Die Übel des unregulierten Kapitalismus

Die Übel des unregulierten Kapitalismus

Die Heilmittel für die US-Wirtschaft: Die Kriege beenden, die Kosten für das Militär und die Arzneimittel senken und die Steuern erhöhen – wenigstens für die sehr Reichen

von Joseph E. Stiglitz*

ef. Im Juni 2009 hatten der damalige Präsident der Uno-Generalversammlung Miguel d’Escoto Brockmann und der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz gemeinsam eine Konferenz «auf höchster Ebene» über die Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen einberufen.
Es war dies der dringende Versuch, die weltweite Krise nicht nur deren Verursachern, den G 20, zu überlassen, sondern auch diejenigen zu Wort kommen und mitwirken zu lassen, die die Folgen der Krise damals am deutlichsten zu spüren bekommen haben. Alle Länder, die G 192, die Weltgemeinschaft, sollten an der Lösung dieses Menschheitsproblems beteiligt werden, weil die Krise die gesamte internationale Gemeinschaft betrifft und daher auch bei der Suche nach Lösungen alle Völker gleichwertig miteinbezogen werden müssen. Miguel d'Escoto Brockmann und Joseph E. Stiglitz hatten sich konsequent dafür eingesetzt, dass die Völker als gleichwertige und souveräne Partner behandelt wurden und nicht mächtige Finanzblöcke oder einzelne Industriestaaten dominierten. An der Konferenz war deutlich geworden, dass es dringend ein Umdenken braucht, dass ein auf Ausbeutung, Konkurrenz, Egoismus und Gier vor allem von seiten der Industrieländer aufgebautes Wirtschaften ausgedient hat. Vielmehr braucht es eine Weltwirtschaft, die von ethischen Prinzipien getragen ist: Respekt, Fürsorge, Verantwortung, Kooperation – eine Wirtschaft, bei der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht. Diese ethischen Leitprinzipien sollten helfen, «den Egoismus zu überwinden und die nötigen Massnahmen zu treffen, damit die Krise nicht zur Katastrophe, sondern zu einer Gelegenheit wird, neue Formen des Zusammenlebens, innovative Wirtschaftsmodelle und einen höher entwickelten Sinn für das Leben und das Zusammenleben zu schaffen». (Eröffnungsansprache von Miguel d’Escoto Brockmann, Zeit-Fragen Nr. 28 vom 13.7.2009)
Die damaligen dringenden Forderungen im Wissen um die verheerenden Auswirkungen der Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise, vor allem für die ärmeren Völker, scheinen im Westen weitgehend ungehört verhallt zu sein: Der Bericht der Stiglitz-Kommission, der an dieser Konferenz vorgelegt worden war, hatte grundlegende Reformen der internationalen Finanzmärkte gefordert, unter anderem einen repräsentativen Weltwirtschaftsrat sowie staatliche Kapitalverkehrskontrollen. Dieser Versuch war damals von den Industrieländern abgelehnt worden.
Mit seinem im Jahre 2010 veröffentlichten Buch «Im freien Fall» wandte sich Joseph E. Stiglitz an die Weltöffentlichkeit und lud zu einem gemeinsamen vertieften Nachdenken und Mitwirken aller Kräfte ein. Getragen vom Respekt vor den Nationalstaaten und ihrer Souveränität stellt er darin die Zukunftsaufgabe, vor der wir alle stehen, in ihrer gesamten Komplexität dar, getragen vom Wunsch, kommende Krisen zu vermeiden. Ohne individuelle Schuldzuweisung und mit einer Offenheit, die menschliche Grösse zeigt, legt er in seinem Buch die Versäumnisse und Fehlentscheidungen dar, die zum heutigen Desaster geführt haben.
Auch diese Einladung, gemeinsam nach menschengerechten Lösungen für alle zu suchen, reichte offensichtlich noch nicht aus, von einem Kapitalismus westlicher Prägung zu einer Weltwirtschaft zusammenzufinden.
Die Bemühungen von Stiglitz und Brockmann müssen in Erinnerung gerufen werden bei der Frage, wo wir heute stehen: In nahezu allen westlichen Staaten zeichnen sich Schuldenkrisen ab – nicht nur Griechenland steht vor dem Staatsbankrott. Die USA als grösste und andere grosse Volkswirtschaften stehen vor dem gleichen Problem.
In dem nachfolgend abgedruckten Beitrag von Joseph Stiglitz warnt er vor weiteren kostspieligen Experimenten mit schon mehrfach gescheiterten Ideen und damit vor einer nächsten Verschärfung der Krise. In einem weiteren Versuch, das Ruder noch herumzureissen, bietet er Lösungsvorschläge an, die in die Diskussion einbezogen gehören.

