Wenn die aus der «Classe politique» stammenden Reformen der Schule schaden

Wenn die aus der «Classe politique» stammenden Reformen der Schule schaden

Waadt – kantonale Abstimmung am 4. September

von Jean-François Huguelet, Kanton Waadt

fb. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit den Schulen in unserem Lande nimmt zu. Schon längere Zeit nimmt die chemische Industrie in Basel kaum mehr Lehrlinge aus dem Kanton Basel Stadt auf; sie sind zu schlecht vorbereitet. Auch viele Lehrbetriebe in der übrigen Schweiz beklagen sich, dass sie zwar Lehrstellen anzubieten hätten, doch würde es an Lehrlingen fehlen, die schulisch genug leisten. Das alles erinnert fatal an Aussagen aus England vor über 20 Jahren, dass ein beachtlicher Teil der Schulabgänger «unemployable», das heisst nicht in einem Beruf anstellbar sei. England wird nicht ganz zufällig in diesem Zusammenhang erwähnt. Die «Reformer» in unserem Lande haben sich nämlich explizit an angelsächsischen Schulmodellen orientiert, und obwohl Fachleute vor zwanzig Jahren deutlich auf die verheerenden Folgen hingewiesen hatten, wurden diese Reformen von oben her durchgezwängt. Kinder und Jugendliche lernen darum heute vielerorts in autonomen Schuleinheiten vorwiegend «selbstentdeckend», basteln mit Wochenplänen individualisierend alleine vor sich hin. Die Lehrer verstehen sich als Animatoren und Lernbegleiter und halten sich wenn möglich aus dem Lernprozess heraus, da ihnen an den Pädagogischen Hochschulen vermittelt wird, die Kinder würden von alleine alles aus sich heraus entwickeln, jedes nach seinem Tempo, jedes nach seinem Vermögen und jedes nach seinen Vorlieben. Die neueren Lehrmittel sind dementsprechend unsystematisch, unstrukturiert und spielerisch aufgebaut. Das Resultat dieser falschen pädagogischen Theorien wird nun langsam sichtbar. Unserem Lande fehlen zunehmend gute Lehrlinge und Studenten, die wissenschaftlich arbeiten können. Wie es möglich war, in einem direktdemokratischen Lande wie der Schweiz ein gutes Schulsystem in dieser Weise umzukrempeln und zu ruinieren, ist verwunderlich. Es ist zu hoffen, dass sich nicht nur im Kanton Waadt, sondern auch in anderen Kantonen die Bevölkerung gegen die sturen Reformbürokraten zu wehren beginnt. Die Schul-Hoheit in der Schweiz gehört nach wie vor den Kantonen; die Schul-Inhalte haben nichts damit zu tun, dass der Schuljahresbeginn vereinheitlicht wurde. Es wäre darum auch in anderen Kantonen möglich, das Schiff zu wenden.

