Gesundes Rechtsempfinden und mitmenschliches Feingefühl – eine Aufgabe für Erziehung und Bildung

Gesundes Rechtsempfinden und mitmenschliches Feingefühl – eine Aufgabe für Erziehung und Bildung

von Dr. Eliane Gautschi, Psychologin und Sonderpädagogin

Immer wieder hören und lesen wir Meldungen über Vorfälle, bei denen Kinder und Jugendliche – oft in schwerwiegender Weise –gegen das Recht verstossen. Wir hören von Kinderbanden, die gemeinsam auf Diebes­tour gehen und Einbrüche verüben. Oder denken wir an das Beispiel der Jugendlichen aus Küsnacht bei Zürich, die auf ihrer Klassenreise nach München aus reiner Langeweile Passanten niedergeschlagen und gravierend verletzt haben. Die Tendenz zu gewalttätigen Übergriffen lässt leider nicht nach. Das bestätigen die Ende August veröffentlichten Studien der von der Suva geführten Schweizerischen Sammelstelle der Unfallversicherung UVG (SSUV)1 und des Kriminologischen Institutes der Universität Zürich2. Die Studie der SSUV hält fest, dass gewaltbedingte Körperverletzungen im öffentlichen Raum seit Mitte der 90er Jahre beschleunigt und massiv zugenommen hätten. Speziell stark betroffen seien die jungen Männer zwischen 15 und 24 Jahren, zwischen 1995 und 2009 habe sich ihr Risiko, verletzt zu werden, verdreifacht. Der Autor bemängelt auch, dass ganz im Gegensatz zum entschlossenen Vorgehen im privaten und im beruflichen Raum, in bezug auf die Gewalt im öffentlichen Raum eine angemessene Reaktion noch nicht gefunden worden sei.3 Die Studie des kriminologischen Institutes Zürich bezüglich der Opfererfahrungen der Bevölkerung im Kanton Bern hält fest, dass die Schweiz bezüglich der Sicherheit auf europäisches Niveau gesunken sei.4 Solche Nachrichten stimmen nachdenklich. Eindringlich stellt sich die Frage, wie wir der heranwachsenden Jugend wieder vermehrt Anleitung und Orientierung geben können für das gemeinschaftliche Zusammenleben. Wir sind als ganze Gesellschaft gefordert, eine Wende herbeizuführen. Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen wieder «Bodenhaftung». So müssen sie wissen, in welchen gesetzlichen Rahmen sie verpflichtend eingebunden sind. Sie müssen auch wissen, welche Folgen Verstösse gegen das Recht für sie haben können. Das Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn Verfassung und Gesetz von den Bürgern und Bürgerinnen als verbindliche Grundlage anerkannt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Die Kinder und Jugendlichen darin einzuführen ist eine Aufgabe, die von uns allen geleistet werden muss.
Im Laufe der Geschichte haben sich in allen Gesellschaften Vorstellungen herausgebildet, wie das Zusammenleben friedlich und für alle Menschen gleichermassen zufriedenstellend geregelt werden kann. Je nach Kulturkreis sind die Auffassungen etwas speziell ausgeformt, sind sich jedoch im Grundsatz der Rechtsgleichheit einig. Was früher durch mündliche Absprachen, langjährige Gewohnheiten und tradierte Rechte festgelegt worden war, ist heute durch feingliedrige Gesetzeswerke geregelt. Sie spiegeln die Wert- und Moralvorstellungen der menschlichen Gemeinschaft wider und bilden die Grundlage eines demokratischen Staates. Der Gesetzgeber muss darauf achten, dass die Gesetze gerecht und in ihrem Sinn und ihrer Auswirkung nachvollzieh- und durchführbar sind. Nur so entsteht Vertrauen in die Rechtsgrundlagen, ohne das ein funktionierender Rechtsstaat nicht denkbar ist. Dieses Fundament muss von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, ansonsten zerrütten die zwischenmenschlichen Beziehungen, verludert das Zusammenleben und bricht das gemeinschaftliche Gefüge auseinander. Dabei genügt es nicht, den «Buchstaben des Gesetzes» zu kennen, sondern menschlich korrektes Handeln und Denken muss verinnerlicht werden. Kinder und Jugendliche müssen lernen, sich und ihren Mitmenschen Sorge zu tragen, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und Vorsichtsmass­nahmen zu treffen, damit niemandem etwas zustösst. Es ist wichtig, dass sie gefühlsmässig die Fähigkeit entwickeln, Reue zu zeigen, eine mögliche eigene Schuld einzugestehen und wiedergutzumachen oder im umgekehrten Fall Hand zu reichen, um eine versöhnliche Lösung möglich zu machen.
Die notwendigen seelischen Grundlagen für ein gesundes Rechtsempfinden und mitmenschliches Feingefühl werden beim Kind in Erziehung und Bildung gelegt. Mit diesem seelischen Reifeschritt einhergeht der Aufbau eines gesunden Gewissens, das Wegweiser für die Beurteilung eigenen und fremden Handelns sein muss. In den letzten Jahrzehnten stellt sich diese Aufgabe in gewisser Weise neu. Während Jahrhunderten waren die verbindlichen Wertvorstellungen der christlich-abendländischen Kultur aus der Bibel abgeleitet worden. Sie waren ein wichtiges Fundament der Erziehung, gaben den Eltern Rückhalt im Erziehungsprozess und prägten die Gefühlsentwicklung der Kinder massgeb­lich. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Menschen von christlichen Glaubensvorstellungen entfernt. Dadurch entstand auch ein Vakuum verbindlicher und sinngebender Werte, die dem Kind durch die Erziehung vermittelt werden müssen. Viele Kinder und Jugendliche leiden heute darunter, dass sie keine Anleitung und keine Vorbilder mehr haben, an denen sie sich orientieren können und die ihnen Sinn und Ziel im Leben geben. Als Resultat fehlt heute vielen Kindern und Jugendlichen eine sichere gefühlsmässige Verankerung in zwischenmenschlichen Werthaltungen. Sie bewegen sich gefühlsmässig auf unsicherem Terrain und können leichter auf Abwege geraten oder Opfer massenpsychologischer Verführungsstrategien werden. Hier müssen wir einen Umschwung bewirken können. Wir müssen uns auf die Grundlagen unseres Zusammenlebens besinnen und den immensen Reichtum unserer europäischen Kultur wieder ausschöpfen. Die heranwachsende Generation braucht unsere Anleitung und unser gelebtes Vorbild als Fundament für eine würdige Lebensgestaltung in einer demokratischen Gesellschaft. Das Buch von Caroline Walser Kessel ist ein hilfreicher Baustein bei dieser Aufgabe.    •

