«Der Genossenschaftsgedanke ist eine vitale Idee – auch für die kommenden 150 Jahre»

«Der Genossenschaftsgedanke ist eine vitale Idee – auch für die kommenden 150 Jahre»

Ein Interview mit Dr. Torsten Lorenz*

Zeit-Fragen: Vor 4 Jahren haben die «Dresdner Hefte» Ihren Grundlagenartikel, «Die Entstehung des europäischen Genossenschaftsgedankens», veröffentlicht (auch in Zeit-Fragen, Nr. 9 und 10 vom 28. Februar und 7. März 2011). In der Zwischenzeit treibt die Welt wieder auf eine Wirtschaftskrise zu. Gewinnt nicht gerade in einer solchen Zeit der Genossenschaftsgedanke an Bedeutung?

Torsten Lorenz: Zunächst muss ich vorausschicken, dass ich Wirtschafts- und Sozialhistoriker bin und aus diesem Grunde einen etwas anderen Blick auf die uns umgebende wirtschaftliche Realität habe als beispielsweise ein Ökonom. Wir Historiker werden bisweilen scherzhaft als «rückwärts gewandte Propheten» bezeichnet, und weil wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, halten wir uns mit Zukunftsprojektionen auch meist zurück. Als ich meinen Aufsatz über den Ursprung des Genossenschaftsgedankens schrieb, konnte ich nicht ahnen, dass die Idee eines nachhaltigen, auf Kooperation gestützten Wirtschaftens bald solche Aktualität gewinnen würde.
Die aktuelle Finanzkrise hat verschiedene Ursachen, deren Resultate sich in der Realität überlagern und daher bisweilen schwer auseinanderzuhalten sind. Ausgangspunkt der aktuellen Krise war die sogenannte «Subprime-Krise» in den USA, die durch eine verfehlte Wohnungsbauförderungspolitik ausgelöst wurde. Als seit Ende 2006 die Zahlungsausfälle bei Hypothekenkrediten in den USA wuchsen, geriet das System der wechselseitigen Schuldverschreibungen ins Wanken; einige Banken gingen in Konkurs, andere wurden mit staatlichen Mitteln gerettet, um einen Zusammenbruch des Weltfinanz­systems zu verhindern. Ende 2008 erfasste die Krise auch die Realwirtschaft, und die führenden Wirtschaftsnationen der Erde verzeichneten massive Rückgänge ihrer Wirtschaftsleistung. Schliesslich stellte sich heraus, dass einige Länder der Euro-Zone in der Vergangenheit unsolide gewirtschaftet hatten und grosse Haushaltsprobleme haben. Und zu allem Überfluss droht heute auch noch den USA die Zahlungsunfähigkeit.
Ich würde nicht so weit gehen wie der grosse britische Historiker Eric J. Hobsbawm, der in einem Interview im Stern im Mai 2009 das Ende des Kapitalismus prophezeit hatte; Hobsbawm hatte keine Wahl – schliesslich ist er Marxist. Wirtschaftskrisen hat es seit der «Tulpenmanie» der 1630er Jahre immer gegeben, und obwohl es dabei immer zu Vermögensumverteilungen kam, ist weder die Welt noch der Kapitalismus untergegangen. In Wirtschaftskrisen, auch der aktuellen, haben wir es mit einer Art Wellenbewegung zu tun, in der sich institutionelle Anleger, aber auch sogenannte Spekulanten aus dem einen Markt zurückziehen, um sich in einem anderen zu engagieren – alles mit dem Ziel der Gewinnmaximierung und der Reduktion des Verlustrisikos. Dies sind die Gesetze des Marktes. Das war in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 so und ist heute nicht anders. Heute macht sich allerdings die Globalisierung noch stärker bemerkbar, insbesondere die weltweite Verknüpfung der Finanzmärkte. Sie birgt enorme Chancen – für kleine Investoren, aber auch für grosse, wie zum Beispiel Pensionsfonds –, Geld gewinnbringend anzulegen, zugleich aber auch enorme Gefahren, da – wie wir gerade vor unserer aller Augen erleben – die Krise eines Marktakteurs sich zur Krise des ganzen Systems auswachsen kann.
Zugleich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine versteckte und, so weit ich es übersehen kann, nirgendwo berücksichtigte Ursache der aktuellen Misere im Ende des Sozialismus besteht: Der Systemgegensatz und die Unkenntnis des «Westens» über die katastrophale wirtschaftliche Situation im ehemaligen Ostblock trugen zu einer Mässigung der Marktakteure bei, die in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise auch im ordnungspolitischen Rahmen der «sozialen Marktwirtschaft» ihren Ausdruck fand. Mit dem Ende des Ost–West–Gegensatzes fiel der weltpolitische Konkurrent des «westlichen» Lagers weg und errang der Kapitalismus einen Sieg auf ganzer Linie. Dem Sieg des neoliberalen Denkens in der ideellen Sphäre entsprach die Deregulierung in der Ordnungspolitik: Der Geist des Kapitalismus ist aus der Flasche, und es wird schwer sein, ihn wieder einzufangen.
Um so mehr halte ich es für erforderlich, ihn einzuhegen. Der Genossenschaftsgedanke oder gemeinwirtschaftliche Ideen scheinen mir ein sehr guter Ansatzpunkt zu sein. Erforderlich wäre allerdings eine aktivere Werbung für ihn und – was mir nicht minder wichtig erscheint – die Förderung des Unterrichtsfaches «Wirtschaft» in den allgemeinbildenden Schulen. In Deutschland liegt hier vieles im argen, und es ist mir unbegreiflich, dass angesichts der zentralen Bedeutung der Wirtschaft in der heutigen Welt das Fach «Wirtschaft» noch nicht allgemein in den schulischen Lehrplänen verankert ist. Im übrigen waren die Genossenschaften seit ihrem Aufkommen Mitte des 19. Jahrhunderts der ökonomischen Bildung verpflichtet: Neben der wirtschaftlichen Zielsetzung – der Förderung der Mitgliedsbetriebe – hatten die Genossenschaften immer eine soziale Zielsetzung, und das hiess, wie sich historisch zeigen lässt, in der Regel die Förderung einer wirtschaftlichen Allgemeinbildung unter den Mitgliedern. Auch hierin lag eine der historischen Leistungen der Genossenschaften.