1990 begann ich als nicht pädagogisch ausgebildeter Hilfslehrer zu unterrichten. Es war an der Berufsschule in der französischsprachigen Schweiz, die ich als Schüler vor kaum mehr als sechs Jahren verlassen hatte. Quasi eine Rückkehr zu den Wurzeln!
Eine Sache fiel mir sofort auf: Das Zögern der Schüler, wenn sie einen Text in Französisch verfassen sollten. Ich begriff den Grund ihrer Befangenheit schnell, als ich in vier parallelen Klassen eine Arbeit korrigierte, bei der es darum ging, auf einer bis eineinhalb Seiten ein Thema aus der Wirtschaftspolitik darzulegen.
Mit Ausnahme einiger Arbeiten mit recht gutem Resultat wechselten sich Rechtschreibefehler mit Syntax- und Grammatikfehlern ab. In einigen Arbeiten hatte es durchschnittlich bis zu fünf Fehler pro Zeile und manchmal mehrere Fehler im gleichen Wort. Manchmal musste ich das Wort oder einen Teil des Satzes laut lesen, um den Sinn erfassen zu können.
Damals, noch ohne Erfahrung, habe ich mir keine weiteren Fragen gestellt und diese ersten Eindrücke auf meine idealisierten und verformten eigenen Schulerfahrungen zurückgeführt.
Im folgenden Jahr, im Sommer 1991, begann ich meine pädagogische Ausbildung im Rahmen der Waadtländer Volksschule. Lehrer für Mathematik, Wirtschaft und Geographie für Schüler der Abschlussklassen (grundlegendes Niveau), die nächsthöhere Stufe (mittleres Niveau) und des Vorgymnasiums (oberes Niveau); ich machte nun Bekanntschaft mit der Unterrichtssituation in einer Oberstufenschule mit gutem Ruf und Jugendlichen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten. Während meiner Ausbildung entstanden in mir die ersten Zweifel bezüglich der Unterrichtsmethoden. Mir leuchtete es nicht ein, weshalb man die Schüler dazu bringen musste, die Theorie selber zu entdecken, wenn sie ja durchaus in der Lage waren, diese zu verstehen und anzuwenden, wenn man sie ihnen gut erklärte. Aber ich akzeptierte willig, diese Methoden anzuwenden, da ich davon ausgehen konnte, dass meine Ausbildner über viel mehr Erfahrung verfügten als ich und wussten, wovon sie sprachen. Nachdem ich meine Ausbildung zur Zufriedenheit meines Schulleiters beendete hatte, wurde mein Anstellungsvertrag verlängert, vorerst jährlich und später langfristig.
Was mich unter anderem sehr überraschte, war die Tatsache, dass unter meinen erfahrenen Kollegen, die ich sehr schätzte, einige sehr bittere Äusserungen machten, die mich tief berührten: «Man kann diesen Jugendlichen sowieso nichts mehr beibringen, sie können nichts und interessieren sich auch für nichts.» Diese fatalistische Sichtweise stimmte weder mit meinen eigenen Beobachtungen noch mit meinem Gefühl überein.
Einer meiner Kollegen führte mich in die Unterrichtsmethoden im Fach Französisch ein, die 1981 in der Waadtländer Volksschule Einzug gehalten hatten. Im gleichen Jahr hatte ich meine Schulzeit an der Oberstufe abgeschlossen, um eine Berufslehre zu beginnen. Damals wurde der Französischunterricht reformiert, es gab kaum mehr grammatikalische Regeln, und wenn sie vorkamen, dann nur noch in spielerischer Form und mit Farben assoziiert. Eine «geniale» Idee, kritiklos von der damaligen Schulbehörde übernommen, führte in weniger als 10 Jahren dazu, dass fast 15% der Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit nahezu funktionale Analphabeten waren. Ich war verblüfft, dass so etwas möglich war, aber meine Beobachtungen während meines ersten Unterrichtsjahrs kamen mir wieder in den Sinn.
Gleichzeitig wurde auch das Rechtschreibtraining mittels Diktaten weitgehend geächtet, weil diese für Schüler, die viele Fehler und schlechte Noten machten, stigmatisierend wirkten. Nur sehr widerstandsfähige Lehrer trauten sich noch, Diktate schreiben zu lassen, recht oft mit der moralischen Unterstützung der Eltern der betroffenen Schüler.
Ab 1996 wurde die Waadtländer Volksschule durch eine auf einem politischen Kompromiss beruhende Reform (EVM: Ecole vaudoise en mutation, dt.: Schule im Wandel) von Grund auf erneuert. Top-down eingeführt, mit dem Versprechen, dass sie kaum zusätzliche Kosten generieren werde und ohne einen Gedanken darauf zu verwenden, welche Wirkung sie in den Klassen haben würde, hat diese Reform, mit der Abschaffung der letzten institutionellen Bezugspunkte, den Lehrkörper endgültig verunsichert.
