«Zwischen Hunden und Wölfen»

«Zwischen Hunden und Wölfen»

von Anne-Marie Brisebarre

Die Bibel erzählt, dass Abel, der jüngste Sohn Adams, Schäfer war und eines seiner Schafe dem Schöpfer als Opfergabe schenkte. Die muslimische Tradition präzisiert, er habe sein Lieblingslamm, das ihm überallhin folgte, ausgewählt. Die Figur des Hirten, der seinen Tieren, die er aufzieht, sehr nahesteht und die den Menschen Nahrung und Kleidung liefern, findet man in zahlreichen Kulturen; sie prägt die Religionen, die Literatur und die Kunst.
Der Schäfer (le berger) ist derjenige, der die Wolltiere «erzieht». Doch die Bezeichnung (le berger) wurde früher für alle, die für das Hüten von Tieren zuständig waren, verwendet, selbst wenn es spezielle Bezeichnungen gibt, je nachdem ob er Kühe (le vacher) oder Rinder (le bouvier), Ziegen (le chevrier) oder Schweine (le porcher) hütete. Eine spezielle Bezeichnung für denjenigen, der sich um Pferde kümmert, scheint es nicht zu geben. Vielleicht, weil dieses Tier mit speziellem Status, ohne einer Herde anzugehören, zahlreiche verschiedene Funktionen hatte – Reitpferd, Zugpferd, Arbeitspferd, Rennpferd, heute Freizeitpferd.
Vom Dorfhirten, der einige Schafe und Ziegen hütet, bis zum Grossherdenhirten, der eine ganze Menge an Wolle auf Wanderschaft führt, von der Grossmutter, die drei Kühe am Wegrand weiden lässt, bis zum Hirten, der alle Rinder des Dorfes sammelt, um sie auf die Alp zu führen, keiner von ihnen hat dasselbe Leben, dieselben Kompetenzen und Verantwortlichkeiten wie der andere. In der Hierarchie der Hirten gehören die Wanderschäfer und die Nomaden zum Adel des Berufsstandes. Es sind Spezialisten, was die Beziehung zu den Tieren angeht. Die Wanderschäfer leben Tag und Nacht mit ihren Tieren und müssen gegen die Launen des Wetters und die Gefahren der Natur ankämpfen. Aber sie verstehen es auch, aus der sie umgebenden Pflanzenwelt Nutzen zu ziehen. Die Herden, die sie aufziehen, durchwandern einen Raum, den die Sesshaften als wild und unwirtlich erachten, und machen ihn nutzbar. Sie kennen jeden Zentimeter, können jedes Tier, selbst das scheueste, benennen, und kennen vor allem auch die Pflanzen, von denen sich ihre Tiere ernähren, die für sie schädlich sein können, aber auch die Heilpflanzen, die sie kurieren.
Unter den Wanderschäfern gibt es solche, denen die Herden gehören. Andere besitzen keine Tiere oder nur wenige und sind von den Eigentümern angestellt. Die Züchter, deren Tiere sie auf Wanderschaft führen, sind oft gleichzeitig Landwirte. Die Unternehmer der Wanderschäferei, auch Schäfermeister genannt, widmen ihre ganze Zeit und Energie ihrer Herde. Sie nehmen während der Erntezeit die Tiere der kleinen Züchter und Landwirte in Pension. In den Cevennen, wo ich über lange Zeit den Schäfern auf ihrer Wanderung von Ort zu Ort gefolgt bin, nennen sich all diejenigen, die Schafe haben, Schäfer (bergers), ob sie nun ein Dutzend oder mehrere hundert Tiere führen. Und wenn sie in Pension gehen, hüten sie einige Tiere, um sich zu «beschäftigen» und damit weiter der Gemeinschaft der Hirten anzugehören.
Die Hirten, deren Geschichte ich hier erzählen werde, sind gleichzeitig von gestern und von heute, zeitlos und modern. Uns, die wir Städter sind und den tief in uns verankerten Wunsch zu reisen hegen, verführen sie durch ihre offensichtliche Freiheit und ein aussergewöhnliches Leben in einer vereinheitlichten Welt.
Doch die Funktion dieser Schäfer verändert sich. Während sie früher wirtschaftliche Akteure, Lieferanten für Wolle, Milch und Fleisch waren, sind sie zunehmend an den Rand gedrängt worden und finden immer schwieriger ihren Platz in unserer Industriegesellschaft. Gleichzeitig wird ihnen eine neue ökologische Rolle als «Landschaftsgärtner» zugeschrieben. Schon seit eh und je hatte die Wanderschäferei auf die Berglandschaft einen Einfluss, indem sie in gewissem Sinn die Natur formte. In Zeiten, in denen die Herden zu zahlreich waren, führte das Abweiden zu Erosion. Das ist nicht mehr der Fall. Zahlreiche Alpweiden sind heute in National- oder Regionalpärke integriert und zeichnen sich durch eine Artenvielfalt aus, die auf den Durchzug der von ihrem Hirten geführten Tiere zurückzuführen ist. Dieser Pflanzenreichtum würde verschwinden, wenn die Alpsömmerung aufgegeben und die Weiden zu anderer Verwendung bestimmt würden.
Diese offene Landschaft zieht heute andere Wanderherden an, diejenigen der Wander- und Naturfreunde. Wird die Freizeitkultur, die vor einigen Dekaden die Tätigkeit der Hirten zu konkurrenzieren und in den Bergregionen am Mittelmeer zunehmend Fuss zu fassen schien, sich die komplexe und unersetzbare Rolle der Hirten bewusst machen und helfen, eine mehrtausendjährige Hirtenkultur zu erhalten?