Wo im deutschsprachigen Raum – aber auch darüber hinausgehend – ist zu beobachten, dass der Genossenschaftsgedanke sich nicht nur ausweitet, sondern auch in neue Bereiche hinüberwandert?

Der Genossenschaftsgedanke braucht im Grunde nicht wieder aufgegriffen zu werden, denn er ist nach wie vor lebendig und aktuell. Allerdings muss man berücksichtigen, dass er sich – ebenso wie seine institutionellen Ausformungen, die auf dem Markt aktiven Genossenschaften – verändert hat. Die Genossenschaften sind heute mehr denn je dem kalten Wind des Marktes ausgesetzt. Die Konsumgenossenschaften stehen, wo sie überlebt haben, in direktem Wettbewerb mit dem privaten Einzelhandel, insbesondere den Discountern; in Deutschland haben sie die Konkurrenz – vor allem auf Grund von Misswirtschaft im Rahmen des korporatistischen Systems – praktisch nicht überlebt, leben aber im regionalen Rahmen fort.
Die deutschen Kreditgenossenschaften haben sich als ausgesprochen robust und erfolgreich bewiesen: Sie verfügen über ein einfaches und klares Geschäftsmodell, indem sie vor allem Kundeneinlagen annehmen und Kredite an private und gewerbliche Kunden vergeben; ihre Zentralinstitute sind in überregionale bzw. internationale Spezialinstitute sowie regionale Kundeninstitute ausdifferenziert und entsprechen den Grundsätzen von Nachhaltigkeit und Transparenz, indem sie über klare Mandate verfügen; das Regionalprinzip – die Begrenzung der Tätigkeit auf ein bestimmtes Gebiet – ermöglicht es, Kredit­risiken leichter zu erkennen; und schliess­lich können sich die Kreditgenossenschaften auf Grund ihrer Organisationsform auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und sind gegen die Managementmoden, die mitverantwortlich für die gegenwärtige Krise sind, weitgehend immun. Die deutschen Kreditgenossenschaften trotzten der Wirtschaftskrise und erwiesen sich als ein Faktor der wirtschaftlichen Stabilität. Die Geschichte zeigt: Genossenschaften waren dort erfolgreich, wo sie sich bewusst auf die Marktwirtschaft einliessen, sich den sich wandelnden Marktverhältnissen anpassten und sich auf ihre Kernaufgaben beschränkten. Wandlungsfähigkeit und ein gesunder Konservativismus waren Schlüsselfaktoren des Erfolgs.
Obwohl die Zahlen für die Genossenschaften sprechen, gibt es unter europäischen Wissenschaftlern Initiativen, den genossenschaftlichen Gedanken stärker als Modell für eine gemeinwohlorientierte Wirtschaftsweise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der handelnden Politiker zu rücken. Wünschen wir ihnen Erfolg!

