Keine Aushebelung der Volksrechte

Keine Aushebelung der Volksrechte

Volksinitiativrecht im Schweizer Ständerat am 20. September 2011

von Dr. iur. Marianne Wüthrich, Zürich

zf. Allen Historikern wird es mulmig angesichts der Kräfte, die gegenwärtig in Europa an der Demokratie rütteln. Unliebsame Assoziationen aus den 20er und 30er Jahren drängen vor. Das Buch von Gotthard Frick «Hiltlers Krieg und die Selbstbehauptung der Schweiz 1933 – 1945. Eine neue, umfassende Sicht auf die Selbstbehauptung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die daraus für die Zukunft zu ziehenden Lehren» gibt dazu ebenso Zusammenhänge wie dasjenige von Timothy Snyder «Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin». Zwischen diesen Kräften sind die demokratischen Nationalstaaten mit ihrer verletzlichen Struktur und eine Bevölkerung, deren mittlerer und jüngerer Teil in der Hochkonjunktur gross geworden ist und auf härtere politische Diskussionen schlecht vorbereitet ist. Die ältere Generation weiss die Zeichen an der Wand rascher zu deuten.
Sowohl für Länder mit repräsentativer Demokratie wie für uns Schweizer muss dem Erpressungspotential der Grossbanken und einem rationalen, auf volkswirtschaftlicher Sachkenntnis beruhenden Diskurs grosse Beachtung geschenkt werden. Die Mechanismen der demokratischen Einflussnahme müssen gestärkt und dürfen nicht geschwächt werden. Zuviel Vertrauen zwischen Souverän einerseits und Parlament und Regierung andererseits ist beschädigt worden; die Machenschaften unserer Grossbanken machen diese Kluft nur grösser und beschädigen unsere Ehre und unseren Ruf. Deshalb ist auch der im Ständerat zur Sprache kommende Gegenvorschlag zum Vorstoss des Grünen Daniel Fischer zur Einschränkung des Initiativrechtes eine empfindliche Angelegenheit. Die Bevölkerung beobachtet sehr genau, wer von den Parlamentariern redlich zum direktdemokratischen Modell Schweiz steht und wer anderen Kräften zuarbeitet.

Der Ständerat wird am 20. September über zwei Vorlagen entscheiden, die zum Ziel haben, das urdemokratische Initiativrecht der Schweizerinnen und Schweizer einzuschränken. Mit Recht lehnt die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates die Parlamentarische Initiative von Daniel Vischer (GP) ab; Vischer fordert rundweg die Ungültigerklärung von Volksinitiativen, die «gegen den Grundrechtsschutz und gegen Verfahrensgarantien des Völkerrechts verstossen». Demgegenüber schlägt die SPK unter dem Titel «Massnahme zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten» eine moderatere Lösung vor. Aber auch diese Variante ist weder angemessen noch notwendig.
Eines der fundamentalen direktdemokratischen Rechte der Schweizerinnen und Schweizer ist das Recht, mit einer eidgenössischen Volksinitiative eine Volksabstimmung über die Änderung eines Artikels der Bundesverfassung oder sogar eine Totalrevision der Verfassung zu verlangen. Seit 1874 kamen 175 Volksinitiativen zur Abstimmung, 18 davon, also über 10 Prozent, wurden von Volk und Ständen angenommen. In neuester Zeit wurden überdurchschnittlich viele Initiativen angenommen, nämlich 6 Initiativen in den letzten 10 Jahren. Jede Volksinitiative wird von der Bundeskanzlei in bezug auf die in Artikel 139 BV verlangten Kriterien vorgeprüft, bevor die Unterschriftensammlung gestartet wird: Genügt sie den formalen Anforderungen (zum Beispiel vollständige Unterschriftenliste, korrekte Übersetzung des Initiativrechts in die drei Amtssprachen deutsch, französisch und italienisch)? Entspricht sie der Einheit der Materie, das heisst, beschränkt sie sich inhaltlich auf ein Thema? Verletzt sie keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts? Nur wenn eine dieser Vorschriften nicht erfüllt wird, kann die Bundesversammlung die Volksinitiative ganz oder teilweise für ungültig erklären; dies geschah aus unterschiedlichen Gründen insgesamt viermal. Jede weitergehende materielle Überprüfung des Inhalts ist nicht erlaubt, denn der Souverän ist die oberste Gewalt in der direkten Demokratie Schweiz. Das Parlament hat immerhin die Möglichkeit, die Initiative vor der Volksabstimmung zur Annahme oder zur Ablehnung zu empfehlen und/oder gleichzeitig einen Gegenentwurf zur Abstimmung zu bringen.