Zwischen Hunden und Wölfen

Während Jahrhunderten war der Wolf der schlimmste Feind der Schäfer, und vor allem seiner Schafe. Im Verlaufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts glaubte man, diese Tierart sei aus Frankreich verschwunden – ausgerottet nach jahrzehntelangen Anstrengungen der Wolfsjäger und Bauern – und ihre letzten Vertreter seien zu Tieren für Zoos oder Touristenpärke geworden. Der Wolf lebte nur noch in den Kinderbüchern und den Erzählungen alter Hirten, deren Väter oder Gross­väter ihre Schafe gegen dieses wilde Raubtier hatten verteidigen müssen.
Mitte der 90er Jahre musste man sich eingestehen, dass der Wolf – selbständig oder mit tatkräftiger menschlicher Hilfe? – in die Alpen zurückgekehrt war und in den Nationalpärken Schutz und Verteidiger fand, die ihn nicht als Angreifer, sondern als Opfer des Menschen sahen, ein lebendiges Erbe, das es im Namen der Biodiversität zu erhalten galt.
Der Wolf wurde 1993 zur geschützten Art erklärt. Auf den Weiden, vor allem in den Bergen, müssen Schäfer, die erneut Wolfsattacken erleiden und nicht mehr das Recht haben, ihre Herden mit den gleichen Waffen zu verteidigen wie ihre Vorfahren, auf Schutzhunde zurückgreifen, insbesondere auf die «Patous», die grossen, weissen ­Pyrenäen-Hunde.

