von Karl Müller
Beim deutschen Bundeswahlleiter (www.bundeswahlleiter.de/de/parteien/downloads/Anschriftenverzeichnis_Parteien.pdf) sind (Stand: 21. August 2011) 112 verschiedene deutsche Parteien registriert. Die Namen der Parteien reichen von A wie «Ab jetzt … Bündnis für Deutschland, für Demokratie durch Volksabstimmung» bis Z wie «Zukunfts-Liga LIGA». Es gibt also keinen zahlenmässigen Mangel an Parteien in Deutschland, und Neugründungen sind fast an der Tagesordnung.
Die meisten dieser Parteien und Parteineugründungen sind der breiten Öffentlichkeit allerdings nicht bekannt, und weniger als 10 Prozent dieser Parteien haben Sitze in deutschen Volksvertretungsorganen.
Wenn eine neue Partei sich dauerhaft etablieren konnte, so wie zum Beispiel die Grünen seit Anfang der 80er Jahre, dann stellen manche die Frage, ob dies nicht von ganz anderen so gewollt war. Die deutschen Parteigründungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren allesamt von den Siegermächten lizenziert worden. Ohne Lizenz war es nicht möglich, eine Partei zu gründen. Nun ist der Zweite Weltkrieg lange vorbei, und seit dem «Zwei-plus-vier-Vertrag» von 1990 ist Deutschland auch offiziell souverän. Dennoch gibt es Beobachter der deutschen politischen Landschaft, die bis heute behaupten, dass die deutsche Souveränität nur eine eingeschränkte ist und nach wie vor keine neue Partei ohne den Segen der ehemals mächtigsten Siegermacht, also der USA, eine wirkliche Erfolgschance hat.
Wie dem auch sei: Die Anzahl der Parteien, die in deutschen Volksvertretungsorganen vertreten sind, ist seit 1945 tatsächlich sehr klein geblieben, und das deutsche Wahlrecht (zum Beispiel die 5%-Hürde) trägt dazu bei, dass es neugegründete Parteien schwer haben, politisch wirken zu können.
Diejenigen, die derzeit laut über eine neue Partei nachdenken, wissen dies alles auch. Einer von ihnen ist Hans-Olaf Henkel, ehemals Präsident des einflussreichen Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), anfänglich Befürworter des Euro, heute einer der bekanntesten Kritiker (vgl. Zeit-Fragen Nr. 46 vom 15. November). Wenn nun schon seit Monaten davon die Rede ist, dass eventuell eine neue Partei gegründet werden soll, dann geht es wohl um mehr als um unausgegorene Pläne für einen dann doch wieder erfolglosen Versuch wie so viele zuvor. Vielmehr geht es um die Frage, ob die Zeit reif dafür ist, dass es einer neuen politischen Kraft in Deutschland gelingen kann, mit einem überzeugenden Programm und mit überzeugenden Persönlichkeiten bei kommenden Wahlen so viele Wählerstimmen auf sich zu vereinigen, dass die deutsche Politik eine andere Richtung einschlägt. Dabei geht es auch um die Frage, ob diese Persönlichkeiten in der Lage sind, die zu erwartenden offenen und verdeckten Attacken der bisherigen Classe politique erfolgreich abzuwehren, ob die Classe politique und ihre Hintergrundkräfte bei einer fast sicher kommenden Zuspitzung der Krise in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft noch in der Lage sein werden, Alternativen zur bisherigen Politik zu verhindern – oder ob Richtungswechsel unausweichlich werden.
Hans-Olaf Henkel hat in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach die Idee einer Parteineugründung ins Spiel gebracht, zuletzt in einem Interview mit dem stern vom 1. Dezember. Dort sagte er auf die Frage, wann die Entscheidung über eine neue Partei fallen werde: «Nicht vor dem 13. Dezember. Dann entscheiden die Mitglieder der FDP über den Euro-Rettungsschirm. Wenn die Parteispitze verliert, muss sie geschlossen zurücktreten. Wenn sie sich durchsetzt, heisst das für mich: Die Partei kann man vergessen. Viele meinen das jetzt schon. Dann gibt es eine neue Partei.»
Bis zum 13. Dezember können die Mitglieder der FDP über einen Antrag abstimmen, der die Partei darauf verpflichten würde, im Bundestag gegen einen auf Dauer angelegten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu stimmen. Der Antrag wurde von dem Bundestagsabgeordneten der Partei, Frank Schäffler, und dem ehemaligen FDP-Politiker Burkhard Hirsch eingebracht. Schäffler und seine Kollegen hatten deutlich mehr als die notwendigen 3400 Unterschriften für einen solchen Mitgliederentscheid zusammengetragen und schon damit dokumentiert, dass es innerhalb der Partei viele Mitglieder gibt, die mit der bisherigen Regierungspolitik nicht einverstanden sind.
Frank Schäffler selbst hatte allerdings in einem Brief vom 14. November Ideen für eine Parteineugründung eine Absage erteilt und sich dabei auch von den Überlegungen Henkels distanziert: «Trotz vieler Gemeinsamkeiten in der Sache frage ich mich zur Zeit, ob Hans-Olaf Henkel wirklich am Gelingen des FDP-Mitgliederentscheides zum ESM gelegen ist. Seine Aufrufe, in die FDP einzutreten, um am Mitgliederentscheid teilzunehmen, und anschliessend wieder auszutreten, falls der Mitgliederentscheid zur Verhinderung des ESM scheitert, verunsichern unsere Parteibasis. Und sie verunsichern auch langjährige FDP-Mitglieder, die den ESM verhindern wollen. Da Henkel auch noch hinzufügt, man solle beim Scheitern des Mitgliederentscheides zum ESM eine neue Partei gründen, schadet er der Sache und den fast 4000 Antragstellern, die den ersten Mitgliederentscheid der Basis durchgesetzt haben. Wer mitmachen will, soll in die FDP eintreten, aber auch dabei bleiben, egal wie es ausgeht. Wer nur aus dem Zuschauerraum Empfehlungen gibt, macht es sich zu einfach. Die Gründungsmitglieder des Liberalen Aufbruchs in der FDP haben den Liberalen Aufbruch vor einem Jahr gegründet, um in der FDP für klassisch-liberale Positionen zu werben und um Mehrheiten für eine klassisch-liberale Politik in der FDP zu erzielen. Wir haben explizit keine Partei in der Partei gegründet und wollen auch ausserhalb der FDP keine etablieren.»
Es ist jedoch sehr wahrscheinlich für Deutschland wenig hilfreich, sich auf diese eher taktischen Meinungsverschiedenheiten zu fokussieren. Wichtiger ist die Frage, was in der Sache weiterführt. Tatsache ist, dass die bisherige Politik der im Bundestag vertretenen Parteien nicht aus der politischen Sackgasse, in der Deutschland steckt, herausgeführt hat und bei einer Fortschreibung der bisherigen Politik auch nicht herausführen wird. Tatsache ist aber auch, dass es in allen deutschen Parteien Persönlichkeiten gibt, die mit dieser Politik nicht einverstanden sind. Tatsache ist auch, dass die Parteispitzen bislang in der Lage sind, die innerparteiliche Opposition mit verschiedensten Mitteln jenseits des Arguments klein zu halten. Tatsache ist aber auch, dass die Opposition in den Parteien gegen die Vorgaben der Parteispitzen wächst.
Deutschland würde es selbstverständlich sehr gut tun, wenn es eine politische Kraft mit Sitz und Stimme in den Volksvertretungen gibt, die überzeugende und konstruktive Wege aus der Krise weist – «Piraten» werden diese Kraft nicht sein. Kann man also den Deutschen etwas empfehlen?
Eigentlich braucht Deutschland nicht nur eine, sondern mehrere Parteien, die sich ehrlich und sorgfältig aller politischen Fragen annehmen, die sich heute stellen. Sie reichen von der sozialen Frage über die Frage der künftigen Finanz- und Wirtschaftsordnung bis hin zur Frage verwirklichter Demokratie und Volkssouveränität; von der Zukunft der Familie bis zur Frage einer Rückbesinnung auf heute verbreitet ignorierte, aber nichtsdestoweniger gesicherte Erkenntnisse der Pädagogik für Erziehung und Bildung; von der Frage zukunftsfähiger Technologien bis hin zum ehrlichen Schutz der natürlichen Umwelt; von der Frage des Miteinanders der Völker und Staaten bis hin zu den grundlegenden Werten eines würdigen Zusammenlebens in jeder Form von Gemeinschaft.
Dabei verdient auch der politische Liberalismus in Deutschland eine echte Renaissance. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Losung des deutschen politischen Liberalismus, für die Freiheit, für den rechtsstaatlichen Verfassungsstaat und für die nationale Einheit einzutreten. «Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland» – die ersten beiden Verse der deutschen Nationalhymne geben diese Losung wieder. Wer die liberalen Texte aus den Jahren vor 1848 liest, der erkennt aber auch unschwer, dass die damaligen Forderungen in ihrem Kern wieder sehr aktuell und existentiell geworden sind. Sehr viele Bürger beobachten nämlich deutliche politische und zivilisatorische Rückschritte, hervorgerufen unter anderem durch eine nun schon Jahrzehnte währende kulturelle Attacke in allen gesellschaftlichen Bereichen, eine Zerstörung einer freiheitlichen und zugleich sozial verpflichteten Marktwirtschaft und die Entmachtung demokratischer Nationalstaaten. In den vergangenen Tagen und Wochen ist es offenbar geworden, dass der massive Angriff auf Freiheit und Demokratie von einer abgehobenen EU-Oligarchie und einflussreichen Kräften des Finanzkapitals betrieben wird.
Schon 1848 hat der deutsche Liberalismus unter dem Scheitern der deutschen Freiheits-, Verfassungs- und Nationalbewegung gelitten. Die deutschen Liberalen haben sich in den Folgejahrzehnten zerstritten und gespalten. Der politische Liberalismus hat seither nie mehr die Ausstrahlung gehabt wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Aber eine solche erneute Ausstrahlung wäre für Deutschland und Europa eine Überlebensmaxime. Die Frage ist deshalb, ob die Partei, die sich bislang als Traditionswahrer des deutschen Liberalismus sieht, diesem Anspruch wieder gerecht werden kann. Frank Schäffler und seine Kollegen setzen darauf. Aber auch andere wollen an die Tradition des politischen Liberalismus in Deutschland anknüpfen und setzen auf eine neue Partei, wenn die FDP Weiterentwicklungen zu einem echten Liberalismus weiterhin blockiert. Verbinden tut alle diese Persönlichkeiten innerhalb und ausserhalb der FDP der Wunsch nach einer anderen deutschen Politik. Erfolgreich werden sie dann sein können, wenn sie sich ehrlich zu den Bürgern bekennen und sich mit dem Bürger und dessen Anliegen verbünden. Aber auch die Bürger selbst sind gefordert: Einen Richtungswechsel in ihrem Sinne kann es nur geben, wenn sie sich wie Citoyens verhalten. Deutschland wird sich nicht von heute auf morgen erholen können. Ausdauernde Aufbauarbeit wird notwendig sein. •
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