ab. Timothy Snyders bedrückendes Buch «Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin» ist wie kein zweites dazu angetan, um endlich mit der Aufarbeitung entscheidender Abschnitte des letzten Jahrhunderts zu beginnen. Wir in Westeuropa haben über beide Seiten nachzudenken, war die Sozialistische Internationale doch ein Resultat geistiger Auseinandersetzung in unseren Breitengraden. Die Fehler von Grossmachtpolitik, von grossflächiger Planung über die Menschen und die Völker hinweg haben so unsägliches Leid mit sich gebracht, dass wir heute dagegen immun sein müssten. Das wären wir vielleicht auch in einem höheren Grade, wenn die Zusammenhänge jener Zeit aufgearbeitet wären. Sind wir nun aber nicht wieder auf dem Weg in ähnliche Fehler mit unabsehbaren Folgen?
Schweizer Historiker wie ein Jean-Rodolphe von Salis, die in der Zwischenkriegszeit ihr Studium absolvierten und während des Krieges mit Verantwortung übernehmen mussten, hatten die verheerenden Folgen Monat für Monat vor Augen. Ihr Denken war vom gleichen Ernst gekennzeichnet, wie er in der Mehrheit der Bevölkerung spürbar war – und an den wir damalige Kindergarten- und Primarschulkinder uns noch erinnern, wie wenn es gestern gewesen wäre. Gotthard Frick führt diese Geisteshaltung in seinem Buch «Hitler’s Krieg und die Selbstbehauptung der Schweiz 1933–1945» sehr präzis vor Augen.
Von Salis hatte am 8. Februar 1940 vom Schweizer Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz den Auftrag bekommen, für den Schweizerischen Radiosender Beromünster einen wöchentlichen Lagebericht, die «Weltchronik», zu verfassen. Er war sich seiner Verantwortung bewusst. Seine Berichte zeichneten sich durch grosse Verlässlichkeit und abwägende Sorgfalt aus, so dass Widerstandsbewegungen in verschiedenen europäischen Ländern sich daran orientieren konnten. «Worte im Kriege sind keine Literatur. Sie sind verbindlicher, verpflichtender als im Frieden, denn sie sind eine gefährliche Waffe. Ihre wöchentliche Wiederholung übt eine Wirkung auf die Stimmung und Meinungsbildung der Hörer aus. Diese Kriegsberichterstattung war ein geistiges Abenteuer. Ich wünsche jedem Historiker, dass er einmal Gelegenheit erhalte, die Geschichte im Werden öffentlich zu kommentieren.» Und er fügt bei: «Der Ausgang des Dramas war noch verborgen.»
Jean-Rodolphe von Salis fuhr am 10. Mai 1940 nach Paris, um im persönlichen Gespräch zu erfahren, wie die intellektuellen und politischen Eliten Frankreichs sich zur näher rückenden Bedrohung durch Deutschland stellen. «Am Morgen meiner Abreise nach Paris, dem 10. Mai 1940, erhielt ich einen Anruf, dass Holland, Belgien und Luxemburg von den Deutschen angegriffen worden seien.» Es war der Tag der Generalmobilmachung in der Schweiz.
Die Verbindungen zwischen der Schweiz und Frankreich sind nicht nur wegen der gemeinsamen Sprache eng. De Gaulle als Nordfranzose ist den Schweizern auch in seinem Wesen vertraut. «Innen- wie aussenpolitisch ist de Gaulles Haltung diejenige eines Nordfranzosen, eines in Lille, auf der Grenzscheide zwischen Frankreich und Flandern, geborenen Menschen, dessen Heimat seit Jahrhunderten Invasionen, Kriegen, Entscheidungsschlachten den Schauplatz geliefert hat; das hatte zur Folge, dass die nordfranzösischen Bevölkerungen nur durch ihre Beharrlichkeit, durch eisernen Fleiss und eine puritanische Selbstdisziplin und Arbeitsamkeit die Stürme der Geschichte überstehen konnten.» Mit hervorragendem Einfühlungsvermögen zeichnet von Salis die grundlegenden Linien für de Gaulles «Europa der Vaterländer» – ein Konzept, das heute erneut zu überdenken ist.
