Jugoslawien, Afghanistan, der Irak, Libyen … und nun auch Somalia, Syrien, Iran?

Jugoslawien, Afghanistan, der Irak, Libyen … und nun auch Somalia, Syrien, Iran?

Auf Dauer werden sich die Bürger doch nicht immer wieder in neue Kriege ziehen lassen, sondern vernünftigem Handeln zum Durchbruch verhelfen

von Karl Müller

Reinhard Erös, Gründer der Kinderhilfe ­Afghanistan, hat dem Deutschlandfunk am 16. November ein Interview zur Lage im Land am Hindukusch gegeben und dabei klare Worte gefunden.
Im Gebiet der Paschtunen, also im Gross­teil des Landes, gelten, so Erös, «bei praktisch allen, mit denen ich spreche, vom Dorfbürgermeister oder vom einfachen Bauern rauf bis zum, ich sage es mal so, ­Distrikt-, bis zum Regierungspräsidenten – würde man in Deutschland sagen – die Ausländer als Besatzer, die raus müssen. Drei Viertel der afghanischen Bevölkerung insgesamt möchten, dass die Ausländer sofort abziehen, weil sie Besatzer sind. Das heisst, ohne den Abzug, physisch erkennbar, optisch erkennbar, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben.»
Der Interviewer hält ihm entgegen, viele Politiker gerade hier in Deutschland würden doch immer sagen, wir hätten gerade in den letzten zwei, drei Jahren auch durch unsere veränderte Strategie dort sehr viel erreicht.
Erös darauf: «Ja nun, wir hatten im Jahr 2010, wenn wir mal das komplette letzte Jahr uns anschauen, 30 Prozent mehr tote Nato-Soldaten als im Jahr 2009, hatten 60 Prozent mehr Nato-Tote als im Jahr 2008. Bei der Zivilbevölkerung haben wir noch nie so viele Tote gehabt wie in diesem Jahr. Wir hatten letztes Jahr 346 bei Anschlägen ums Leben gekommene afghanische Kinder – 346, davon 200 durch die Nato. Also, wie wollen Sie das noch steigern? – Und auch die soziale, die humanitäre Situation im Land – da rede ich jetzt nicht von den 10, 15 Prozent der Privilegierten, vor allen Dingen in Kabul, sondern von der normalen Bevölkerung, den Bauern, den Bergbauern, den Nomaden und so weiter –, die soziale und humanitäre Situation für diese Bevölkerung, für die 80 Prozent, hat sich seit 2002 nicht verbessert. Der letzte Bericht von UNDP, United Nations Development Program, als einer, wenn Sie so wollen, objektiven Behörde, sagt eindeutig aus, dass sich etwa im Bereich der Krankenversorgung, im Bereich der Trinkwasserversorgung, im Bereich auch der schulischen Ausbildung die Situation in den letzten fünf, sechs Jahren ins Negative hin stabilisiert beziehungsweise ins Negative hin gesenkt hat. Also, es ist nicht besser geworden dadurch, dass wir die Anzahl der Truppen in den letzten vier, fünf Jahren in Afghanistan verdoppelt haben.»
Reinhard Erös ist kein radikaler Scharfmacher, kein Agent der Taliban, kein realitätsblinder Ideologe. Er ist jemand, der seit Jahren humanitäre Hilfe leistet und dabei mit den Behörden die Zusammenarbeit sucht.
Aber warum finden sich solche Wahrheiten nicht in den Regierungserklärungen der in Afghanistan Krieg führenden Nato-Länder? Warum wird auch 10 Jahre nach Kriegsbeginn immer noch beschwichtigt und beschönigt, gelogen und manipuliert?
Und: Ist Afghanistan nur die Ausnahme? Wurde und wird sonst immer die Wahrheit gesagt? Beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien? Beim Krieg der «Koalition der Willigen» gegen den Irak? Beim Nato-Krieg gegen Libyen? Bei den Kriegstrommeln gegen Somalia, Syrien und Iran?
Lassen wir uns in neue, noch verheerendere Kriege treiben, so wie wir uns Hunderte von Milliarden für unsinnige «Rettungsschirme», für EFSF und ESM aus der Tasche ziehen lassen – zur allgemeinen Freude der Dollar-Herrschaft, zur Demontage unserer Rechte und Würde, zur Durchsetzung von Raub und Mord an noch mehr Völkern?
