Schule und ETH gaben ihm die Grundlage

Schule und ETH gaben ihm die Grundlage

Ein Schweizer in Äthiopien: Staatsminister Ing. Alfred llg (1854–1916)

von Heribert Küng

Werdegang

Der Beginn war wenig vielversprechend: Aufgewachsen im «Haus zum Hirschen» in Frauenfeld, als uneheliches Kind der Magdalena llg und in bescheidenen finanziellen Verhältnissen. Der aufgeweckte Junge interessierte sich bald für alles, was mit Technik zu tun hatte. Er fiel seinen Lehrern bereits in der Pflichtschule durch Begabung in Sprachen (Französisch, Italienisch und bald das noch keineswegs übliche Englisch) sowie seiner Musikalität auf. Kein Wunder, dass er die in seinem Geburtsjahr gegründete Kantonsschule in seiner Heimatstadt mit Bravour beendete.
Seine Ausbildung als Techniker am erst seit 1853 existierenden Polytechnikum, der heutigen ETH in Zürich, schien vorgezeichnet. Besonders die 1855 eröffnete Bahn von Winterthur nach Romanshorn faszinierte den Jungen derart, dass er in den schulfreien Zeiten Exkursionen entlang der Strecke und im Bahnhof unternahm. Dass Alfred llg die Eisenbahn im fernen Äthiopien (1894–1917 erbaut) nicht nur Freuden, sondern auch Sorgen besonders mit Frankreich (und seinem nicht immer verlässlichen Kompagnon Chefneux) bereiten sollte, und das weit über seinen Ruhestand hinaus, konnte der Teenager in Frauenfeld noch nicht ahnen.
Dann starb sein Stiefvater, Oberstleutnant Neuweiler, und die Familie – er hatte inzwi- schen zwei Halbschwestern – stand fast gänzlich mittellos da. Das zwang den jungen Maturanden zuerst zu einer zweijährigen Lehre in der mechanischen Werkstätte der Gebrüder Osterwalder in Frauenfeld. 1873 gelang ihm doch der Eintritt in die Fachuniversität, Abteilung Maschinenbau. Studiengebühren und Unterhalt verdiente er mit Nachhilfestunden, und gelegentliche Stipendien, vermittelt vom Schulratspräsidenten Ständerat Kappeler, halfen über Lücken hinweg. Kappeler stammte wie er aus Frauenfeld. Das hinderte den jungen llg nicht daran, seiner Mutter, so oft er konnte, Unterhaltsbeiträge zukommen zu lassen.
1878 beendete er dort seine Studien als einer der ersten Thurgauer überhaupt und fand sogleich eine Anstellung als Betriebsleiter der Firma Marquart in Bern, dessen Inhaber ihn als Nachfolger vorgesehen hatte.