1   Lanfranconi, Bruno. Neuer Höchststand der Gewalt unter jungen Menschen. Ergebnisse der Statistik der Unfallversicherung nach UVG. Herausgegeben von der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung UVG (SSUV). 31. August 2011.

2  Killias, Martin et al. Studie zur Kriminalität und Opfererfahrungen der Bevölkerung um Kanton Bern. Analysen im Rahmen der Schweizerischen Opferbefragung 2011. Herausgegeben vom Kriminologischen Institut der Universität Zürich.

3  Vgl. Pressemitteilung der SUVA vom 30. August 2011.

4   Die beiden Studien verdienen unsere Aufmerksamkeit und sollen deshalb in einer der nächsten Zeit-Fragen-Nummern genauer vorgestellt werden.

«Kennst du das Recht?»

Ein Sachbuch für Kinder und Jugendliche von Caroline Walser Kessel1

Vor kurzer Zeit ist ein Kinder- und Jugendsachbuch erschienen, mit dem Kinder und Jugendliche in die Rechtsgrundsätze eingeführt werden, mit denen wir unser Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat regeln. Anstoss zum Buch mit dem Titel «Kennst du das Recht?» war eine interdisziplinäre Studie, die in den Jahren 2003–2005 an Zürcher Primar- und Oberstufenschulen durchgeführt wurde. Die Studie, an der die Autorin als Juristin mitarbeitete, wollte wissen, wie gut der Gerechtigkeitssinn bei Kindern ausgebildet ist. Über 700 Kinder und Jugendliche im Primar- und Oberstufenalter und auch einige Erwachsene2 wurden über ihren Fairness- und Gerechtigkeitssinn befragt. Diese sogenannte «Fairplay-Studie»3 zeigte, dass bereits kleine Kinder unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft allgemeine Rechtsgrundsätze wie das Verschuldungsprinzip, den Grundsatz von Treu und Glauben oder das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht nur kennen und verstehen, sondern diese von sich aus bei der Lösung rechtlicher Fragen anwenden.4 Schwieriger hingegen sei – so die Studie – die jeweilige Umsetzung in die Realität. Oft fehle den Kindern und Jugendlichen fundiertes Wissen um die gesetzlichen Grundlagen und konkretes Wissen um die Strafbarkeit bzw. die Schwere der Strafbarkeit einer Tat. Für das Forschungsteam waren die Ergebnisse der Studie eine positive Ausgangslage für die weitere Aufbauarbeit. Wie könnte man den Kindern und Jugendlichen «die Hand im Rücken» geben damit sie im konkreten Fall mit Sicherheit und Mut den richtigen Weg einschlagen? Das Lehrmittel und Lesebuch «Kennst du das Recht?» soll nun diese Lücke füllen. Es wendet sich an Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren und gibt ihnen einen umfassenden Überblick über die gesetzlichen Grundlagen, die unser Zusammenleben regeln. Wer sich darunter eine trockene Abhandlung über Gesetzesparagraphen vorstellt, ist positiv überrascht. Die komplexen Sachverhalte werden in gut verständlicher Form dargelegt, ohne dabei an Substanz zu verlieren. Nach einer anschaulichen Klärung der wichtigsten Begriffe widmen sich die einzelnen Kapitel dem Persönlichkeitsschutz, der Frage von Besitz und Eigentum, dem Haftpflicht-, Straf-, Familien- und Vertragsrecht, um schliesslich mit einem abschliessenden Kapitel die Frage nach «Gnade statt Recht» anzuschneiden. Anhand von Beispielen, wie sie Kinder und