Erst vor wenigen Jahren hat eine mächtige Ideologie – der Glaube an freie und unregulierte Märkte – die Welt an den Rand des Ruins getrieben. Sogar in seinen Glanzzeiten vom Beginn der 80er Jahre bis 2007 hat der nach dem Vorbild der USA deregulierte Kapitalismus grössere materielle Zugewinne nur den Allerreichsten im reichsten Land der Welt gebracht.
Im Verlauf der 30jährigen Vormachtstellung dieser Ideologie sind die Einkommen der meisten US-Amerikaner ständig gesunken oder haben stagniert.
Ausserdem war das Wirtschaftswachstum in den USA nicht nachhaltig. Da der grösste Teil des US-Nationaleinkommens nur ganz wenigen zufloss, ging der Zuwachs nur auf den steigenden Konsum zurück, der die Verschuldung immer mehr in die Höhe trieb.
Ich gehörte zu denjenigen, die hofften, dass die Finanzkrise die US-Amerikaner und die Bürger anderer Länder lehren würde, dass eine gleichmässigere Einkommensverteilung, eine stärkere Regulierung und ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen Markt und der Regierung von Nöten sei.
Leider war das nicht der Fall. Das Wiederaufleben einer rechtslastigen Volkswirtschaft, die noch immer von der Ideologie und Sonderinteressen beherrscht wird, bedroht ganz im Gegenteil erneut die Weltwirtschaft – zumindest die Wirtschaft in Europa und in den USA, wo diese Ideologie weiterhin floriert.
Den USA droht wegen des Wiederauflebens dieser restaurativen Wirtschaftspolitik, deren Anhänger offensichtlich glauben, die elementaren Gesetze der Mathematik und der Volkswirtschaftslehre aufheben zu können, wegen der hohen Staatsverschuldung die Zahlungsunfähigkeit. Wenn der Kongress Ausgaben bewilligt, welche die Einnahmen übersteigen, entsteht ein Defizit, und dieses Defizit muss finanziert werden. Anstatt sich um einen Ausgleich zwischen den durch Regierungsausgaben angestrebten Vorteilen und den durch steigende Steuern entstehenden Nachteilen zu bemühen, greifen die Rechten zum Vorschlaghammer: um die Staatsschulden nicht weiter ansteigen zu lassen, wollen sie die Ausgaben auf die Höhe der Steuereinnahmen begrenzen.
Das wirft die Frage auf, welche Ausgaben Vorrang erhalten sollen – und wenn die Begleichung der für die Staatsschulden anfallenden Zinsen nicht zu den vorrangigen Ausgaben gehören soll, ist die Zahlungsunfähigkeit unvermeidlich. Wenn man jetzt in der Mitte der andauernden Krise, die durch die Ideologie des freien Markts verursacht wurde, die Ausgaben plötzlich kürzt, wird das den Abschwung unweigerlich verlängern.
Vor einem Jahrzehnt, in der Mitte eines Konjunkturaufschwungs, hatten die USA einen derart grossen Einnahmenüberschuss, dass er beinahe die Staatsverschuldung überstieg. Was ist dann geschehen?
Nicht auszugleichende Steuersenkungen, die Kriege, ein tiefer Konjunktureinbruch und explodierende Kosten für die Gesundheitsfürsorge – die auch deshalb so stark anstiegen, weil die Regierung George W. Bushs den Arzneimittelherstellern erlaubte, ihre Preise selbst festzusetzen, obwohl das die Regierung sehr viel Geld kostete – verwandelten den riesigen Haushaltsüberschuss schnell in ein Rekorddefizit – und das in relativ friedlichen Zeiten.