In dieser Situation wurde die Flucht nach vorne angetreten. Nun wurden ständig neue Entwicklungen eingeführt: Man führte für die ersten fünf Primarklassen ein Bewertungssystem ohne Noten ein, dann hob man die Schwerpunktfächer in den oberen Klassen auf, und schliesslich schaffte man die Noten für die ganze obligatorische Schulzeit ab, änderte gleichzeitig die Formulierungen der Zeugniskommentare, um kurze Zeit später alles wieder rückgängig zu machen.
In diesem allgemeinen Durcheinander beschränkten sich die Behörden darauf, den Lehrkräften zu sagen: «Wir vertrauen euch, macht in dieser Situation einfach das Beste draus.» Selbst wenn man die Jahre starker gewerkschaftlicher Spannungen mit einbezieht, war die Waadtländer Lehrerschaft noch nie so verunsichert gewesen. Auch das Vertrauen der Waadtländer Eltern in die Institution Schule hat in dieser Zeit grosser Ungewiss­heit am meisten gelitten, und zwar zu Recht, aber zum grossen Leidwesen der machtlosen Lehrkräfte, denen nichts anderes übrigblieb, als die widersprüchlichen Forderungen ihrer ebenso ratlosen Vorgesetzten zu erdulden und zu versuchen, das zu flicken, was noch möglich war.
Die darauffolgende Reorganisation war mit einer Flut an bürokratischen Forderungen und administrativem Aufwand verbunden – aufoktroyiert von technokratischen Vorgesetzten. Die Lehrkräfte wurden zunehmend in Anspruch genommen durch Koordinationssitzungen, Weiterbildungen, Kolloquien, komplizierte Korrekturmethoden und mehrere Stunden dauernde Klassenkonferenzen. Der administrative Aufwand für Lehrkräfte verdreifachte sich innerhalb dieses Zeitraums und hielt sie dadurch von ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Unterrichten, ab.
Ich verdanke es wahrscheinlich meinem unabhängigen und etwas widerspenstigen Geist, dass ich diese schwierige Zeit überstehen konnte. Andere Lehrkräfte sind daran krank geworden und haben den Glauben an ihren Beruf verloren. Wie einige meiner Kollegen bin ich dem Sirenengesang der Moderne und der Bequemlichkeit nie erlegen, ich habe immer so unterrichtet, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Glücklicherweise verfügte ich bereits über eine gewisse berufliche Erfahrung. Die Resultate meiner Schüler bestätigten meine Methoden, ich hatte nie Schwierigkeiten mit meinen Vorgesetzten.
2002 gründete ich mit einem Dutzend Kollegen den Lehrerverein AVEC, der zum Ziel hatte, den Behörden von der Basis her eine kritische, aber konstruktive Sichtweise zu vermitteln. Die Statuten wurden von 95 Mitgliedern verabschiedet, der Verein wuchs innerhalb von sechs Monaten auf 320 Mitglieder an und hatte damit seinen Höchststand erreicht. Anne-Catherine Lyon, Direktorin des kantonalen Bildungsdepartements, brachte öffentlich ihre Freude über diese neue Lehrervereinigung zum Ausdruck, da nun die Unzufriedenheit in den Lehrerzimmern ein «Gesicht» bekam.
In Tat und Wahrheit stiessen die Aktivitäten des Vereins aber auf Ablehnung und Geringschätzung. Als AVEC seine Kritik zum Ausdruck brachte, tat die Behörde diese als unzeitgemäss, veraltet und reaktionär ab, da sie nicht den momentanen pädagogischen Tendenzen entspreche und der ideologischen Absicht, alle Schüler unter dem Motto «Chancengleichheit» «gleich» zu machen, entgegenlaufe. Nachdem wir vier Jahre lang vergeblich versucht hatten, uns bei der kantonalen Schulbehörde Gehör zu verschaffen, entschied der Verein AVEC, auf politischer Ebene aktiv zu werden und eine Volksinitiative zu lancieren.
Es muss auch gesagt werden, dass mit der massiven Annahme des Verfassungsartikels zur Harmonisierung der Schweizer Schulsysteme (HarmoS) durch die Stimmbürger, die Waadtländer Schulbehörde das perfekte Alibi erhielt, um bei der Umsetzung ihrer kollektivistischen Absichten im Bereich der Schulorganisation an Geschwindigkeit zuzulegen. AVEC konnte es nicht zulassen, dass die Waadtländer Schule ihrerseits auf die ideologische Vision der «Gesamtschule» und der «Matura für alle» einspurte, eine Ideologie, die die Schule Frankreichs in den pädagogischen Ruin getrieben hat.