Welchen auch heute noch bedeutenden geistigen Grundlagen folgt der Genossenschaftsgedanke?

Der Genossenschaftsgedanke ist in seiner mitteleuropäischen Ausprägung eine Mischung aus individualistischen und kollektivistischen Elementen: Die Genossen schliessen sich zu einem auf Freiwilligkeit beruhenden Gemeinschaftsbetrieb zusammen, um gemeinsam den individuellen Betrieb bzw. Haushalt zu fördern. Sie bewahren ihre Selbständigkeit, kooperieren aber im Rahmen des Gemeinschaftsbetriebs. Somit findet die Genossenschaft sehr gut in einem marktwirtschaftlichen System Platz, bringt aber zugleich kooperative, gemeinwohlorientierte Elemente ein und wirkt der Atomisierung und einem Kampf «jeder gegen jeden» entgegen: Denn nur über die Kooperation kann der Gemeinschaftsbetrieb florieren und den individuellen wirtschaftlichen Wohlstand des Genossen fördern. Der Genossenschaftsgedanke setzt somit eine «Kooperativneigung» voraus, die von Anthropologen, Soziologen und Genossenschaftswissenschaftlern hinreichend beschrieben wurde – sie ist eine anthropolo­gische Konstante, doch bedarf es stetiger Anstrengungen, um das Bewusstsein dafür zu fördern, dass wirtschaftlicher Erfolg oftmals besser über Kooperation als über die individuelle Verfolgung wirtschaftlicher Interessen zu erreichen ist.
Darüber hinaus ist der Genossenschaftsgedanke durch und durch demokratisch: Jedes Mitglied darf nur einen Anteil zeichnen und erhält dafür eine Stimme in der Generalversammlung – dem höchsten Entscheidungsorgan der Genossenschaft. Dieser Grundsatz des «one man – one vote», der die Genossenschaft von den Kapitalgesellschaften unterscheidet, ist trotz gewisser Modifikationen, welche die Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt befördern sollen (und die wiederum die Flexibilität der Genossenschaft unter Beweis gestellt haben) ein ehernes Prinzip des Genossenschaftswesens. Historisch gesehen könnte man sagen, dass die Genossenschaften ein Einfallstor für die Demokratie in der Gesellschaft waren, da sie demokratische Verfahren einführten und verankerten, als weite Teile Europas noch undemokratisch regiert wurden.

Welche Zukunft hat der Genossenschaftsgedanke, und von welchen Faktoren hängt die weitere Entwicklung ab?

Was die Zukunft des Genossenschaftsgedankens und seiner tragenden Institutionen – der Genossenschaften und ihrer Verbände – angeht, bin ich recht optimistisch. Genossenschaften haben sich als enorm anpassungs- und wandlungsfähig erwiesen. Der genossenschaftliche Sektor ist heute in Eu­ropa ein bedeutender, wenngleich häufig unterschätzter und von der Öffentlichkeit zu wenig beachteter Sektor der Wirtschaft. Es wäre wünschenswert, wenn insbesondere die Politik die wirtschaftlichen und ideellen Leistungen des Genossenschaftswesens stärker zur Kenntnis nehmen und fördern würde, schliess­lich haben sich insbesondere die genossenschaftlichen Banken als Stabilitätsanker in der aktuellen Wirtschaftskrise erwiesen.
Der Genossenschaftsgedanke hat sich in den vergangen gut 150 Jahren als vitale Idee erwiesen, die anpassungsfähig genug war, um den tiefgreifenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft Europas mitzugestalten, der sich in dieser Zeit vollzog. Ich bin zuversichtlich, dass er auch weitere 150 Jahre ein wichtiger Faktor im wirtschaftlichen Leben Europas bleiben wird.
Herr Dr. Lorenz, vielen Dank für das Ge­spräch.    •

*Torsten Lorenz ist DAAD-Langzeitdozent an der Karls-Universität Prag. Er forscht und lehrt am dortigen Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Zugleich ist er Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaften und am Zentralasien-Institut der Humboldt-Universität Berlin. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Genossenschaftsgeschichte. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitation zum Thema «Genossenschaften in Ostmitteleuropa 1850–1940».

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