Oder geben wir der Vernunft eine Chance. Zum Beispiel mit guten Argumenten gegen einen neuen Krieg im Nahen Osten?
Die Kriegstrommeln gegen Iran sind lauter geworden. Teile der israelischen Regierung wollen diesen Krieg. Wenn sich diese Kreise in Israel durchsetzen, steht zu befürchten, dass auch die US-Regierung – gegen alle Bedenken auch in diesem Land – mitmachen wird. Und damit auch die Nato?
Oder gelingt es, dass die Argumente gegen einen solchen Krieg ein solches politisches Gewicht bekommen, der politische Widerstand gegen die Kriegspartei so gross wird, dass der Krieg nicht mehr geführt werden und sich die Vernunft gegen den kranken Wahn des Krieges durchsetzen kann?
Argumente kommen schnell zusammen, wenn Bürger zusammensitzen, jeder gründlich nachdenkt und sein Wissen und seine Erfahrung einbringt.
Zum Beispiel: Ist es nicht so, dass Teile der israelischen Regierung und ihrer Kombattanten Iran mit einem Angriff drohen? Und war es nicht so, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Führung eines Angriffskrieges der Hauptanklagepunkt in den Kriegsverbrecherprozessen gegen das nationalsozialistische Regime war?
Wie sieht es heute in den Ländern aus, gegen die Nato-Staaten in den vergangenen 20 Jahren Krieg geführt haben? Man kann die Länder durchgehen und muss wohl überall feststellen, dass es nirgendwo wirklich besser geworden ist, statt dessen hat es enorme Opfer an Kultur und Menschenleben gegeben. Peter Scholl-Latour meint in seinem neuen Buch «Arabiens Stunde der Wahrheit. Aufruhr an der Schwelle Europas» (ISBN 978-3-549-07366-7), der Irak sei durch den Krieg in die Steinzeit zurückgefallen. Einst war das Land an Euphrat und Tigris eines der am weitesten entwickelten im Nahen Osten, ein Land der frühen Hochkultur. Kann Eu­ropa es verantworten, dass erneut ein Land der Hochkultur in Schutt und Asche gelegt werden soll, dass es erneut Hunderttausende von Opfern an Menschenleben geben wird? Dass ein Krieg begonnen wird, dessen Verlauf unabsehbar ist?
Kann es Europa verantworten, dass nach Hiroshima und Nagasaki mehr als 60 Jahre später ein erneuter atomarer Holocaust droht? Und kann es insbesondere Deutschland verantworten, immer weiter Geld für ein Land zur Verfügung zu stellen, das für Krieg und Zerstörung missbraucht wird?
Will Europa auch in den kommenden Jahren dem kulturlosen «American way of life» dienen wie ein Vasall, oder will sich Europa auf seine eigenen, seine wertvollen Traditionen und Errungenschaften besinnen – und auf die im 20. Jahrhundert zweimal gemachte bittere Erfahrung, was Krieg bedeutet?
Glaubt Europa wirklich, dass sein Schuldenproblem durch den Beginn eines neuen teuren Krieges gelöst werden kann? Die USA sind nicht zuletzt durch ihre Kriege der vergangenen 20 Jahre an den Abgrund gerückt. Sollen die Europäer nun wie Lemminge folgen? Europa hat genug damit zu tun, wieder eine solide Wirtschaftsstruktur aufzubauen, eine Wirtschaftsstruktur, in der es um das geht, was die Menschen wirklich brauchen. Europa braucht eine Reindustrialisierung, braucht viele Investitionen in den produktiven Bereich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Völkergemeinschaft mit der Charta der Vereinten Nationen auf ein anderes Zusammenleben auf dem Planeten Erde geeinigt. Souveräne Nationalstaaten sollten gleichberechtigt zusammenarbeiten, Konflikte sollten künftig am Verhandlungstisch gelöst werden. Soll das erneut, wie schon zu oft in den vergangenen 20 Jahren, ignoriert werden? Sind wir uns des hohen Preises für diese Ignoranz bewusst?
Setzen wir uns also dafür ein, dass sich unsere Regierungen auf die Grundlagen der Völkergemeinschaft zurückbesinnen und nein zu einem erneuten Krieg sagen!    •

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK