Das Schwinden aufhalten, dem Leben Raum geben

Das Schwinden aufhalten, dem Leben Raum geben

Die Mühen der Landgewinnung in den Cevennen

«Noch ein paar Schritte und Sie stossen auf weitere steinerne Lineale. Auf Häuser, die zum Himmel offen sind, deren Dächer aus Gärten, Wiesen oder Bäumen bestehen. Bis zu drei Meter hohe Mauern, die sich endlos entlang der Windungen des Reliefs hinziehen. Eine Mauer über der anderen, wie eine riesige Treppe im Berghang.
So als habe irgendein despotischer Architekt es unternommen, die Landschaft in eine Stadt aus Mauern zu verwandeln.
Eine cévenolische Mauer.
Die Terrassen.
Weniger aufsehenerregend, weniger genial wie auf Bali oder in den Anden, das ist wahr, aber sie zeugen von derselben menschlichen Erfahrung. Dieselbe Schönheit ersonnen und gepflegt von Bauern, Maurern, Künstlern. Ein Haiku (japanische Gedichtform) aus Steinen. Man muss hierherkommen und sie bewundern wie eine Tropfsteinhöhle, eine mittelalterliche Kirche, ein Loire-Schloss. Stolz und Genius, die menschliche Antriebskraft, finden sich hier uneingeschränkt. Bearbeiten von Hang und Stein. Das Prinzip dahinter? Das Schwinden, Aufhalten, dem Leben Raum geben. Sie möchten einen Hang ersteigen? Die Serpentine wird Ihnen sicher helfen, nicht die Abkürzung. Die Treppe gibt einem einen gleichmässigen Rhythmus vor. Sie entscheiden sich, hier zu leben, Bäume zu pflanzen und ihre Früchte zu ernten, ihre Renekloden, Nüsse oder Kastanien, ohne dass diese Hänge hinabrollen? Sie möchten einen Garten anlegen, Roggen oder Weizen einbringen, Klee und Öhmd mähen? Dazu muss das Erdreich tief genug sein. Damit das Wasser einsickern und es tränken kann, anstatt abzufliessen und alles mit sich fortzureissen. Damit das Wasser genügend Zeit hat, sich mit der Asche und dem Mist zu vermengen, die Sie ausgebracht haben. Man muss die Erde befestigen, aufschütten, einebnen, damit Menschen, Tiere und Werkzeuge sie leichter bearbeiten können. Das Verfahren ist uralt und einfach: Unten errichtet man eine Mauer. Es genügt, die Steine aufzulesen, die überall herumliegen. Oben gräbt man die Erde ab und schüttet sie gegen die Mauer, um Stück für Stück den Zwischenraum aufzufüllen, und was schief ist, waagrecht zu machen. An der Stelle, an der die Erde abgetragen wurde, legt man das Fundament für die nächste Mauer, um diese ihrerseits hochzuziehen. Und so weiter. Von unten nach oben. Jahrhundertelang. Wenn ein Platzregen alles fortgeschwemmt hat, schafft man die Steine und die Erde wieder nach oben, die einen mit den Händen, die andere mit der Schaufel oder mit dem Korb. Einige Stunden lang trägt man so sein Land mit vollen Händen gegen den Bauch gepresst. Das sagt etwas aus über die Beziehung, die Sie bindet. Sie spüren sie im Kreuz. Später wird es die Erde sein, die Sie trägt. Auf ewig.
Und welche Namen trägt dieses Gebilde, das aus den Cevennen stellenweise ein Kunstwerk aus Steinen schuf? Im Französischen spricht man von «terrasses». Das trifft es nicht ganz: Man muss dem Stein mehr Bedeutung zumessen. Das Okzitanische macht es besser. Hier spricht man von Bancels, von Bänken … oder besser noch von Faisses («ai» ist auszusprechen wie bei «faillir»). Dasselbe Wort wie «faisceau» (Bündel, Garbe). Es bezeichnet das Geflecht, das Flechten, das Flechtwerk aus Steinen. Der Schiefer, der wie ein Weidenkorb oder wie ein Parkettboden zusammengefügt wird. Der den Berghang in ein Amphitheater verwandelt.
Stellenweise stützen Schwindel erregend hohe Mauern einen Streifen aus Erde, der nicht breiter als zwei oder drei Meter ist. Garten oder Wiese bedecken die ganze Fläche, der schmale Pfad, den die Männer oder die Frauen einschlagen, hält sich mal am Rande des Abgrunds, mal am Berg. Fast überall fliesst das Wasser, das aus den Bächen kommt durch Kanäle, die in die Erde gegraben sind oder von Mauern getragen werden. Man nennt sie Béals. Sie münden in offene Zisternen, den Gourgues, von dort wird das Wasser weiter verteilt. Welch eine Mühe, all diese Anlagen aus Stein und Wasser um einen Weiler oder an einem Hang, nur um ein Stück Nutzfläche zu gewinnen, für das in der Ebene schon ein einziges Feld gereicht hätte.»

Aus: Patrick Cabanel. Die Cévennen. Ein Garten Israels. Moers 2011. (S. 44–47)
ISBN 978-3-929351-35-4.   
   

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