Ostafrika

«Seine Lieblingsidee war (aber), mit den etwas engen Verhältnissen in der Heimat zu brechen und in einem fremden Land etwas Grosses zu leisten». (Keller, llg) Gerade zu diesem Zeitpunkt suchte der äthiopische Unterkönig von Schoa, Menelik, aus dem alten Königshaus der Salomoniden, einen tüchtigen Ingenieur aus Europa. Dieser sollte die technische Rückständigkeit des noch im Mittelalter verharrenden Landes korrigieren, um so den Nachteil gegenüber den europäischen Kolonialmächten zu verringern. Aber: Er durfte nicht aus einem Land stammen, das sich bereits in Afrika als Kolonialmacht festgesetzt hatte oder dabei war, dies zu realisieren. Verwundern konnte Meneliks Haltung nicht, der Territorialfürst kannte die europäischen Begehrlichkeiten und war sich der Bedeutung der Quellen des Blauen Nils am Tanasee im Norden sehr wohl bewusst. Er beauftragte die Schweizer Firma Escher und Furrer in Aden (Yemen), einen geeigneten Kandidaten zu engagieren. Der Schulratspräsident des «Polytechnikums» empfahl llg, der Furrer in der Schweiz traf und zusagte. Dies hing wohl auch mit der industriellen Absatzkrise in Europa zusammen und mit der Tatsache, dass die europäischen Staaten – llg als analytisch denkendem Zeitgenossen wohl bewusst – einen immer schärferen Wettstreit um die letzten weissen Flecken in Afrika vom Zaune brachen.
1869 war der Suezkanal eröffnet worden, geplant von Ingenieur Alois Negrelli, der übrigens auch die Brücke über die Murg, vom Zentrum in den Westen von Frauenfeld, erbaut hatte. Besonders die neuen Staaten in Europa, Belgien, Italien und Deutschland, suchten im imperialen Kuchen noch einen «Platz an der Sonne» zu ergattern, was mit dem Kongo, Eritrea und Somaliland sowie Tansania auch gelang; Franzosen (Dschibouti) und Briten (Ägypten, Sudan, Britisch Somalia und Kenia) waren bereits präsent. Es gab in Afrika nach 1885 nur noch zwei unabhängige Staaten: Liberia («Firestone Country» wegen seiner Kautschukproduktion genannt und unter dem Schutz der USA stehend) an der Atlantikküste sowie Äthiopien am «Horn» des Kontinents, in seiner Existenz trotz seiner christlichen Prägung permanent gefährdet. Der Balanceakt um die Bewahrung der Unabhängigkeit sollte im nächsten Vierteljahrhundert Menelik II. und llg auf eine Art und Weise verbinden, die zwischen einem Äthiopier und einem Schweizer bis heute einmalig sein dürfte.

Reise

Äthiopien war nicht gerade das bevorzugte Auswanderungsland für Schweizer. Und doch gab es solche: den Missionar Waldmeyer, den Kaufmann Hess, den Uhrmacher Evalet, den Maler Potter oder den Ethnologen Montandon; für alle jedoch erst, nachdem Alfred llg im Lande Fuss gefasst hatte. Der Jungingenieur bereitete sich gewissenhaft auf sein Abenteuer vor. Er erwarb Kenntnisse in ­topografischen Aufnahmen, machte einen Kurs in Erster Hilfe und fand Mitarbeiter. Werkzeuge, Maschinen und persönliche Habe wurden sorgfältig ausgesucht und verpackt.
Die Reise führte vom Mai 1878 mit der Bahn nach Marseille, mit dem Dampfer nach Port Said und den Kanal bis nach Aden, dann nach Zeila mit einer Segelbarke. Volle vier Monate liessen die damals noch ägyptischen Behörden die kleine Gesellschaft warten, bis nach fünfundvierzig Tagen die Kamelkarawane in Ankober eintraf und Brot, Honig, Bananen und Talla (Bier) erhielt. Am l. Januar 1891 waren die Auswanderer im Hauptort von Schoa angekommen, einen Monat danach holten Reiter sie nach Lidsche zur Audienz mit dem König. «(Er) sass unter einem Baldachin auf einer Ottomane, durchaus wie jeder vornehme Abessinier gekleidet mit Pumphosen […]. In den Haaren trug er eine goldene Stecknadel, welche ein Krönchen in der Grösse einer Nuss vorstellte […].» (Keller, llg) Eine erste Kontaktnahme beschränkte sich auf Gesten, nur die Gewehre llgs fanden Gefallen beim König, der sie sich ausbat. Nicht gerade zur Freude seines neuen Beraters. Eines wurde ihm aber klar: Menelik sprach ausschliesslich Amharisch, also musste llg die Landessprache, die nur hier autochton ist, erlernen. Da es weder Lehrer noch eine Grammatik und auch kein Wörterbuch gab, verglich der Auswanderer die vorhandene Bibel mit der deutschen Ausgabe und eignete sich so das Idiom in wenigen Monaten in Wort und Schrift an. Das sollte ihn 1893 dazu befähigen, die Fallstricke des Wichale-Vertrages zwischen Äthiopien und Italien aufzudecken. In der amharischen Version hiess es, das Land könne bei diplomatischen Kontakten die Hilfe Roms in An- spruch nehmen, in der italienischen jedoch, dass es dazu verpflichtet sei. llg machte den Kaiser (seit 1889) darauf aufmerksam. Menelik kündigte den Vertrag fristlos, zahlte postwendend den Kredit zurück und verwies den Gesandten Antonelli des Landes. Die italienische Absicht zur Errichtung eines Protektorats über das Land war gescheitert.

Mann für alles

Menelik vertrat die Meinung, ein Ingenieur müsse alles können: Schuhe herstellen, ein Schachbrett, Patronen, Brücken bauen, die Wasserversorgung sicherstellen, Telefon und Telegraf einführen, die elektrische Beleuchtung installieren, Münzen prägen, die Post begründen und schliesslich auch die Eisenbahn. Dazu gingen Planung und Bau der neuen Metropole Addis Abeba (der «Neuen Blume») unter seiner Leitung ab 1896 stürmisch voran.
Der Kaiser war daneben Grosskaufmann, in dessen Auftrag llg alles nur Erdenkliche kaufte und verkaufte: Werkzeuge, Maschinen, Waffen, Pfannen, Häute, Elfenbein oder Gold. Das machte zahlreiche Reisen in die Schweiz nötig. Der Hof, zuerst in Ankober, dann auf dem Entotto und schliesslich in Addis, hatte sich ständig vergrössert, ebenso das Territorium des Landes.
Ab 1890 kamen zum Kerngebiet zwischen Adua und Addis Wollega und Harar dazu, bis 1895 Arussi, bis 1909 Ogaden, Borena und Kaffa und schliesslich noch Afar im Osten. Damit waren exakt die heutigen Grenzen erreicht. (Biasio, Prunk) llg hatte dem öfters zögernden Kaiser geraten, alle umliegenden Gebiete zu besetzen, die nicht bereits von den Kolonialmächten reklamiert waren.

Staatsminister

1889 war Kaiser Johannes IV. in der für Äthiopien siegreichen Schlacht gegen den Mahdi im Sudan gefallen. Dies hatte ihn gehindert, Eritrea von den eindringenden Ita- lienern zurückzugewinnen. Menelik wurde zum «Nagusa Nagast», dem König der Kö- nige gekrönt. Gleichzeitig brach eine verheerende Viehseuche im Land aus und führte zu einer Hungersnot, was den neuen Herrscher zum Wichale-Vertrag nötigte, der nicht nur ein Freundschaftsvertrag mit Italien, sondern in erster Linie ein Kreditvertrag war. Damit verstärkten sich die Ambitionen der Kolonialmächte angesichts der Schwäche des Kaiserreiches. Italien beabsichtigte unverhohlen die Verbindung zwischen Eritrea und Somalia, was nur auf Kosten Äthiopiens realisierbar gewesen wäre. 1896 war es soweit: Am l. März griff ein Expeditionskorps ohne Kriegserklärung das Land an und erlitt bei Adua eine vernichtende Niederlage, die einzige einer europäischen Kolonialmacht in Afrika überhaupt.
llg hatte den Kaiser seit Jahren auf diese Gefahr hingewiesen, mahnte die Neuorganisation der Armee an und liess vorsorglich Tausende von Vetterli-Karabinern ins Land transportieren, selbstverständlich illegal. Die Sensation schien perfekt: Ein «Negerfürst» hatte die Armee eines «zivilisierten» Landes in Grund und Boden gestampft. Nun verstand Europa, warum der Herrscher den «Moa Anbessa», den Löwen von Juda, im Wappen führte.
Schon 1894 war llg das Inspektorat für öffentliche Bauten und Arbeiten übertragen worden, zu dem auch die Bahn gehörte. Menelik nahm llg als «Oberfeldarzt» auf seine Eroberungszüge mit und beauftragte ihn, auf seinen Schweizer Reisen Propaganda für das Land zu machen – llg wurde zum ersten ­Fotopionier. Neben den Aufgaben als Architekt, Ingenieur, Kaufmann, Sekretär des Kaisers und Landedelmann. Er besass ein Gut mit etwa tausend Bauern anstelle eines Gehalts. Und bei den Grossen des Reiches war er wohl gelitten, nicht zuletzt wegen seines aufrechten Charakters.
Trotzdem wäre normalerweise die Karriere des Auslandschweizers damit zum Höhe- punkt gelangt, wenn nicht der Wichale-Vertrag und Adua gewesen wären. 1896 brachte er seine Frau Fanny, geborene Gattiker, aus der Heimat mit, die ihm nicht nur drei Söhne und eine Tochter schenkte, sondern auch zur aufmerksamen Beraterin wurde. Am 27. März 1897 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste zur «Exzellenz», später sogar zum «Betweded», dem Bewunderten, als einziger Europäer in der ostafrikanischen Monarchie. Wie angesehen llg noch Jahre nach seinem Weggang war, bezeugte der Schweizer Montandon. Von einem Galla-Häuptling befragt, woher er komme, erwiderte dieser: «Ah, comme Monsieur llg.» (Keller, llg)

Aussenpolitik

Nach 1896 hatte sich das Land zunehmend mit der äusseren Politik zu beschäftigen. »Menelik musste sich auf ein Parkett begeben, das für ihn ungewohnt war und auf dem er sich weniger sicher bewegte.» (Keller, llg). Dem Verkehr mit den auswärtigen Mächten war aber nicht mehr auszuweichen, sollte das Land nicht doch noch als letzte Kolonie auf dem Kontinent enden. Der Conseiller d’Etat erschien, wie der britische Sondergesandte Count Gleichen notierte, «… mit Zweispitz, Frack und Orden als eine echte Überraschung für jeden Neuankömmling. Das Äussere llgs war zweifellos Ausdruck einer tief geprägten Gesinnung, die keine Halbheiten duldete; eine Anpassung an pittoreske äthiopische Gebräuche schien ihm bestenfalls taktisch sinnvoll.» (Loepfe, llg)
Europa hatte sich nach 1896 mit ständigen Gesandtschaften etabliert: Nacheinander errichteten Italien, Frankreich, Grossbritannien, Russland, Deutschland und zeitweise sogar die Vereinigten Staaten ständige Vertretungen in Addis Abeba, das heute Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ist. Dazu kamen zahlreiche Sondermissio- nen, etwa eine französische unter Graf Guibourgère um 1900, eine österreichische mit Admiral Höhnel 1905 und im gleichen Jahr eine deutsche unter Minister Rosen, dann 1898 nochmals eine französische mit Capitaine Marchand. Die Bewahrung der Unabhängigkeit Äthiopiens erwies sich für den Kaiser und seinen einzigen Minister als ständige Gratwanderung. Nicht nur, dass sich auch Expeditionen, Delegationen und temporäre Gesandte die Klinke in die Hand gaben, gewöhnlich mit allzu durchsichtigen Absichten und Anliegen. Niemand kam an Protokollchef Alfred llg vorbei – zum Glück wäre noch nachzutragen.
Italien hatte 1896 einen milden Frieden, vermittelt durch Alfred llg, erhalten: Zahlung einer moderaten Kriegsentschädigung, Verzicht auf Grenzveränderungen zu Eritrea und bedingungslose Freilassung aller Gefangenen. Der Aggressor verwand jedoch die Niederlage nie. Dies zeigte sich noch beim Angriffskrieg eines Völkerbundsmitglieds auf das andere durch Mussolini 1935/36. Die Grenzstreitigkeiten zwischen Äthiopien und Eritrea konnten bis heute nicht beigelegt werden. Der Sudan und Ägypten als frühere britische Kolonien erheben noch in der Gegenwart Anspruch auf den weitaus grössten Teil des Nilwassers, obwohl der Vertrag zwischen Grossbritannien und Äthiopien für letzteres im 19. Jahrhundert gezwungenermassen abgeschlossen worden war. 1898 wäre es beinahe zu einem Kolonialkrieg zwischen Frankreich und Grossbritannien gekommen, als ihre Truppen sich bei Faschoda im Südsudan gefechtsbereit gegenüber standen. Die Devise der Mächte, «Von Dakar nach Dschibouti» und «Von Kapstadt bis Kairo», hatten den Konflikt geradezu ­heraufbeschworen.