Aus dieser Diagnose ergeben sich auch die Heilmittel zur Beseitigung des US-Defizits: Durch Stimulierung der Wirtschaft müssen Arbeitsplätze geschaffen werden, die sinnlosen Kriege sind sofort zu beenden, die hohen Kosten für das Militär und die Arzneimittel müssen gesenkt und die Steuern – wenigstens für die Superreichen – erhöht werden. Die Rechten wollen aber nichts dergleichen; statt dessen fordern sie sogar weitere Steuersenkungen für die Konzerne und die Reichen, aber Kürzungen bei den Investitionen und bei den Sozialausgaben. Damit setzen sie die Zukunft der US-Wirtschaft aufs Spiel und zerreissen endgültig den Sozialvertrag. Inzwischen hat der US-Finanzsektor viel Lobby-Arbeit betrieben, um sich erneut von allen Regulierungen zu befreien, damit er sein altes, völlig verantwortungsloses, zerstörerisches Unwesen fortsetzen kann.
In Europa sieht es nur wenig besser aus. Zur Bewältigung der Krisen, die Griechenland und andere bedrohen, werden als Allheilmittel nur untaugliche Sparmassnahmen und die Privatisierung empfohlen, welche die Staaten, die das mit sich machen lassen, nur noch ärmer und verwundbarer machen werden. Diese Medizin hat bereits in Ostasien, Lateinamerika und anderswo keine Heilung gebracht, und sie wird auch in Europa nicht helfen. Sie hat sich doch schon in Irland, Lettland und Griechenland als wirkungslos erwiesen.
Dabei gäbe es eine Alternative: eine Strategie des Wirtschaftswachstums, die von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds unterstützt werden könnte. Wachstum würde das Vertrauen wieder herstellen, dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen wird, die Zinsen für Staatsanleihen würden wieder sinken, und so entstünde ein grösserer finanzieller Spielraum für weitere wachstumsfördernde Investitionen. Wachstum würde die Steuereinnahmen erhöhen und die Kosten für Sozialausgaben – zum Beispiel für die Arbeitslosenunterstützung – senken. Und das wiedergewonnene Vertrauen würde weiteres Wachstum anregen.
Bedauerlicherweise wollen die Finanzmärkte und die rechten Wirtschaftswissenschaftler das Problem genau umgekehrt lösen: Sie glauben, dass durch Sparprogramme Vertrauen zurückgewonnen werden kann und dass Vertrauen wieder Wachstum schaffen wird. Dabei wird durch Sparprogramme das Wachstum abgewürgt, und die finanziellen Spielräume der betroffenen Regierungen werden noch enger, oder die Sparprogramme bringen allenfalls sehr viel geringere Verbesserungen, als sich ihre Befürworter davon versprechen. In beiden Fällen geht das Vertrauen ganz verloren, und eine Abwärtsspirale wird in Gang gesetzt. Müssen wir dieses kostspielige Experiment, das auf Ideen aufbaut, die sich schon wiederholt als untauglich erwiesen haben, wirklich noch einmal wiederholen? Das sollten wir zwar nicht tun, aber der Eindruck verstärkt sich, dass es trotzdem noch einmal ausprobiert wird.
Wenn es nicht gelingt, in Europa oder in den USA wieder zu einem stabilen Wachstum zu kommen, wäre das schlecht für die Weltwirtschaft. Ein Misserfolg auf beiden Kontinenten wäre katastrophal – selbst dann, wenn die Wirtschaft einzelner Schwellenländer weiter wachsen würde.
Wenn die Welt nicht auf klügere Köpfe hört, ist ihr weiterer wirtschaftlicher Niedergang nicht aufzuhalten.    •

Quelle: aljazeera.net vom 10.7.2011
(http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/07/20117714241429793.html )
(Übersetzung <link http: www.luftpost-kl.de>www.luftpost-kl.de)

*    Joseph E. Stiglitz ist Professor an der Columbia University, Nobelpreisträger für Wirtschaft und hat u.a. das Buch «Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft» veröffentlicht. (ISBN 3-886809420)

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