Selbsternannte «Hüter der Menschenrechte» wollen Volksrechte kastrieren.

In letzter Zeit schicken sich verschiedene selbsternannte «Demokratie-Reformer» an, die starken direktdemokratischen Rechte der Schweizerinnen und Schweizer in Frage zu stellen. Als Vorwand nehmen sie die Annahme verschiedener eidgenössischer Volksinitiativen durch Volk und Stände, die ihnen inhaltlich nicht in den Kram passen. So trafen sich im Mai und Oktober 2010 eine Anzahl Politiker und Politologen in Solothurn, um «die Grundpfeiler unserer direkten Demokratie, die Grund- und Menschenrechte, zu stärken». Sie behaupteten, dass sich «freiheits- und völkerrechtswidrige Volksinitiativen häufen», und forderten eine Verfassungsänderung, die die Gründe für die Ungültigerklärung von Volksinitiativen erweitern solle, und zwar um eine lange Liste materieller Inhalte, die angeblich die Menschenrechte verletzen würden. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Liste von Themen, die ihrer politischen Auffassung nicht entsprechen.
Ein merkwürdiges Demokratieverständnis legen diese «Fachleute» der Politik an den Tag: Statt zu akzeptieren, dass nicht jeder dieselbe Meinung hat wie sie – Meinungspluralismus nennt man das, meine Herren und Damen Politologen! – sprechen sie einer Meinungsdiktatur das Wort. Damit verletzen sie das grundlegende Menschenrecht, ohne das es keine Demokratie gibt: die Freiheit, seine Meinung frei zu bilden und in den politischen Diskurs einzubringen (Artikel 16 BV). Unter anderem ist in der «Solothurner Erklärung» vom 29. Mai 2010 die erstaunliche Aussage zu lesen: «Swissness und Refolklorisierung tragen nicht zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft bei. Wir wünschen uns ein anderes Bild der Schweiz, das Immigration und kulturelle Vielfalt des Landes als Stärke begreift.» Dazu nur soviel: Wünschen kann sich jeder, was er will, aber wenn er sein eigenes «Bild der Schweiz» in der Bundesverfassung festschreiben und Volksinitiativen verbieten will, die seinem Bild nicht entsprechen, ist das der Gipfel. Die Mehrheit des Volkes will vermutlich lieber mehr «Swiss­ness» als unverschämte Einmischungen des globalisierten Kapitals und fremder Regierungen.

Staatspolitische Kommission des Stände­rates gegen demokratieaufweichende Kräfte.

Die SPK hat sich mit Recht gegen derart demokratiewidrige Ansinnen gestellt und die Parlamentarische Initiative von Daniel Vischer, die die Anmassung der Solothurner Demokratieabschaffer in die Verfassung bringen möchte, mit 8 zu 2 Stimmen klar abgelehnt:
 Parlamentarische Initiative Daniel Vischer:

«Die Bundesverfassung sei dergestalt zu ändern, dass eine Volksinitiative dann ungültig ist, wenn sie materiell gegen den Grundrechtsschutz und gegen Verfahrensgarantien des Völkerrechts verstösst.»

Dass auf Grund einer solchen «Gummi»-Verfassungsbestimmung Tür und Tor offen stünden, um jede Volksinitiative aus dem Verkehr zu ziehen, die nicht der Meinung der Parlamentsmehrheit entspricht, liegt auf der Hand. Dies hat glücklicherweise die Staatspolitische Kommission des Ständerates erkannt, indem sie festhält:

«Die Kommission zweifelt jedoch nach wie vor, ob weitere Ungültigkeitsgründe präzise genug in der Verfassung formuliert werden können. Aus dem Verfassungstext sollte möglichst klar hervorgehen, in welchen Fällen eine Volksinitiative ungültig ist. Die Ergänzung des Verfassungstextes mit weiteren Ungültigkeitsgründen erweitert den Handlungsspielraum der Bundesversammlung erheblich und bringt vermehrte Unsicherheiten für die Initianten und Initiantinnen.» (Bericht der Staats­politischen Kommission des Ständerates vom 28. Juni 2011).

