Selbstherrliche Eliten des Westens haben versagt

Selbstherrliche Eliten des Westens haben versagt

Es braucht ein Europa der Nationen und Bürger

von Prof. Dr. Klaus Hornung*

«Die aktuellen Krisen des Westens haben die Hintergründe der sie auslösenden Entscheidungen ‹elitendemokratischer› Gremien enthüllt. Sie haben gezeigt, wie wenig sie das Gütesiegel des Allgemeinwohls beanspruchen können und statt dessen einseitig von oligarchischen Interessen bestimmt werden. Die Überlegungen werden dringlich, die auf die Wiederherstellung eines vernünftigen Gleichgewichts von Gesamtinteresse und Teilinteressen gerichtet sind – auf eine stabile Kontrolle finanzkapitalistischer Gruppeninteressen durch demokratische Beteiligung und politische und öffentliche Kontrolle.»


Es klingt wie eine Sage und ist doch erst zwei Jahrzehnte her. 1990/1991 implodierte das Sowjetimperium und liess die Vereinigten Staaten als einzige Weltmacht übrig. Im Westen herrschte die Euphorie, nun die Früchte des Sieges über den Kommunismus ernten zu können. Als einer der ersten trat dieser Euphorie Arnulf Baring mit einer treffend realistischen Prognose entgegen, als er 1991 schrieb: «Es wäre eine Illusion zu glauben, wir seien in einen paradiesischen Zustand der Welt eingetreten, in dem Krisen, Unruhen, Aufstände, Kriege undenkbar geworden seien. Ganz im Gegenteil. Erschütterungen aller Art werden auf Grund des demographischen Drucks, sozialer und wirtschaftlicher Notstände in vielen Teilen der Welt während der nächsten Jahre und Jahrzehnte um sich greifen.»

Kein Ende der Geschichte

Tatsächlich war die Geschichte mit dem Sieg des Liberalismus nicht an ihr Ende gekommen, wie Francis Fukuyama gemeint hatte, sie nahm vielmehr das Tempo eines Katarakts an. Noch 1991 führten die Amerikaner selbst den ersten Krieg gegen Saddam Hussein, der in Kuwait eingefallen war. Im September 2001 erschütterte der islamistische Terror mit den Angriffen auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington die amerikanische Weltmacht in ihrem Zentrum.
Die Interventionen in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 – letztere von George W. Bush mit der durchsichtigen Lüge begründet, Saddam Hussein müsse die Atombombe aus der Hand genommen werden – unterstrichen nicht nur den imperialen Führungsanspruch der USA, sondern führten das «Zweite Rom» und seine internationalen Hilfstruppen nun ins vollends raumfremde Zentralasien. Sie stellen das jüngste Beispiel der geschichtlichen Erfahrung dar, dass Imperien dazu neigen, durch Masslosigkeit ihre Kräfte zu überanstrengen und sich damit auf Dauer selbst zu ruinieren.

Ursachen der US-Schuldenkrise

Heute erkennen wir, dass Amerika und der Westen hier keinen Sieg erringen können und dass gerade die Führungsmacht nicht zuletzt durch Afghanistan in jene gigantische Schuldenfalle geraten ist, die jetzt ihre Fundamente erschüttert. Zuvor schon hatte Bushs Vorgänger Bill Clinton die ähnlich verhängnisvolle Entscheidung getroffen, die Amerikaner zu einer Nation von Hausbesitzern machen zu wollen. Mit lebhafter Unterstützung der amerikanischen Notenbank verfolgte er eine ­Politik des billigen Geldes, die ihren Teil zum amerikanischen Schuldenberg beitrug. Dieser nahm schliesslich durch Bushs Militärinterventionen seinen heutigen gigantischen Umfang an.
Unterdessen ist nicht nur die Hegemonialmacht USA durch törichte Führungsentscheidungen tief in die Krise geraten, sondern auch der europäische Pfeiler des westlichen Bündnisses. Auch die Krise der europäischen Währungsunion, die von altgedienten Europapolitikern inzwischen als die schwerste Krise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg diagnostiziert wird, ist das Ergebnis einer gravierenden strategischen Fehlentscheidung der europäischen politisch-ökonomischen Klasse, die mit dem Vertrag von Maastricht 1992 begann.
Sie sah in der Errichtung der europäischen Währungsunion eine wesentliche Voraussetzung für die weitere politische Einigung ­Europas und nicht zuletzt auch das Instrument, um das wiedervereinigte Deutschland «einzubinden». Auch diese Entscheidung wurde getroffen entgegen den Warnungen einer grossen Zahl von Sachkennern, die dem Versuch der Vereinigung wirtschafts-, fiskal-, steuer- und sozialpolitisch überaus heterogener Länder unter einem gemeinsamen Währungsdach von Anfang an keine günstige Prognose stellten.

Fehlentscheidungen in der EU

Die jetzige Währungskrise hat gezeigt, dass diese Entscheidung zu einem glatten Fehlschlag geführt hat und nicht zuletzt die politische Union Europas selbst gefährdet. Noch im Jahr 2000 hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon proklamiert, die Europäische Union bis 2020 zur «stärksten, dynamischsten und wettbewerbsstärksten Region» der Welt machen zu wollen, zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht nach den USA mit dem Euro als Weltreserve­währung neben dem Dollar. Das war Ausdruck jenes Übermuts, der damals die europäische Politik, Ökonomie und Publizistik erfüllte.
Die Europäische Union, so etwa der US-Amerikaner Jeremy Rifkin, sollte als künftige Weltmacht weniger auf militärischer Stärke gründen, vielmehr als «leise Supermacht» vor allem auf ihre Wirtschaftskraft und ihr Versprechen wachsenden Wohlstandes setzen, eine reichlich unrealistische Prognose, die weder die demographische Schrumpfung des Kontinents noch sein hohes sozialpolitisches Niveau in Rechnung stellte, das mit dem Wachstumstempo der neuen globalen Konkurrenten auf Dauer nicht mithalten konnte. Die Proklamation von Lissabon im Jahr 2000 wäre wohl besser unterblieben, ihr Ziel hat sie inzwischen um Längen verfehlt.
Als Ergebnis dieser Doppelkrise des Westens haben wir den Aufstieg Chinas zur neuen Weltmacht zu registrieren, das nicht nur über ein enormes Bevölkerungspotential von nahezu eineinhalb Milliarden Menschen verfügt, sondern auch über ein effizientes Führungssystem, in dem die westlichen Menschenrechte keine Geltung haben. China hat in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten die USA vom ersten Platz der internationalen Wirtschaftsmächte ebenso verdrängt wie Deutschland vom zweiten Rang als Exportmacht.

Ein neues multipolares Mächtesystem

Wir sind Zeugen der Herausbildung eines neuen multipolaren internationalen Mächtesystems, in dem China und die anderen bisherigen Schwellenländer wie Indien oder Brasilien ihre wachsende Rolle auf Augenhöhe mit den USA und der EU spielen. Das Verhältnis Chinas zum Westen lässt sich derzeit mit der Formel einer «kooperativen Konfrontation» beschreiben, deren Widersprüchlichkeit der realen Lage entspricht. Einerseits versteht das Reich der Mitte die noch bestehende technologische Überlegenheit des Westens optimal (aus-)zunutzen, andererseits verfolgt es eine offensive Strategie, um seinen geopolitischen Einfluss in der Welt auszudehnen.
Sowohl die amerikanische Schuldenkrise als auch die globale Finanzkrise und die derzeitige Euro-Währungskrise sind wesentlich selbstgemachte Krisen, Ergebnisse gravierender Fehlentscheidungen der politisch-ökonomischen Klasse. Sie gehören in die lange Reihe ähnlicher geschichtlicher Vorgänge, denen die US-amerikanische Historikerin Barbara Tuchman bereits 1984 eine tiefschürfende Studie unter dem Titel «The March of Folly» (Die Torheit der Regierenden) gewidmet hat – vom Trojanischen Pferd der griechischen Antike bis hin zum «Selbstverrat» der US-amerikanischen Führung im Vietnam-Krieg.

Die EU und das Prinzip der Subsidiarität

Der emeritierte Mannheimer Politikwissenschafter Peter Graf von Kielmansegg hat vor einiger Zeit («Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 8. Juli 2011) an den Beginn der Europa-Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Damals wurde Europa nicht als mächtiger zentralistischer Superstaat entworfen, sondern als notwendiger Zusammenschluss zur Existenzsicherung seiner Nationen und Staaten begriffen nach den Zerstörungen, in die die totalitären Diktaturen und der Krieg den Kontinent gestürzt hatten. Die Prämisse dieses Beginns war das Prinzip der Subsidiarität, wonach «Europa» nur das zu ordnen hat, wozu die einzelnen Staaten nicht mehr in der Lage sind, wie etwa einen einheitlichen Binnenmarkt, eine gemeinsame Verteidigungs-, Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik.
Das subsidiäre Prinzip sollte die Kompetenzen zwischen der Zentrale und den Mitgliedstaaten klar abgrenzen. Dieser Ansatz wurde in den folgenden Jahrzehnten von den übermächtigen globalen Wirtschaftsinteressen und der Europäischen Kommission überrollt, die zu einem Motor der Zentralisierung, Bürgerferne und einer Mammut-Bürokratie heranwuchs. Das geschah besonders nach 1990, als man in Brüssel eben jenen menschen- und geschichtsfeindlichen Weg der Über-Zentralisierung beschritt, an dem das Sowjetimperium soeben gescheitert war.