Feinde von gestern und heute

Seit sehr langer Zeit ist eine Schafherde auf der Alpweide eine speziell anziehende Speisekammer für die wilden Tiere, die diese weiten Flächen unsicher machen. Wölfe, Luchse, Bären, aber auch Füchse haben schon immer ihren Tribut an Schafen und Lämmern erhoben. Um sich bei der Wanderviehwirtschaft (Transhumanz) gegen diese Raubtiere wehren zu können, gruppierten die Hirten ihre wandernden Herden eng zusammen, um sie besser überwachen zu können. Bei den Etappenhalten zündeten sie rund um die Ruhelager Feuer an, wobei gewisse Lagerstätten mit einem Zaun aus stacheligen Ästen geschützt wurden, um die Angriffe der Raubtiere zu bremsen. Oft liessen sie auch Schutzhunde los, die die Angreifer in die Flucht schlugen.
Diese grossen Wachhunde trugen Halsbänder, die sie schützten, wenn ein Wolf ihnen an die Gurgel sprang. Die ältesten dieser Halsbänder, die von Schmieden hergestellt wurden, waren aus geschmiedeten, beweglichen Eisenteilen hergestellt und mit Spitzen bewehrt. Damit der Hund sich nicht verletzen konnte, schob der Hirte ein Stück Schaffell zwischen das Halsband und den Hals des Tieres. In der Folge wurden diese sehr schweren Bänder durch andere ersetzt, die mit zwei Schichten dickem Leder oder Holz hergestellt wurden und mit langen, spitzen Nägeln bewehrt waren, deren Spitzen nach aussen zeigten. Weitere Möglichkeiten, sich gegen die wilden Tiere zu wehren, waren, sie mit Fallen zu fangen, deren Backen die Pfoten der Tiere umschlossen, oder sie in tiefe Gruben stürzen zu lassen.
Auch die grossen Raubvögel wurden verdächtigt, ihre Nahrung in den weidenden Schafherden zu suchen. Aber Bilder, die einen Adler mit einem ausgewachsenen Schaf in den Krallen zeigen, entsprechen mehr der Phantasie als der Realität, einzig junge Lämmer wären eine mögliche Beute. Dieser Aberglaube war zum Teil dafür verantwortlich, dass der Gänsegeier ausgerottet wurde. Um ihn wieder in die Schluchten der Jonte einführen zu können, haben die Wächter des Nationalparks der Cevennen eine Informationskampagne über das Fressverhalten dieses Aasgeiers führen müssen, der die Weiden von verstorbenen Tieren säubert. Auch der Schlangenadler, der ein grosser Vipernvertilger auf den Alpweiden ist, ist dadurch ein Beschützer der Schafe und nicht eine Gefahr. Im Gegensatz dazu können grosse Raben, Krähen oder Elstern in den Herden Schäden anrichten, da sie mit ihren Schnäbeln die Augen oder die Vulva der liegenden Schafe angreifen, speziell bei solchen, die frisch geboren haben, und sie greifen auch die Junglämmer an.
Füchse vergreifen sich auch am ehesten an frischgeborenen Lämmern, angezogen durch den Geruch des Blutes und der Nachgeburt, wenn die Schafe auf der Weide gebären. Da die Geburten oft nachts stattfinden, ist der Hirte auch heute noch gezwungen, neben seinen Schafen zu schlafen oder auf einen Patou oder Esel zurückzugreifen.

Die Rückkehr von Wolf, Luchs und Bär

Angesichts der geschützten Grossraubtiere – von denen vermutlich einige wieder eingeführt wurden – fühlen sich die Züchter bei ihrer Arbeit nicht ernst genommen und von einer zunehmend urbanen Gesellschaft, die sich ideologisch als naturnah bezeichnet, miss­achtet: Gemäss einer Umfrage möchten 80% der Franzosen, dass der Wolf geschützt wird. Der Film «Der mit dem Wolf tanzt» hat zweifellos zur Rehabilitation dieses Schreckens der französischen Landschaften aus früheren Zeiten beigetragen. Es ist jedoch der Schäfer, der während langer Monate in den Bergen lebt und dessen Arbeit durch die Anwesenheit des Wolfs und der anderen Raubtiere, die sich von seiner Herde ernähren, mehr und mehr erschwert wird.
Wenn auch der Wolf im Mercantour, in der Vanoise, dem Vercors, dem Dauphiné, in Savoyen und sogar in den Pyrenäen selbständig aus den italienischen Abruzzen, wo er sich immer halten konnte, wieder eingewandert zu sein scheint, so wurde der Luchs in Regionen, in denen er seit sehr langer Zeit ausgestorben war, wieder eingeführt. Das mediatisierte Aussetzen von einzelnen Bären in den Pyrenäen, um die auf einige wenige Individuen reduzierte einheimische Population wieder zu stärken, hat einen veritablen Krieg zwischen Befürwortern und Gegnern des Bären ausgelöst. Diese Tiere, die aus Slowenien eingeführt wurden und zuvor nicht in den Bergen lebten, scheinen ein grösseres Wanderbedürfnis zu haben als die einheimischen Bären, und sie nähern sich Wohngebieten mehr an, um Bienenstöcke auszurauben und Schafen den Bauch aufzuschlitzen.
Die Verteidiger des Wolfs werfen den Schäfern vor, ihre Herden auf den Alpweiden nicht zu bewachen und sich damit zu begnügen, sie von Zeit zu Zeit zu besuchen. Als schlechten Hirten geschehe es ihnen recht, dass der Wolf ab und zu einige Schafe töte. Ein Teil der Herden sömmern einige Marschstunden von ihrem Stall entfernt auf der Alp und werden seit Jahrzehnten vom Tal her mit Feldstechern von den Züchtern, die mit der Heuernte für die Fütterung der Tiere im Winter beschäftigt sind, überwacht. Die Mehrheit der wandernden Schafherden wird jedoch ständig bewacht, was Angriffe durch den Wolf nicht verhindert. Ein oder zwei Hirten können beim besten Willen nicht alle Tiere einer Herde von 1500 Schafen auf grossflächigen Weiden überwachen.
Der persönliche Bericht eines Züchters aus der Camargue, der im Belledonne-Massiv im Département Isère den Sommer verbringt, ist sehr aufschlussreich: Vor ihm haben sein Grossvater und sein Vater auf dieser Alp ihre Herde ohne Probleme gehalten. Bis im Sommer 1998, als jeden Tag und jede Nacht seine Schafherde von Wölfen angegriffen wurde. Während der 100 Tage, die sein Alpaufenthalt dauerte, blieb er immer bei seiner Herde. Nachts verliess er sogar seine Hütte, um in der Nähe der Tiere schlafen zu können, bei Regen und in der letzten Woche auch bei Schneefall. Trotz dieser Überwachung verlor er 101 Schafe und seine 4 Schafböcke und musste selber die Leiden einiger seiner sterbenden Tiere abkürzen. Die restlichen Tiere der Herde nahmen auf Grund des Stresses kaum zu. Da diese Angriffe offiziell anerkannt wurden, sprach ihm das Umweltministerium eine Entschädigung von 500 Francs (ungefähr 75 Euro) pro Tier zu. Aber Geld kann den Verlust der Schafe, die er für die Zucht ausgewählt hatte und die er alle einzeln kannte, sowie die zunehmende Last des Berufes als Züchter und Hirte niemals aufwiegen.

