Für Patienten forschen, nicht für die Bilanzen

Für Patienten forschen, nicht für die Bilanzen

Gesundheitspolitik

von Dr. rer. nat. Gerd Antes, Freiburg i. Br.*

Die sechs Deutschen Gesundheitszentren für Volksleiden sollen Aushängeschild einer vorwärtsgewandten Strategie in der Medi­zinforschung sein. In Wirklichkeit droht ein Abschied von Ethik und Qualität: Klinische Studien werden geschwächt, die Gesundheitswirtschaft gestärkt.

Dass die moderne Medizin in einem soliden, sich sehr schnell weiterentwickelnden wissenschaftlichen Fundament verankert sein muss, zweifelt kaum jemand an. Der Weg scheint einfach: Neue Ideen aus Theorie und Grundlagenforschung führen in meist jahrelanger Entwicklung zu Verfahren, die letztendlich über die Prüfung in klinischen Studien beim Menschen zu seinem Nutzen anlangen. Innovation und Evaluation bilden ein Pärchen, in dem jeder ohne den anderen nichts ist. Die Realisierung dieses vermeintlich einfachen Wechselspiels ist ermutigend und ernüchternd zugleich. Einerseits macht die Medizin in Forschung und Versorgung enorme Fortschritte. Andererseits wird immer wieder demonstriert, wie begrenzt und fehlerhaft der Fortschritt bei vielen Fragen und wie fragil das Versorgungssystem gegenüber ernsthaften Bedrohungen auf Systemebene wie auch für jeden persönlich ist.
Vor der Einführung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren ist die Bewertung durch dafür geeignete wissenschaftliche Studien ein entscheidender und unverzichtbarer Schritt. Dabei wird mit hohem Aufwand an einer ausreichend grossen Anzahl an Patienten ein Vergleich mit einem etablierten Standardverfahren oder auch – wenn ein solches nicht vorhanden ist – mit einer Placebo-Kontrollgruppe durchgeführt. Für die Bewertung jedes medizinischen Verfahrens ist deswegen jede klinische Studie im Kontext mit allen anderen, ähnlichen Studien zu sehen. Nur so wird gewährleistet, dass die Information von bisher ähnlich behandelten Patienten berücksichtigt wird.
Bei der Planung von Studien ist bisher der allgemeine wissenschaftliche Grundsatz nicht in erforderlichem Ausmass beachtet worden, die nächsten Erkenntnisschritte auf den gegenwärtigen Kenntnisstand zu gründen. Dies würde die Kenntnis aller bisher durchgeführten Studien bedeuten. Das kann gegenwärtig weder von Ethikkommissionen noch von Zulassungsbehörden selbst geleistet werden, noch wird es von den Studienverantwortlichen gefordert. Dieser völlig inakzeptable Zustand wird zunehmend kritischer gesehen und beklagt, weil damit nicht nur die wissenschaftliche Qualität klinischer Studien beschädigt wird, sondern schlechte Qualität Schaden für Studienteilnehmer bedeutet und damit ethische Grundsätze verletzt werden.

Geringes Fördervolumen

Die bekannten Mängel und ethischen Schwachpunkte haben in den letzten Jahren gerade in mehreren, in diesem Bereich führenden Ländern neben erheblichem finanziellen Investment zu strukturellen Massnahmen geführt. So haben Grossbritannien und Kanada nationale Institute für Gesundheitsforschung (National Institute for Health Research) eingerichtet. Unterschiedlich angesiedelte Einheiten wurden hier in einer Institution zusammengefasst, um mit ausreichender Finanzierung (in Grossbritannien 992 Millionen Pfund jährlich) – vor allem auch von Infrastruktur – die Forschungsaktivitäten zu gestalten, Strategien zu entwickeln und Gesundheitsforschung zu unterstützen. Um so erstaunlicher ist es, dass das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erwägt, sich aus dem Förderprogramm für klinische Studien, das es seit 2003 zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) betreibt, zu verabschieden.
Diese Projektförderung hat zusammen mit den strukturellen Fördermassnahmen der letzten Jahre die Rahmenbedingungen für klinische Studien nachhaltig verbessert. Sichtbares Zeichen sind die entstandenen Studien­zentren an den medizinischen Fakultäten. Ganz wesentlich und weniger leicht sichtbar ist darüber hinaus der breite Zuwachs an fachlicher Kompetenz, der durch die Planung und Durchführung von Studien wie auch durch Aus- und Fortbildungsaktivitäten für Studienpersonal erreicht wird. Anerkennung gebührt neben dem BMBF auch der traditionell auf Grundlagenforschung ausgerichteten DFG, die mit dem geschützten Bereich für die Förderung klinischer Studien ein deutliches Signal gesendet hat.
Bei allen positiven Auswirkungen darf allerdings nicht vergessen werden, dass das Fördervolumen von 30 Millionen Euro pro Jahr alles andere als beeindruckend ist. Die Aufstockung von anfangs 10 Millionen Euro auf den jetzigen Stand bedeutet zwar enorme prozentuale Zuwachsraten, die allerdings in Zusammenhang mit den niedrigen Ausgangswerten gesehen werden müssen. Der Abstand zu den führenden Ländern dürfte sich gegenwärtig eher vergrössern. Der Grund liegt einmal im Finanzvolumen, mehr aber noch in den Strukturänderungen, die eine effizientere Verwendung der Mittel erlauben. Angesichts dieser Situation bleibt die Frage, warum dieses im internationalen Vergleich bescheidene Programm beendet und damit das nicht einmal halbvolle Glas ausgeschüttet werden soll.

Fokussierung auf sechs Zentren

Die plausibelste Antwort findet sich wahrscheinlich im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung der Bundesregierung, das zu Beginn des Jahres vorgestellt wurde und das die strategische Ausrichtung der medizinischen Forschung für die nächsten Jahre definieren soll. Dort wird zufrieden festgestellt, dass Deutschland seit 2006 bei klinischen Studien innerhalb der Europäischen Union bei der absoluten Zahl die Spitzenposition einnimmt. Das ist kein Grund, stolz zu sein, wenn man das finanzkräftigste und einwohnerreichste Land ist. Wichtiger jedoch: Der Nachweis dieser Position steht auf einer so schwachen methodischen Grundlage, dass diese Aussage als falsch angesehen werden muss. Entscheidend ist der Aufwand pro Einwohner. Dort gibt es einen dramatischen Absturz auf einen Platz hinter etlichen weniger wohlhabenden und weniger einflussreichen Ländern. Der Beitrag Deutschlands zum globalen Wissensbestand aus klinischen Studien ist sicherlich kein Grund, die öffentliche Förderung klinischer Studien einzuschränken.
Der allgemeine Eindruck des Rahmenprogramms zeigt, dass öffentlich geförderte Studien in der nächsten Zeit vermutlich keine Lobby haben. Die kommende Förderstruktur ist fokussiert auf sechs Zentren der Gesundheitsforschung für Volkskrankheiten, die vergangene Woche der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Wie diese Priorisierung zustande gekommen ist, wird nicht verraten. Dazu kommen Aktionsfelder, deren Beschreibung in Diktion und Inhalt allerdings eher einem Wirtschaftsprogramm denn einem Gesundheitsforschungsprogramm ähneln. Während Begriffe wie Methodik, Ethik oder Lebensqualität ein- bis sechsmal im gesamten Programm auftauchen, zählt man Wirtschaft oder Gesundheitswirtschaft über fünfzigmal. Folgerichtig taucht die Gesundheitswirtschaft als eigenes Aktionsfeld des Rahmenprogramms auf, was vermutlich ein Novum in einem deutschen Forschungsstrategieplan ist. So wie in dem gesamten Programm Marktreife, Gesundheit als Wachstumsmarkt und die Beseitigung von Barrieren betont werden, liegt die Gefahr auf der Hand, dass Wissenschafts- und Forschungsprinzipien beschädigt werden.
Aus Patientensicht könnte hier angemerkt werden, dass Innovation kein Wert per se ist, sondern dass neue Verfahren, Medikamente und Geräte daran zu messen sind, dass sie bei patientenrelevanten Ergebnissen eine überzeugende Nutzen-Schaden-Bilanz haben. Diese Forderung scheint im Rahmenplan untergeordnete Bedeutung zu haben. Die Botschaft ist eher, dass eine gute Grundlagenwissenschaft zentrale Bedeutung hat und alles weitere, insbesondere die Implementierung in der Praxis, sich dann von allein ergibt.

Im europäischen Kontext

An dieser Stelle zeigt sich der zunehmende Abstand bei der patientenorientierten Forschung zwischen Deutschland und den führenden Ländern besonders deutlich. Im Konzept der Volkskrankheiten fehlt eine der wichtigsten und sehr weit verbreiteten Krankheiten, nämlich die Unwissenheit. Sie trifft den normalen Bürger hart, ist aber auch in höheren Kreisen inklusive Parlament weit verbreitet. In Kanada ist deswegen 2001 der Begriff «Knowledge Translation» geprägt worden. Diese Übersetzung von Wissen umfasst die Generierung und die systematische und intelligente Umsetzung von Wissen. Während in Amerika, Kanada, Australien, Grossbritannien und anderen Ländern diese Begrifflichkeit die Grundlage für die Forschungsstrukturen bildet, taucht diese Denkweise im deutschen Rahmenplan gar nicht auf.
Dass Wissen und Wissensmanagement auch ausserhalb der genannten Länder angekommen sind, zeigt sich in dem im Mai 2011 vorgestellten Blick in die Zukunft («Implementation of Medical Research in Clinical Practice») der European Science Foundation. Dort werden die Lücken und Defizite im deutschen Gesundheitsrahmenplan aufgedeckt. Fazit: Wissen und dessen intelligente Nutzung als einziger unbegrenzter und erneuerbarer Rohstoff sollte auch im deutschen Gesundheitssystem als ernstzunehmende Ressource behandelt werden. Der Qualität der Versorgung und den Patienten würde es guttun. Nicht zuletzt haben nicht nur Hersteller und Investoren einen Anspruch auf Belohnung durch Return of Investment, sondern auch der Bürger für seine Steuergelder und Krankenkassenbeiträge.    •

*    Gerd Antes ist Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums am Institut für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik des Universitätsklinikums Freiburg.

Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.6.2011. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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