Ein Europa der Nationen und Bürger

Die Brüsseler Kommission macht gegenwärtig unter Ausnutzung der Krise einen neuen Anlauf zu diesem Ziel. Der Vorschlag Kielmanseggs, statt dessen eine neue europäische Grundsatzdebatte zu führen, verdient jedenfalls Aufmerksamkeit, um die bisherigen europäischen Fehlentscheidungen und Fehlwege zu korrigieren und schliesslich in einem neuen tragfähigen politischen Konzept für Europa zu münden, das abschliessend von Volksabstimmungen als Ausdruck des Willens des demokratischen Souveräns zu legitimieren wäre.
Bekanntlich fürchtet gerade die derzeitige europäische politisch-ökonomische Oligarchie diesen Weg wie der Teufel das Weihwasser. Tatsächlich erweisen sich die bisherigen Entscheidungen zur europäischen Einigung vor allem als Elitenprojekte der – im Klartext – Konzerne und Banken.
Dieser Weg, der das Projekt Europa inzwischen so viel Vertrauen gekostet hat, muss durch ein Europa der Nationen und Bürger korrigiert werden, eines nicht nur vorrangig von ökonomischen und materiellen Interessen geprägten Kontinents, sondern einer  geschichtsbewussten und zu Realpolitik befähigten Weltregion.
Die schwere Doppelkrise des Westens in Amerika und Europa offenbart einen politischen Systemwandel von der freiheitlichen repräsentativen Demokratie zu neuen Formen demokratisch verhüllter oligarchischer Herrschaft. Im Zuge der Globalisierung nehmen supranationale Institutionen wie die EU-Kommission und internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) politischen Einfluss. Sie überlagern damit die nationalen Regierungs- und Parlamentsentscheidungen.

Finanzkapitalistische Gruppeninteressen müssen demokratisch kontrolliert werden

Die Entscheidungsbildung entfernt sich rapide von den demokratischen Souveränen und ihren Repräsentanten hin zu oligarchischen Zirkeln, die zumeist nicht demokratisch bestellt und legitimiert sind. Kielmanseggs Dresdner Kollege Hans Vorländer spricht von neuartigen Formen einer «Elitendemokratie» («Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 12. Juli 2011), die etwa in den Krisensitzungen der europäischen Staats- und Regierungschefs mit Händen zu greifen sind. Hier sitzen die Vertreter des internationalen Finanzkapitals mit am Tisch, formell als «Berater» der Politiker, faktisch als Mitentscheider, wenn nicht als Letztentscheider.
Dieser Systemwandel, so Vorländer, macht noch einen weiteren Faktor deutlich: den enorm gewachsenen Einfluss der «öffentlichen Deutungsmacht» der Medien auf das Wählerpublikum, nicht zuletzt der elektronischen Medien mit ihrer eindringlichen «Dramaturgie des Visuellen», die die «Alternativlosigkeit» der Elitendemokratie wesentlich zu verstärken und zu legitimieren versteht. Der Wahlakt als qualitatives Urteil der Bürger wird in dieser Zuschauerdemokratie zur blossen Akklamation verdünnt.
Die aktuellen Krisen des Westens haben die Hintergründe der sie auslösenden Entscheidungen «elitendemokratischer» Gremien enthüllt. Sie haben gezeigt, wie wenig sie das Gütesiegel des Allgemeinwohls beanspruchen können, und statt dessen einseitig von oligarchischen Interessen bestimmt werden. Die Überlegungen werden dringlich, die auf die Wiederherstellung eines vernünftigen Gleichgewichts von Gesamtinteresse und Teilinteressen gerichtet sind – auf eine stabile Kontrolle finanzkapitalistischer Gruppeninteressen durch demokratische Beteiligung und politische und öffentliche Kontrolle.     •

*    Klaus Hornung, geboren 1927, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Politikwissenschaften an der Universität Stuttgart Hohenheim. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Bücher veröffentlicht, darunter Klassiker wie «Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts» oder seine Studie zum preussischen Heeresreformer Gerhard Johann David von Scharnhorst, «Scharnhorst». Von 2001 bis 2003 war er Präsident des Studienzentrums Weikersheim.

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