Streunende Hunde

Vor der Rückkehr des Wolfs und sogar seit Ende des 19. Jahrhunderts – also vor seiner Ausrottung – wurde der Hirte mit einem anderen Raubtier konfrontiert, dem streunenden Hund, dem Freund des Menschen, der unter gewissen Umständen zum Feind der Herde werden kann. Heute noch töten streunende Hunde direkt oder indirekt viel mehr Schafe als die Wölfe. Verlassene, verwilderte Hunde greifen Herden an, um sich zu ernähren. Manchmal handelt es sich auch um Dorfhunde, die ausreissen und während der Nacht herumstreunen und Schafe terrorisieren, um morgens wieder zu ihrer Hütte und zum Futternapf zurückzukehren. Die Schäfer beschuldigen auch Stadthunde, welche die Touristen und Wanderer frei laufen lassen, um ihnen «schöne Ferien» zu gönnen. Sie können dann spielerisch den Tieren nachrennen und sind verantwortlich für Fehlgeburten trächtiger Tiere, Verletzungen und Abstürze von einem Teil oder der Gesamtheit einer Herde über Felswände.
So wie es dem Hirten verboten ist, auf Grund ihres Schutzstatus Wölfe, Luchse und Bären zu töten, so ist es ihm verboten, Selbstjustiz zu üben gegenüber einem Hund, der seine Schafe verfolgt, sogar wenn einige verletzt oder getötet werden. Er muss den Angreifer erwischen und identifizieren, damit er auf seinen Besitzer zurückgreifen kann, um diesen Angriffen ein Ende zu setzen und eine Entschädigung zu erhalten. Wenn es sich aber wirklich um einen streunenden Hund handelt, ein ursprüngliches Haustier, verwildert und ohne Meister und er somit keinen Ansprechpartner hat, dann wird er versucht sein, das Problem selber zu lösen, und zwar endgültig!
Nach Angriffen auf Herden in den Bergen scheint es manchmal schwierig zu sein, an den Kadavern festzustellen, ob es sich um streunende Hunde oder Wölfe gehandelt hat. Im Juli 2002, als 406 Schafe von einer Herde von 1100 Tieren im Nationalpark Mercantour auf dem Grund einer Schlucht gefunden wurden, entbrannte eine Polemik zwischen den von der Departementsdirektion für Landwirtschaft unterstützen Züchtern einerseits und den Verteidigern des Wolfs andererseits. Sechs Kadaver zeigten tiefe Bisswunden. Da eine Wolfsmeute zuvor in diesem Teil des Parks gesehen worden war, war für die einen offensichtlich, dass der Wolf für die Panikreaktion der Herde, die den Absturz bewirkt hatte, verantwortlich war. Nach Meinung der Natur- und Tierschutzorganisationen «France Nature Environnement» (FNE) und «Association pour la protection des animaux sauvages» (Aspas) kam den Züchtern in Geldnöten der Wolf als Sündenbock gerade recht, obwohl es auch streunende Hunde gewesen sein konnten. Der offizielle Bericht jedoch bestätigte die Verantwortung des Wolfs und forderte die Entschädigung des Züchters.