Dem ist nichts beizufügen. Leider hat der Nationalrat am 11. März 2009 mit 96 zu 72 Stimmen dem Vorstoss Vischer und damit der Desavouierung des mündigen Bürgers zugestimmt, obwohl seine SPK sich nur äusserst knapp (12 zu 11 Stimmen, 1 Enthaltung) für die Initiative Vischer ausgesprochen hatte. Darauf wurde die SPK des Ständerates aktiv und verlangte einen Bericht des Bundesrates über das Verhältnis Volksinitiativen und Völkerrecht.

Motion «zur besseren Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grundrechten» ist überflüssig und demokratiewidrig.

Dieser Bericht des Bundesrates liegt seit März 2011 vor (Zusatzbericht des Bundesrats zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 30. März 2011, Bundesblatt 2010, S. 3613ff), und die Ständeratskommission schlägt der kleinen Kammer gestützt darauf die Verankerung einer unverbindlichen materiellen Vorprüfung aller Volksinitiativen vor. Gleichzeitig bleibt die Kommission bei der Ablehnung der Parlamentarischen Initiative Vischer.
Text der Motion 11.3751 der SPK Ständerat

«Der Bundesrat wird beauftragt, auf der Basis seines Zusatzberichtes vom 30. März 2011 zum Bericht über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht eine Vorlage zuhanden der Bundesversammlung zu erarbeiten. Es sollen die rechtlichen Grundlagen für folgende Massnahme erarbeitet werden:
Es soll neu eine nichtbindende materielle Vorprüfung von Volksinitiativen bezüglich ihrer Gültigkeit vor Beginn der Unterschriftensammlung vorgenommen werden (vgl. Ziff. 1 der Motion 11.3468 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 19. Mai 2011).»

Eine solche materielle Überprüfung über die Normen des zwingenden Völkerrechts hinaus würde jedoch die Entscheidungsfreiheit der Stimmbürger massiv einschränken. Ausserdem ist sie aus folgenden Gründen gänzlich unnötig:

Die Übereinstimmung einer Volksinitiative mit dem zwingenden Völkerrecht wird bereits heute geprüft. Zwingendes Völkerrecht wurde im übrigen in einer eidgenössischen Volksinitiative noch nie tangiert – und dies ist auch nicht zu erwarten.

Bereits gemäss heutiger Bundesverfassung darf eine Volksinitiative nicht im Widerspruch zu zwingendem Völkerrecht stehen (Art. 139 Abs. 3) – das versteht sich für jeden Schweizer und jede Schweizerin von selbst. Der Bundesrat zählt die Normen des zwingenden Völkerrechts in seinem Bericht auf (Bundesblatt 2010, S. 3626). Damit die wilden Behauptungen, irgendeine Volksinitiative habe zwingendes Völkerrecht verletzt oder könnte es irgendwann verletzen, endlich vom Tisch sind, seien sie hier wörtlich aus dem Bericht des Bundesrates zitiert (siehe Kasten «Zwingendes Völkerrecht»).
Es liegt schweizerischem Rechts- und Demokratieverständnis völlig fern, mittels einer Volksinitiative eines dieser Fundamente der menschlichen Weltgemeinschaft antasten zu wollen. So ist es selbstverständlich, dass die Ausschaffung krimineller Ausländer ihre Schranke am Non-refoulement-Gebot findet, und das Minarett-Verbot verstösst in keiner Weise gegen den eben definierten «innersten Bereich der religiösen und ethischen Selbstverantwortung».
Eine Ausdehnung der Vorprüfung auf die Übereinstimmung der Volksinitiativen «mit dem übrigen einschlägigen Völkerrecht» würde die direktdemokratischen Rechte der Bürger aus rein politischen Erwägungen einschränken und ist zurückzuweisen.
Neu schlägt der Bundesrat dem Parlament vor, die Vorprüfung der Volksinitiativen auf ihre Übereinstimmung «mit dem übrigen einschlägigen Völkerrecht» auszudehnen (Bundesblatt 2010, S. 3632). Unter «übrigem einschlägigen Völkerrecht» versteht der Bundesrat Staatsverträge, deren Kündigung «nicht möglich oder aus politischen Gründen nur schwer vorstellbar» ist.
Eine solche «Gummi»-Klausel würde Tür und Tor öffnen für einige Politiker und Verwaltungsbeamte, alle Staatsverträge, die sie persönlich aus ihrer politischen Gesinnung heraus als «unverzichtbar» betrachten, als «übriges einschlägiges Völkerrecht» zu etikettieren. Die Beispiele sind vorprogrammiert: So haben bereits etliche Politiker verkündet, die Kündigung der Bilateralen Verträge I und II, zum Beispiel des Schwerverkehrsabkommens (das übrigens der in der Verfassung verankerten Alpenkonvention widerspricht!) oder des Vertrages von Schengen/Dublin, sei «aus politischen Gründen nur schwer vorstellbar» oder gar «nicht möglich». Das stimmt nicht: Selbstverständlich ist die Kündigung bzw. Neuverhandlung jedes Vertrages mit der EU sehr wohl möglich! Ob es der Herrscherkaste in Brüssel passen würde oder nicht, spielt für diese Frage keine Rolle. Die Schweiz ist souverän, und das Schweizer Volk ist der Souverän der souveränen Schweiz.
Es geht nicht an, dass das Parlament, der Bundesrat oder eine Verwaltungsinstanz die Initianten von einem Volksentscheid abzuhalten versuchen, nur weil sie es irgendwelchen Mächten auf der Welt rechtmachen wollen.