Jugendliche in ihrem Lebensalltag antreffen, werden die verschiedenen Themen eingeführt, die Regelwerke erörtert und durch einen Streifzug durch die Geschichte und andere Kulturen ergänzt. Dabei zieht sich wie ein roter Faden die Frage nach Fairness durch alle Kapitel (verstanden als Bindeglied zwischen Moral und den juristischen Bereichen Recht und Gerechtigkeit). Dem Leser werden kleine Aufgaben gestellt, die ihn in die Thematik einführen und ein guter Ausgangspunkt für Gespräche und Diskussionen mit der heranwachsenden Generation sind. Dann wird das Thema auf die grössere Gemeinschaft ausgeweitet und die Bedeutung der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit für ein friedliches Zusammenleben angesprochen. Viele Bilder, Fotos und von Kindern gezeichnete Comics zu Rechtsfragen lockern den Text auf und bereichern die Lektüre. Spannende Interviews mit Fachleuten und viele konkrete Beispiele geben Einblick, wie die praktische Umsetzung der Rechtsfragen vollzogen wird. Schliesslich wird das Buch mit einem ausführlichen Glossar von juristischen und anderen Begriffen abgeschlossen.
Die Autorin zeigt sorgfältig, wie man durch gesetzliche Regelungen die Grundrechte der Menschen und einen würdigen Rahmen für das menschliche Zusammenleben legt. Sie zu kennen ist für alle Kinder und Jugendlichen wichtig. Das Wissen um die rechtlichen Sachverhalte ist ihnen nicht nur eine wichtige Stütze bei der Lösung offener Fragen, sondern auch eine wichtige Einführung in staatsbürgerliche Rechte und Pflichten. «Kennst du das Recht?» ist ein didaktisch gut aufgebautes Lehrbuch, das zur Diskussion in Schule (und Familie) anregt, aber auch ein informatives Sachbuch für Leser und Leserinnen aller Generationen.

* Caroline Walser Kessel. Kennst du das Recht? Editions Weblaw Bern 2011.
ISBN 3-905742-83-1

1  Caroline Walser Kessel ist promovierte Juristin und führt eine Rechtsanwaltspraxis in Zürich

2  es handelte sich um 423 Primarschülerinnen im Alter von 6 bis 12 Jahren aus der Stadt Zürich, aus Vorortsgemeinde Watt-Regensdorf und der eher ländlichen Agglomeration Wetzikon. Aus denselben Schulgemeinden kamen 142 Oberstufenschüler dazu. Dann befragte man 51 Schüler einer religiös ausgerichteten (jüdischen) Primarschule, sowie 30 Jugendliche mit Polizeikontakten und 44 Erwachsene. Sie hatten die Aufgabe, gerechte Lösungen für verschiedene Probleme zu suchen. Die dazu erforderliche Haltung wurde unter dem Begriff "Fairness" erfasst; ein Begriff, den Kinder und Jugendliche aus dem Sport gut kennen und der im Rechtsbereich identisch mit Gerechtigkeit ist.

Fair play. Eine Studie über den Fairness- und Gerechtigkeitssinn von Kindern. Eine ausführliche Beschreibung der Durchführung der Studie, ihre wissenschaftlichen Grundlagen, der ihr zugrunde liegenden Methode, der Auswertung sowie die Schlussfolgerungen der Untersuchung sind publiziert im Beitrag von  Walser Kessel, Caroline/ Crespo Maria: Die Visualisierung von Rechtsnormen durch Kinder – Darstellung ihres Fairness- und Gerechtigkeitssinns. In: Jusletter vom 24. August 2009. Bern 2009.

4  vgl. Walser Kessel C./ Crespo M. 2009, S. 2.

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