Die Schutzhunde (Patous)

Unabhängig davon, ob nun die Angriffe den Wölfen oder den streunenden Hunden angelastet werden, ist eine der Lösungen zur Verteidigung der Herden der Einsatz von Schutzhunden, was seit einigen Jahrzehnten als überholt erschien. 1982, vor dem Wiederauftauchen des Wolfs, schlug das «Institut technique ovin et caprin» (ITOVIC) [Technisches Institut für Schafe und Ziegen] Züchtern aus dem Departement Lozère vor, zu Versuchszwecken Pyrenäen-Schutzhunde (Patous) zum Schutz der Schafe gegen streunende Hunde einzusetzen. Seit dieser Zeit haben sich die Schutzhunde in dieser bergigen Weidegegend vermehrt, 80% davon sind Patous. Es gibt über 10 verschiedene Rassen von grossen Wachhunden, die diese Aufgabe übernehmen können, selektioniert von europäischen und asiatischen Schafhirten.
Um ein guter Schutzhund zu werden, muss ein Patou von klein auf mitten in der Herde aufwachsen. Mit zwei Monaten wird er von seiner Mutter und seinen Geschwistern getrennt und im Schafstall mit den Lämmern gehalten. Es wird sogar behauptet, dass er am besten im Schafstall geboren werden sollte, damit die Schafe das erste sind, was er sieht, so dass er sich mit ihnen identifiziert und ein echtes Mitglied der Herde wird. Im Gegensatz zum Hirtenhund darf er nicht auf den Hirten ausgerichtet sein, sondern auf die Schafe, damit diese sich in seiner Gegenwart sicher fühlen.
Auf der Weide mischt sich der Patou unter die Schafe: Er hat deren Farbe und Geruch und scheint sogar ihr Verhalten anzunehmen. Aber bei der geringsten Gefahr erwacht der Wachhund in ihm, und er geht zum Angriff über, ohne dafür den Befehl des Schäfers zu brauchen: Er handelt selbständig, entfernt sich nicht und verteidigt die Schafe gegen alle Angreifer, indem er sich zwischen die Gefahr und die Herde plaziert. Es ist nicht seine Aufgabe, den Angreifer zu verfolgen, sondern ihn mit Bellen in die Flucht zu schlagen. In der Nacht ist er speziell wachsam. Ein Schutzhund hütet 500 Schafe und mehr, wenn der Weidegrund offen ist. In einem hügeligen und bewachsenen Terrain braucht es mindestens zwei Hunde, um nicht einen Teil der Herde ohne Schutz zu lassen.
Die Züchter der Region Midi-Pyrénées konnten neben finanzieller auch von technischer Unterstützung profitieren, um die Schutzhunde auszuwählen, zu erziehen und einzusetzen. An die lokale Tradition anknüpfend, haben sie sich sehr schnell wieder an die Schutzhunde gewöhnt, und 2006 zählte man bereits wieder 230 Patous auf den Sommerweiden. In den Alpen scheint die Akzeptanz des Schutzhundes schwieriger gewesen zu sein, denn die Hirten wussten nicht mit diesen sehr speziellen Gehilfen umzugehen. Ende 2006 wurde ein nationales Programm «Herdenschutzhunde» lanciert. Sein Ziel ist die Ausbildung der Züchter, aber auch die Kontrolle der genetischen Qualitäten der Welpen. Nicht alle Patous sind gute Schutzhunde: einige flüchten und verlassen die Herde, im Gegensatz dazu hindern andere sogar den Hirten daran, sich seinen Schafen zu nähern. Es wird von Hunden berichtet, die selbst zum Raubtier oder für Touristen gefährlich wurden, wenn der Schäfer nicht in der Nähe war und sie daran hindern konnte.

