt! Marx hat die katholische Soziallehre als Grundlage genommen, um sein Manifest zu schreiben, mit Engels zusammen. Die Gleichheit der Menschen auf Erden zu sichern, das predigen nun alle möglichen Leute. Da sage ich immer: «Es geht mir nicht um die DDR, mir geht es auch nicht um den Sozialismus, obwohl da viele Elemente sind, die gut wären für die Gesellschaft. Mir geht es darum, aus vielen Erfahrungen etwas Neues einzubringen, und dafür haben wir gelebt!» Deswegen habe ich auch immer gesagt: Ich habe gelebt, um zu arbeiten, und nicht umgekehrt wie die meisten Menschen. Für mich war das immer der Massstab. Aber eigentlich war das bei meinen Eltern und Grosseltern auch der Fall. So, und da kann man etwas bewegen.
Herr Dr. Most, herzlichen Dank für dieses Gespräch.    •

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