«Für die EU wäre es ausgezeichnet, einen reicheren Nachbarn an der Grenze zu haben»

«Für die EU wäre es ausgezeichnet, einen reicheren Nachbarn an der Grenze zu haben»

Während westliche Medien nicht müde werden, den grossen östlichen Nachbarn der Europäer und naheliegenden Verbündeten, Russland, als Zerrbild darzustellen – ob aus eigenem Antrieb oder Dollar-gesteuert, sei dahingestellt –, lohnt sich ein Blick in die Presse vor Ort. Den elektronischen Medien sei Dank, lässt sich per Mausklick aufrufen, wie die grosse Krise anderswo betrachtet wird – zum Beispiel in der russischen Online-Zeitung «Ria Novosti», einer der gemäss Angaben des US-Marktforschungsunternehmens «Comscore» zehn meistgelesenen Online-Zeitungen in Europa.

sf. So erfährt man dort, dass Jacques Attali, der frühere Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) vermute, der Euro könnte noch bis zum Jahreswechsel zusammenbrechen. Die Chancen dafür schätze er auf fifty-fifty, berichtet «Ria Novosti» am 29. November. Während die Ratingagentur Moody’s alle Euro-Länder vor der Gefahr warne, ihre Bonität herabzustufen, sähen russische Analysten verschiedene Möglichkeiten, wie mit der Krise umgegangen werden könnte: Einerseits, so Elena Matrossowa von BDO Russia, sei die Euro-Zone die einzige Chance für Europa, den erstarkenden Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien die Stirn zu bieten, andererseits, so Juri Danilow, Direktor des Zentrums für Aktienmarkt­entwicklung, könne man nicht ausschliessen, dass ein Land oder mehrere Länder aus der Euro-Zone austräten. Wie teuer dies die einzelnen Euro-Länder zu stehen käme, berichtet die Nachrichtenagentur unter Berufung auf UBS-Experten: In den am stärksten schwächelnden Euro-Ländern müsste im ersten Jahr fast die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aufgewendet werden, während im stabilen Deutschland das erste Jahr des Umstieges jeden Erwachsenen 6000 bis 8000 Euro kosten würde. In Russland werde diese Entwicklung mit grosser Sorge verfolgt. Was die Wirtschaftsexperten speziell umtreibe, seien die immer lauter geäusserten Ausstiegsszenarien, insbesondere nach dem Verdikt des US-Wirtschafts-Nobelpreisträgers Paul Krugman, das Euro-Projekt sei «ein schrecklicher Fehler» gewesen – eine Einschätzung, die ja auch deutsche Medien und prominente Wirtschaftsvertreter teilen, so etwa der ehemalige Chef des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, der sich für die Spaltung der Euro-Zone in Nord und Süd ausgesprochen hat.
Derweil brumme die russische Wirtschaft, berichtet «Ria Novosti» in einer anderen Meldung vom gleichen Tag, und dies nicht zuletzt wegen einer klug durchgeführten Wirtschaftspolitik, wie dies Präsident Medwedew am Parteitag von Geeintes Russland unterstrichen habe. Der Präsident habe die Versammelten daran erinnert, was in den letzten Jahren im sozialen und wirtschaftlichen Leben des Landes erreicht wurde: «Die Einnahmen sind auf das Mehrfache gestiegen. Die Armut ging um 50 Prozent zurück. Die Lebenserwartung ist um einige Jahre gestiegen. Die Geburtenrate ist gestiegen. Die Landwirtschaft hat sich in eine gewinnbringende Branche verwandelt.» Auch habe sich in Russland eine starke Mittelschicht gebildet. Für den weiteren Aufschwung des Landes habe alsdann Regierungschef Putin, der von seiner Partei an dieser Veranstaltung als Kandidat für die Präsidentenwahl nominiert wurde, gefordert, bedürfe es der Wahrheit, der Würde und der Gerechtigkeit.
Putins Projekt der Eurasischen Union wird wohl auch im Westen genau studiert werden. Einer, der diese Hausaufgabe schon gemacht hat, kommt von einer überraschenden Seite: So berichtet «Ria Novosti» am 30. November, der Begründer des BRIC-Begriffes, Jim O’Neill, ehemaliger Chefvolkswirt der US-Investmentbank Goldman Sachs, habe in seinem neuen Buch «The Growth Map: Economic Opportunity in the BRICs and Beyond», prophezeit, Russland werde bis 2030 zur Wirtschafts  macht Nummer eins in Eu­ropa aufsteigen und der EU beitreten – falls Krisen und Konflikte vermieden werden. O’Neill wörtlich: «Wenn Russland sein ­Potential nutzt, wird dies interessante politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte für die EU und die Welt bedeuten. Für die EU wäre es ausgezeichnet, einen reicheren Nachbarn an der Grenze zu haben. Wenn dies keinen Konflikt auslöst, gibt es eine Chance auf den EU-Beitritt Russlands.»
Bleibt nur zu hoffen, dass die Landsleute von Jim O’Neill das Zusammenwachsen der Vaterländer in Eurasien ebenfalls als Chance für eine friedlichere Welt betrachten und nicht selber zu den von ihm erwähnten Krisen und Konflikten beitragen: 100 Jahre ist es nun nämlich her, dass Mackinder und in seinem Gefolge Zbigniew Brzezinski die Behauptung aufstellten, es müsse verhindert werden, dass die Länder Eurasiens sich vereinen, weil damit die Weltmacht Grossbritannien, zur Zeit Mackinders, und danach diejenige der USA gefährdet sei. Dass ein friedlich miteinander lebendes Europa und Russland ein Gewinn für die USA sein könnten, mag zwar besagten Geostrategen fremd erscheinen, den Menschen in Eurasien und den USA aber sicher nicht: die wünschen sich nämlich alle, mit wenigen Ausnahmen von Grössenwahnsinnigen, Machtbesessenen oder Auserwähltheitsfanatikern, für sich und ihre Angehörigen ein Leben in Frieden und Würde.    •

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