llg tat bei einer solchen Konstellation das einzig Mögliche: Er lehnte die Aussenpolitik eng an Frankreich an, den kleinsten kolonialen Nachbarn am Horn von Afrika. Dieser betrieb auch die Eisenbahngesellschaft. Doch das Tripartite-Abkommen des Jahres 1906 zwischen Grossbritannien, Frankreich und Italien (das noch im Abessinien-Krieg 1935/ 36 eine bedeutende Rolle spielen sollte) machte auch diesen Spielraum zunich- te. Zu interessant war das Territorium Äthiopiens für die europäischen Kolonialmächte.
Resignation
«Bei llgs Aktivitäten als Minister für alles stellten sich von Beginn an gewisse Schwach-stellen ein. Zuerst verursachte ein solches ­Superministerium ohne klar abgegrenzte Kompetenzen […] ein gerüttelt Mass an Arbeit. Dann war da die bisweilen schwankende Haltung des Autokraten Menelik und die ständigen Intrigen der rivalisierenden Diplo- maten.» (Küng, llg)
Die Schwerpunkte der zehnjährigen Tätigkeit llgs als Staatsminister lagen zuerst bei der Bewahrung der Unabhängigkeit, dann bei der Vergrösserung und Ausgestaltung des neuen Reiches und zuletzt im Ausbau der Volkswirtschaft (Wasserwirtschaft, Land- und Forstwirtschaft – nur etwa fünf Prozent der Landesfläche heute sind bewaldet).
Der alternde und schwer kranke Kaiser entwickelte sich immer mehr zu einem diffizilen Verhandlungspartner. ­Spätestens seit 1903 musste llg auffallen, dass mit dem Herrscher gewisse Veränderungen vorgingen. Seine geistige Spannkraft liess nach, bei wichtigen Beratungen zeigte er sich müde und unkonzentriert. Und doch war er immer selbst der bedeutendste Ansprechpartner für llg gewesen, die Fürsten wie ­Gobena, Makonnen oder Wolde hatten für die wichtigen Entscheidungen des Landes stets eine untergeordnete Rolle gespielt. Im März 1906 reiste der Staatsminister mit der ganzen Familie in die Schweiz, mit dem festen Entschluss, höchstens noch für zwei Jahre nach Ostafrika zurückzukehren. Im Februar 1907 telegrafierte der Kaiser, llg müsse wegen Unklarheiten in Eisenbahnangelegenheiten sofort kommen. Statt dessen beschlagnahmte er – nach Einflüsterungen des britischen Geschäftsträgers – dessen Landgut. «Wo llg gesät, suchte die europäische Diplomatie (die sich als Geheimdiplomatie verstand) zu ernten.» (NZZ 16.01.1916, Nachruf llg)
Dieser zog die Konsequenzen, demissionierte offiziell am 5. Oktober 1907 und liess sich auch durch des Kaisers erneute Bitte nicht umstimmen, obwohl er als Vertreter des Landes in Europa vorgesehen gewesen war.
Anstatt des Superministers Alfred llg berief Menelik II. nun ein Kabinett von neun Ministern, die weder aus dem Kaiserclan stammten noch Regierungserfahrung besassen. llg war desillusioniert, und als der Kaiser 1913 starb, erkrankte er an einem Herzleiden, das ihm am 7. Januar 1916 den Tod brachte. Ein Besuch im Land seines langjährigen Wirkens hatte nicht mehr stattgefunden.

Würdigung

Zweifellos war Alfred llg um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der ­bedeutendste Thurgauer und einer der ersten Schweizer im Ausland: Vertrauter eines Herrschers, der seinerseits in Europa als der bedeutendste Afrikaner seiner Zeit galt. «Zwei in mancher Beziehung gleichgeartete und sich ergänzende Naturen […] waren Jahrzehnte lang die treibenden Elemente, welche den Gang der Dinge beherrschten […].» (Keller, log)
Wenn dem Kaiser vorgeworfen werden konnte, er habe pekuniäre Interessen bisweilen höher eingestuft als Freundschaft, müss­te man von llg das Gegenteil behaupten. Bei solchen Massstäben konnten gegnerische Stimmen, weniger uneigennützige wie jene der Diplomaten, nicht ausbleiben – des Italieners Ciccodiccola, des Briten Harring- ton, des Franzosen Lagarde oder des Russen Leontieff. (Kung, log)
Der Maschineningenieur hatte Technik und Organisation nach Äthiopien gebracht und in die Schweiz vom Handwerkszeug über Waffen bis zu Schmuck und sakraler Kunst Artefakte, die heute grossteils im Völkerkundemuseum in Zürich aufbewahrt werden. In zahlreichen Vorträgen und Publikationen versuchte er, der Schweiz das Land seines Wirkens näherzubringen. Ohne Zweifel ein aufrechter Mensch als Mann, Vater, Ingenieur, Freund, Politiker und als eigentlicher Visionär. Im 16. Jahrhundert hätte man ihn nicht zu Unrecht als «uomo universale» bezeichnet. Allerdings bewahrten ihn diese Qualitäten nicht vor einer tiefen Enttäuschung nach seinem Abschied. Dem Staatsminister a.D. muss es wehgetan haben, Nachrichten aus Äthiopien zu hören: das Fortschreiten der Krankheit beim Kaiser, die Verunsicherung über dessen Nachfolge (sein Enkel Yasu wurde bereits 1919 abgesetzt; dessen Nachfolger Ras Tihri und späteren letzten Kaiser Haile Selassie I. hatte er als Bub noch ge- kannt) und der Zusammenbruch des von ihm aufgebauten Systems der Aussenpolitik. Für einen Historiker ist es nicht ungefährlich, mit Konjunktionalsätzen umzugehen.

Aber soviel sei zu guter Letzt doch gestattet:
-    Erfolgte der Abgang 1906 doch zu überstürzt?
-    Hätte mit den Grossen des Landes, die er alle kannte, nicht doch ein Modus vivendi gefunden werden können, um die drohende Isolation des Landes inmitten von mehr oder weniger aggressiven Kolonialmächten zu verhindern?
-    War sein Abschied inmitten heftiger Turbulenzen sein einziger wesentlicher politischer Fehler?
Doch spätestens hier sieht sich der Historiker und Biograf von den Fakten eingeholt:
Aus der Geschichte eines Landes und dem Lebenslauf eines Protagonisten kann man zwar – wenn man denn auch will – durchaus lernen, beide bleiben aber letztlich unveränderbar». (Kling, llg)    •

Literaturauswahl

Biasio Elisabeth: Prunk und Pracht am Hof Meneliks. Alfred llgs Äthiopien um 1900, Zürich 2004
Keller Konrad: Alfred llg – Sein Leben und sein Wirken, Frauenfeld 1918
Küng Heribert: Staatsminister Alfred llg – Ein Thurgauer am Hof Kaiser Meneliks II. in Äthiopien, ­Zürich 1999
Küng Heribert: Äthiopien – Land mit Kultur und Natur ( brosch.), Frauenfeld 2007
Loepfe Hans: Alfred llg und die äthiopische Eisenbahn, Zürich 1974
Bilder: Elisabeth Biasio: Prunk und Pracht am Hofe Meneliks, Alfred llgs, Äthiopien um 1900

a.o. Prof. Dr. Heribert Küng, Föhrenweg 11,
CH-8500 Frauenfeld (+41 52 721 50 07)

Kontaktadresse: Alfred llg-Gesellschaft, Haus zur Baliere, Balierestrasse 28, Postfach, 8501 Frauenfeld

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