von FDP-Politiker Hermann Otto Solms
Europa wird in der Ferienzeit besonders greifbar. Da reisen Österreicher nach Spanien, Niederländer in die deutschen Mittelgebirge und die Deutschen nicht nur nach Mallorca. Wir Europäer sind neugierig auf Länder und Leute. Der Reichtum an Sprachen, Architektur, Literatur, Musik, Malerei und vor allem Küche ist überwältigend. Dies alles gibt es in den «Vereinheitlichten» Staaten von Amerika nicht.
Ich selbst komme aus Lich, das zwischen Wetterau und Vogelsberg liegt, im Landkreis Gießen in Mittelhessen in Deutschland in Europa. Also bin ich Licher, Gießener, Hesse, Deutscher und Europäer: Und das alles mit grosser Begeisterung.
Europa ist verbunden durch seine gemeinsame Geschichte und seine christlich geprägten Werte. Es ist gebunden durch das Bekenntnis zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zur Rechtsstaatlichkeit, zur Gewaltenteilung und – vor allem anderen – durch sein Bekenntnis zur Freiheit. Wir streben nach hohen Bildungsstandards, leistungsfähigen Sozial- und Gesundheitssystemen und Wohlstand. Aus all diesen Gemeinsamkeiten zu schliessen, Europa müsse zu einem einheitlichen Gebilde entwickelt werden, wäre ein gefährlicher Trugschluss, denn gerade die Vielfalt macht Europa aus. Zur Idee der Vielfalt gehört untrennbar das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt: Wo ein Problem auftaucht, liegt die Verantwortung zunächst bei der kleinsten Einheit, und nur das, was diese nicht leisten kann, wird auf der nächsthöheren Ebene geregelt. Dabei gilt: «Klein vor gross», «Privat vor Staat» und «Dezentral vor zentral».
Europäische Integration ist kein Selbstzweck. Nach den Schrecken der Weltkriege war es richtig, ja zwingend notwendig, alte Rivalitäten zu überwinden und eine stabile Friedensordnung zu schaffen. Auch heute brauchen wir eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitspolitik sowie eine gemeinsame Aussenpolitik, um in der Welt mit einer Stimme zu sprechen. Spätestens seit dem Ende des kalten Krieges und der gelungenen EU-Ost-Erweiterung ist aber auch klar: Europa muss organisch wachsen, getragen vom freien Willen seiner Bürger. Wilhelm Röpke nannte das «Integration von unten». In der Euro-Krise scheint das Subsidiaritätsprinzip in den Hintergrund zu treten. Nationale Souveränität wird mittlerweile als antiquierte Idee kleingeredet. Das aber untergräbt die demokratische Grundlage, auf der Europa fusst. Die politische Willensbildung vollzieht sich auf örtlicher, nationaler oder europäischer Ebene. Die jeweiligen Parlamente sind der Ort demokratisch legitimierter Entscheidungen. Keinesfalls dürfen Entscheidungen auf Gremien übertragen werden, die keine demokratische Legitimation besitzen und damit auch nicht vom Souverän zur Verantwortung gezogen werden können. Wer die Parlamente übergehen oder marginalisieren will, missachtet die Bürger und gefährdet die Demokratie.
Entscheidungen müssen auf der Ebene getroffen werden, auf der auch ihre finanziellen Folgen vor den Bürgern zu verantworten sind. Wer Risiken eingeht, beispielsweise durch Verschuldung des Haushaltes, muss dafür die Verantwortung tragen. Sie darf nicht auf andere abgewälzt werden. Schliesslich verstösst die Verlagerung von Haftung auf eine gemeinschaftliche Ebene nicht nur gegen das Subsidiaritätsgebot, sondern auch gegen das Demokratieprinzip. Mit den Kriterien ökonomischer Effizienz ist sie ohnehin nicht vereinbar. Was in der Euro-Krise als Akt der Solidarität verbrämt wird, ist ein Verstoss gegen grundlegende Ordnungsprinzipien. Wenn Möglichkeiten geschaffen werden, die Folgen der eigenen Verschuldungspolitik auf andere abzuwälzen, reizt das, sich stabilitätswidrig und unsolidarisch zu verhalten.
Die Lösung liegt in einer Rückbesinnung auf die Grundlagen der europäischen Idee. Europa kann nur stark und attraktiv bleiben, wenn es nach aussen geschlossen auftritt und zugleich nach innen seine Vielfalt pflegt und nutzt. Aus diesem Grund sollten wir die gemeinsame Sicherheits- und Aussenpolitik weiterentwickeln. Ausserdem sollten einheitliche Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Markt durchgesetzt und gemeinsame makroökonomische Ziele festgelegt werden. Wie diese Ziele erreicht werden, sollte den gewählten Parlamenten überlassen bleiben. Jede weitere Vereinheitlichung würde zu einer Aushöhlung der Verantwortlichkeiten führen und wäre ein Frevel an der bunten Vielfalt Europas. Wir würden damit all das gefährden, was unseren Reichtum ausmacht. •
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