Für beide Persönlichkeiten sind «die Grenzen, die von der menschlichen Erfahrung, vom gesunden Verstand und vom Gesetz gezogen werden» eine zu bewahrende Grundlage. Beide misstrauten – wie unzählige andere – der «Masslosigkeit, Machtmissbrauch, Grenzenlosigkeit» der dreissiger Jahre und hielten an ihren Werten fest: historische Erfahrung, Vernunft, kluge Beschränkung und Masshalten.
Sind wir heute – erneut am Rande einer Weltwirtschaftskrise – nicht in einer ähnlichen Situation, wo der Ausgang des Dramas noch verborgen ist? Wo keine vorgefertigten Rezepte weiterhelfen? Wo geschichtliche Erfahrung, Vernunft, Masshalten und ethische Werte allgemeine Richtlinien sein müssen, um als gleichberechtigte Völker auf diesem Globus einen gangbaren Weg zu suchen? De Gaulles Konzept eines «Europas der Vaterländer» als Ausgangspunkt für ein Nachdenken zu nehmen, um aus einer Politik des gegenseitigen Bezwingens und Ausnützens, der Über- und Unterordnung herauszufinden, könnte sich lohnen. Auch der Ernst und der Verantwortungssinn jener Generation, die die Folgen von wahnhafter Grossmachtpolitik noch vor Augen hatte, könnte uns heute nicht schaden.
Von Salis hatte Paris am 17. Mai 1940 mit dem Nachtzug verlassen. Die Deutschen rückten gegen Paris vor, das starke Frankreich wurde besetzt. Nach einer unruhigen Nacht erreicht der Zug in Les Verrières die Schweizer Grenze. «Auf dem Bahnsteig erblicke ich zwei oder drei Schweizer Offiziere in feldgrauen Mänteln, den Kopf mit dem Stahlhelm bedeckt. Einer spricht mich zu meiner Überraschung an; es ist ein Zürcher Fachkollege.» Sie trinken rasch zusammen eine Tasse Kaffee und tauschen sich über das Nötigste aus. Diese beiden Fachkollegen haben nach dem Krieg bis zu ihrer Emeritierung in Zürich Studenten, Lizentianden und Doktoranden mit grösster Sorgfalt in das Fach Geschichte eingeführt und ihnen eine Orientierung gegeben für die Zukunft: Respekt für Menschen und Völker, für Länder und Kulturen, Masshalten, sorgfältiges Sich-Abstimmen, Geschichte auf personaler Grundlage verstehen als lebendiges Gestalten aller Länder und Völker. Dafür sind ihnen beiden Unzählige, auch die Schreibende, bis heute dankbar. •
«Der Widerstandsführer schilderte mir, wie die tschechische Untergrundbewegung in ständiger Verbindung mit der Exilregierung in London stand, die manchmal sehr optimistische Berichte über die Lage gesandt habe. Wenn die Untergrundbewegung auf Grund einer günstigen Beurteilung der militärischen Lage von London aufgefordert wurde, bestimmte Sabotageakte gegen die Besetzungsmacht durchzuführen, habe sie sich’s zur Regel gemacht, zuerst meinen Kommentar aus Beromünster am Freitagabend abzuwarten; wenn dieser ungünstig lautete, habe man auf die Aktion verzichtet – umgekehrt habe eine günstige Beurteilung der momentanen Lage den Befehl zur Ausführung der Aktion zur Folge gehabt. In diesem Sinne hätte ich einen gewissen Einfluss auf die Entschlüsse der Widerstandsorganisation ausgeübt.»
Quelle: J.R. von Salis: Kriege und Frieden in Europa, S. 136
«Es ist eine der historischen Grundauffassungen de Gaulles, dass die Staatsformen, Gesellschaftsstrukturen und Ideologien nur die äusseren Gewänder sind, die sich die Staaten und Völker im Lauf ihrer Geschichte überwerfen, dass aber ihre Wurzeln und permanenten Interessen stärker als alle Umwälzungen sind und selbst die revolutionären Strömungen allmählich wieder in das Bett ihrer nationalen Geschichte zwingen.»
Quelle: J.R. von Salis: Kriege und Frieden in Europa, S. 234
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