Es waren jedoch vor allem grundlegende Feststellungen, die dem Verein AVEC den Mut gaben, sich in die politische Arena zu begeben. Man kann für oder gegen Reformen sein, aber Tatsache ist, dass sie zu einer unbefriedigenden Situation geführt haben, die sowohl von den Ausbildnern als auch in den Lehrbetrieben, von den Eltern, den Berufsschullehrern, den Gymnasiallehrern und den Universitäten beklagt wurde: Zu viele Schüler haben zu geringe Kenntnisse, um den Anforderungen der nachfolgenden Ausbildungsgänge zu genügen. Schlimmer noch: Zahlreich sind die Schüler, die ihre gesamte Schulzeit im Kanton verbracht haben und dabei funktionale Analphabeten geworden sind (ungefähr 20%) und nicht einmal die Grundkentnisse im Rechnen beherrschen.
Im November 2006 wurde die Entscheidung getroffen, eine ausformulierte Gesetzes­initiative zu lancieren. Im Dezember wurde mit dem Verfassen des Textes begonnen. Im Januar 2007 schloss sich der den Schulreformen ebenfalls kritisch gegenüberstehende Elternverein ASPICS an. Wenig später folgte auch der Elternverein AVPC. Im ganzen wurden nicht weniger als 40 Sitzungen (mit einer Dauer von 3 Stunden bis zu einem Tag) durchgeführt, in denen die Initianten die einzelnen Textelemente ausarbeiteten – Lehrer und Eltern, alle in Freiwilligenarbeit und ohne Mittun politischer Parteien, erarbeiteten und überarbeiteten mehrfach jeden Abschnitt. Vor Abschluss der Arbeit wurde der Text zwei Rechtsanwälten vorgelegt und einer Auswahl von ­Politikern. Alle zeigten sich begeistert von der Qualität der Arbeit, und es gab nur noch wenige Änderungen anzubringen.
Im September 2007 wurde der Text bei der Staatskanzlei eingereicht und im Januar 2008 durch mehr als 15 200 Bürgerunterschriften unter der Bezeichnung «SCHULE2010, die Schule retten» validiert. Diese Initiative – die ja hauptsächlich das Anliegen verfolgte, den Unterricht besser zu strukturieren, die von den Lehrern gewünschte pädagogische Praxis durch das Gesetz zu legitimieren, den Lehrern eine echte pädagogische Handlungsfreiheit wiederzugeben, ein einfaches, kohärentes und verstehbares Bewertungssystem anzuwenden und in den Klassen Bedingungen zu schaffen, in denen auf effektive Weise unterrichtet werden kann – wurde von den Schulbehörden, die es nicht gewohnt waren, ihre Entscheidungen in Frage gestellt zu sehen, mit Ärger und Wut aufgenommen.
Aber die Initianten waren darauf vorbereitet. Sie hatten verstanden, dass jede kritische Äusserung, wenn sie nicht gleich erstickt werden konnte, zum Grund für einen gnadenlosen Krieg gemacht wurde, von seiten derer, die seit fast dreissig Jahren die Schulangelegenheiten unter ihrem ideologischen Joch festhalten.
Die Ironie des Schicksals war, dass die Mehrheit des waadtländischen Kantonsrates sich für einen Gegenvorschlag (LEO) aussprach, der einem politischen Konsens entsprang, der den Versprechungen, Slogans und Methoden sehr nahe war, die für die Ausarbeitung und schliesslich die Annahme der früheren EVM-Reform gedient hatten. In Wirklichkeit verlängert und verstärkt dieser Gegenvorschlag die Fehler der Reformen von 1996. In einer Zeit, in der die eidgenössischen und anschliessend die kantonalen Wahlen näherrücken, wird niemand darüber erstaunt sein, dass sich einige der Musterschüler der Parlamentspolitik im Waadtland den Rückzug offenhalten wollten, indem sie sich der Logik des Kompromisses anschlossen, in der Hoffnung, so Schutz vor dem Verdikt der Wähler zu finden. Aber das Volk hat ein gutes Gedächtnis und vor allem keine ideologischen Scheuklappen.
Die EVM-Reform hat die Menschen stark negativ geprägt, und es wäre erstaunlich, wenn der Souverän dies vergessen hätte. Deshalb sind die Initianten guten Mutes, dass es den Waadtländerinnen und Waadtländern ein Anliegen sein wird, 30 Jahre Reformideologie in der Schule, die zu einer völlig unbefriedigenden Situation, ja in eine Sackgasse geführt haben, den Rücken zu kehren. Um diese Episode der Geschichte hinter sich zu lassen, ist die Lösung recht einfach:

Stimmen Sie mit JA für die Initiative SCHULE2010 und mit Nein zum Gegenvorschlag (LEO).    •

Weitere Informationen (auf französisch) finden Sie auf der Homepage <link http: www.ecole2010.ch>www.ecole2010.ch
(Übersetzung Zeit-Fragen)

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