Ein auf die Unterschriftenbogen gedruckter «Hinweis», die Volksinitiative ­verletze völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz, wäre ein massiver Schlag gegen das schweizerische Demokratieverständnis und verletzt das verfassungsmässige Diskriminierungsverbot.

Der Vorschlag des Bundesrates, auf die Unterschriftenbögen einen Satz folgender Art zu drucken, würde die Meinungsbildungsfreiheit geradezu ausser Kraft setzen:

«Nach Auffassung von Bundesamt für Justiz und Direktion für Völkerrecht verletzt die Volksinitiative völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz; sie wäre jedoch nicht für ungültig zu erklären, weil sie keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verletzt.» (Bbl 2010, S. 3636).

Ob wir ausgerechnet im Demokratie-Musterland Schweiz die Meinungsbildungsfreiheit als Mindeststandard jeder Demokratie abschaffen wollen, müssen wir hier gar nicht diskutieren, so peinlich ist das! Das Tüpfli aufs i ist, dass nach Meinung des Bundesrates eine oder zwei blosse Verwaltungsbehörden am besten geeignet seien, den Initianten den Tarif durchzugeben. Das gibt’s doch nicht! Es ist anzumerken, dass wir dem Bundesrat insofern zustimmen, als auch sonst niemand für eine derartige Demokratiewidrigkeit geeignet ist – nicht das Parlament, nicht der Bundesrat, nicht das Bundesgericht.
Mit einem solchen Aufdruck auf den Unterschriftenbögen würden unsere Behörden im übrigen gemäss eigener Definition im Bericht des Bundesrates das Diskriminierungsverbot verletzen. Wir zitieren:

«Art. 8 Abs. 21 ist insoweit Ausdruck weltanschaulicher Pluralität und gebietet im Grundsatz die Anerkennung von Bekenntnissen und Überzeugungen, die von den in der Schweiz herkömmlichen Vorstellungen abweichen.» (Bbl 2010, S. 3649)

Weiterer Kommentar überflüssig.

Keine Erweiterung der materiellen Schranken für Volksinitiativen durch die willkürliche Festlegung eines sogenannten «grundrechtlichen Kerngehaltes» in der Verfassung.

Zwar erwägt der Bundesrat in seinem Bericht als zweite Variante auch einen Katalog grundrechtlicher Kerngehalte in der Bundesverfassung, gegen die eine Volksinitiative nicht verstossen dürfe. Der Versuch einer solchen Auflistung (Bundesblatt 2010, S. 3643ff.) ist allerdings sehr fragwürdig – denn erstens gibt der Bundesrat selbst zu, dass die Auflistung «nicht vollständig sein kann», zweitens ist sogar in der Rechtslehre umstritten, welche Freiheitsrechte und Verfahrensgarantien – über das zwingende Völkerrecht hinaus – zum «Kerngehalt» der Bundesverfassung gehören, der durch eine Volksinitiative nicht änderbar sein soll. (Bbl 2010, S. 3644).
Sich aus dieser Unklarheit herauszuwursteln, indem man eine allgemeine Formulierung wählt, hält auch der Bundesrat für unzumutbar für die Stimmbürger: Volksinitiativen für ungültig zu erklären auf Grund von völkerrechtlichen Bestimmungen, die «für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind», oder wegen der «rechtlichen oder politischen Undurchführbarkeit» einer Initiative, geht eindeutig zu weit. Völlig richtig bemerkt der Bundesrat dazu:

«Erhebliches politisches Ermessen wäre auszuüben, um einen entsprechend formulierten Ungültigkeitsgrund anzuwenden. Berechtigte Ansprüche des Initiativkomitees auf die Voraussehbarkeit des Prüfungsergebnisses (Rechtssicherheit) wären bei einer solchen Lösung schwer einlösbar. Im übrigen ist der politische Entscheid für oder gegen eine Verfassungsvorlage durch Volk und Stände an der Urne und nicht durch die Bundesversammlung im Rahmen der Gültigkeitsprüfung zu fällen.» (Bbl 2010, S. 3640)

Jawohl, das hat der Bundesrat richtig erkannt: Volk und Stände entscheiden über eine Volksinitiative an der Urne, denn sie sind der Souverän. Eigentlich würden wir Bürgerinnen und Bürger ein wenig mehr Vertrauen in unsere Urteilsfähigkeit von unseren Behörden erwarten, denn – wie auch im Bericht des Bundesrates zu lesen ist – wir tragen die rechtlichen und menschlichen Schranken für Verfassungsänderungen in uns.
Deshalb gibt es auch keine «Ewigkeitsklauseln» in der schweizerischen Bundesverfassung:

«Sogenannte Ewigkeits- oder Versteinerungsklauseln nach dem Muster von Artikel 79 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes von 1949 sind dem Verfassungsrecht der Schweiz fremd.
Lehrmeinungen, wonach bestimmte «unverzichtbare Grundwerte» unantastbar seien, haben sich nicht durchgesetzt. Das mag an der Verfassungsentwicklung der Schweiz liegen, wo Werte wie Demokratie, Föderalismus, Gewaltenteilung und Rechtsstaat eine lange Tradition aufweisen und im kollektiven Gedächtnis tief verankert sind. Freilich lässt sich auch das Demokratieprinzip anführen […], das mit einer verfassungsrechtlichen Ewigkeitsklausel nur schwer vereinbar wäre.
Der geltende Verfassungstext macht zunächst deutlich, dass die Bundesverfassung jederzeit ganz oder teilweise geändert werden kann (Art. 192 Abs. 1 BV). Absolute autonome materielle Schranken und Wartefristen sind damit ausgeschlossen.» (Bbl 2010, S. 3628)

Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Warum dann die krampfhaften Versuche, die Entscheidungsfreiheit der Bürger einzuschränken?
Übrigens ist im Bericht des Bundesrates so ganz nebenbei zu lesen, dass das ganze Getöse um angeblich völker- und grundrechtswidrige Volksinitiativen, das gewisse Politiker und ­Politologen veranstalten, um die direkte Demokratie zu schwächen und die Schweiz damit in eine EU- und globalisierungskompatiblere Form zu kneten, gegenstandslos ist. Denn die betreffenden vier Initiativen, deren drei von Volk und Ständen angenommen wurden, verstossen laut Bundesrat gar nicht gegen den grundrechtlichen Kerngehalt der Verfassung (geschweige denn gegen zwingendes Völkerrecht, wie einige Eiferer behaupten!):

«Hingegen wären die folgenden beispielhaft angeführten Volksinitiativen aus der jüngeren Vergangenheit nach Auffassung des Bundesrats nicht im Widerspruch gestanden zu den grundrechtlichen Kerngehalten: die Ausschaffungsinitiative (2010 angenommen), die Minarett-Initiative (2009 angenommen), die Initiative «Für demokratische Einbürgerungen» (2008 verworfen) oder die Verwahrungsinitiative (2004 angenommen).» (Bbl 2010, S. 3652)

Na also, dann ist ja die ganze fruchtlose Debatte hinfällig.

Fazit:

Was sicher zum unverzichtbaren «Kerngehalt» der Bundesverfassung gehört, sind die direktdemokratischen Rechte der Schweizerinnen und Schweizer.
Unsere Volksvertreter haben die vordringliche Verpflichtung, die Volksrechte zu stärken – nicht zu schwächen.   
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1    Gemeint ist Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung: «Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»

Künstlich geschürte Angst vor dem «Too-big-to-fail-Problem»

«Es geht uns im folgenden vielmehr um die Angst, mit der zur Zeit überall in Eu­ropa im Zuge der Bekämpfung der Überschuldungskrise von Staaten und Banken freiheitsfeindliche Politik betrieben wird. […]
Wer skrupellos genug ist, die Ängste seiner Mitmenschen auszunutzen, und es ausserdem auch noch schafft, die Massenmedien auf seine Seite zu bekommen, der kann gerade in Situationen, in denen den Menschen die Angst in die Glieder fährt, seine Sonderinteressen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen. Und aus diesem Grund besteht das grösste Hindernis bei der Bekämpfung der Überschuldungskrise von Staaten und Banken und bei der ­politischen Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen Geldordnung in der Angst vor einem Zusammenbruch unseres gesamten Finanzsystems. […]
Und deshalb ist es auch diese Angst, die die Marktwirtschaft und die Rechtsstaatlichkeit in Europa um ein Vielfaches mehr gefährdet, als es ein realer Zusammenbruch unseres Finanzsystems je könnte; denn wer ängstlich ist, lässt sich leichter erpressen. Angst und Erpressung gehören seit jeher zusammen. […]
Dieses Erpressungspotential besteht in der Drohung, dass der gesamte Banken- und Finanzsektor und der gesamte Zahlungsverkehr zusammenbrechen würden, falls eine systemisch relevante Bank Insolvenz anmelden muss und durch diese Insolvenz ein Dominoeffekt ausgelöst wird. Dieses Erpressungspotential ist derart gross, dass Irland durch die Rettung der irischen Banken seinerseits in die Überschuldungsfalle geraten ist.»

aus: Frank Schäffler und Norbert Tofall: «Künstlich geschürte Angst, um Partikularinteressen durchzusetzen» (ganzer Text Seite 3 dieser Ausgabe)

Art. 139 Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung

1 100 000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen.
2 Die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung kann die Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs haben.
3 Verletzt die Initiative die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts, so erklärt die Bundesversammlung sie für ganz oder teilweise ungültig.
4 […]
5 Eine Initiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs wird Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet. Die Bundesversammlung empfiehlt die Initiative zur Annahme oder zur Ablehnung. Sie kann der Initiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen.

 

Zwingendes Völkerrecht (ius cogens)

gemäss Bericht des Bundesrats (Bbl 2010, S. 3626)

•    die Gleichheit der Staaten/das Gewaltverbot (Verbot der militärischen Gewaltanwendung) der Uno-Charta/die Verbote von Folter, Völkermord und Sklaverei/das Verbot der Ausschaffung eines Flüchtlings in einen Staat, wo sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen gefährdet wäre («Non-refoulement-Gebot»);

•    die Grundzüge des Humanitären Völkerrechts («Recht im Krieg»), welche bestimmten Personengruppen besonderen Schutz zukommen lassen; gemäss jeweiligem Artikel 3 der vier Genfer Abkommen von 1949 sind «jederzeit und jedenorts« verboten: Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung; Gefangennahme von Geiseln; Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung; Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet.

•    Die notstandsfesten Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gemäss Artikel 15: Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 EMRK), Verbot der Folter (Art. 3 EMRK), Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK), Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 7 EMRK) und ausserdem das Verbot der Doppelstrafe oder der Grundsatz «ne bis in idem» (Art. 4 ZP Nr. 7).

•    auf europäischer Ebene auch das Verbot der Todesstrafe

•    Die Praxis der Bundesbehörden hat punktuell auch den notstandsfesten Garantien des Uno-Pakts II den Gehalt von «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» zuerkannt:
Recht auf Leben (Art. 6 Uno-Pakt II)/Unzulässigkeit der Todesstrafe/Folterverbot, Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels sowie Verbot der Leibeigenschaft (Art. 7 und 8 Abs. 1 und 2 Uno-Pakt II)/Verbot des Schuldverhafts (Art. 11 Uno-Pakt II): Niemand darf nur deswegen in Haft genommen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen./Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 15 Uno-Pakt II)./Universelle Rechtsfähigkeit (Art. 16 Uno-Pakt II)/Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18 Uno-Pakt II). Notstandsfest ist der innerste Bereich der religiösen und ethischen Selbstverantwortung, das sogenannte Forum internum (Abs. 2): Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.

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