Patous und Wanderer

«Spaziergänger, Wanderer, Sie können auf ihrem Weg Schutzhunde antreffen. Dies sind grosse, weisse Hunde, die in den Schafherden Wache halten. Aus den Pyrenäen stammend, wo sie ‹Pastous› genannt werden (aus dem alten Französisch ‹pastre›, Hirte), haben sie den Hirten während langer Zeit geholfen, ihre Herden zu schützen. Sie sind fester Bestandteil des französischen Kultur­erbes der Schafhirten.» Diese Informationen werden den Touristen abgegeben, welche die Sommerweiden in den Pyrenäen durchqueren. Der Prospekt beschreibt den Patou und seine Aufgabe und rät dem Spaziergänger, bei der Begegnung mit einem Patou «Distanz zu wahren», «ruhig zu bleiben» und «seinen Hund an der Leine zu halten»; ist er mit dem Mountainbike unterwegs, empfiehlt man ihm vorsichtshalber abzusteigen.
Auf den Wanderwegen, welche die Weiden durchqueren, wurden auch grosse Tafeln installiert, um die Gegenwart der Patous anzuzeigen. Alle Personen und Tiere, die das Territorium der Herde betreten, können als Raubtier angesehen werden und den beeindruckenden Wächter und seine 80 Kilogramm auf sich zustürzen sehen. Man erzählt sich sogar, dass gewisse Hirten, die der Störungen bei ihrer Arbeit durch gedankenlose Wanderer überdrüssig sind, sich über deren Schrecken und überstürzte Flucht amüsieren.

Der Esel und das Hirten-Lama

Der Patou ist nicht der einzige Verteidiger der Schafherden. Auch wenn der Esel nicht mehr das Gepäck der Hirten auf der Wanderweidewirtschaft transportiert, hat er doch bewiesen, dass er sich als Beschützer der Schafe eignet, sofern er, wie der Patou, sehr früh mit den Schafen in Kontakt kommt. Mit ausgezeichnetem Seh- und Hörvermögen ausgestattet und mit einem gut entwickelten Geruchssinn, ist er von Natur aus gegenüber Hunden, Füchsen und Wölfen aggressiv und hat ihnen gegenüber eine angeborene Aversion. Als Teil der Herde verteidigt er die Schafe gegen diese Raubtiere durch Beissen und Ausschlagen, um sie in die Flucht zu treiben, und durch sein Wiehern alarmiert er den Hirten.
Viel erstaunlicher ist der Einsatz eines Lamas als Hüter einer Schafherde. Trotzdem wurde dieses Experiment im Vercors versucht und, so scheint es, mit Erfolg. In der Herde lebend, warnt das Lama durch seine Schreie den Hirten vor der Annäherung eines Raubtieres. Als «Leithammel» der Schafe führt es sie in Sicherheit. Mit seinen 200 kg Gewicht kann es den Angreifer in die Flucht schlagen. In den Vereinigten Staaten sollen sich diese Hirten-Lamas auch gegen Bären und Pumas bewähren.

Zusammenleben in der Weidewirtschaft?

Kann man die zwei bestehenden Lager miteinander versöhnen, von denen das eine den Erhalt des Wolfes und die Wiedereinführung des Bären fordert und das andere die Weidewirtschaft mit Schafen verteidigt? Die Mitglieder des ersten Lagers sind mehrheitlich Städter, die fern der Konfliktorte wohnen, während die Züchter und Schäfer in den Bergregionen Tag für Tag vom Überfall von Raubtieren auf ihre Herden bedroht sind. Dieser Stress aus vergangenen Zeiten kommt zu den Schwierigkeiten eines Berufs hinzu, in dem den Naturgewalten getrotzt und überlange Arbeitstage bewältigt werden müssen – und dies im Kontext der heutigen Spassgesellschaft.
Wollte man das Zusammenleben von Herden und Grossraubtieren fördern, wie dies gewisse Kreise beabsichtigen, müsste man noch ganz andere Schutzmassnahmen als die Patous einführen: Für die Aufsicht der Herden müssten weitere Hirten oder Hirtenhelfer eingestellt werden, für die Nacht bräuchte es Lagerplätze mit doppelten Zäunen, wobei der äussere elektrifiziert sein muss. Aber solch hohe Investitionen können von den Züchtern nicht aufgebracht werden. Wenn der Erhalt von Bär und Wolf vom Staat finanziell unterstützt wird, so verdient auch die extensive Weidewirtschaft in unseren Bergen Hilfe.
Denn ohne die Züchter mit ihren Schafherden würden die Berglandschaften sehr bald verganden: Der Wandel von Alpweiden zu Gestrüpp und Wald würde eine reiche und ursprüngliche Blumen- und Tierwelt zum Verschwinden bringen, die durch das Weiden der Herden erhalten wird. Die Berggebiete würden durch die Aufgabe der Schafzucht einen Teil ihrer Bewohner verlieren, aber auch einen Teil der Touristen und der Liebhaber des ländlichen Lebens und der einheimischen Produkte, die teilweise aus der Weidewirtschaft stammen.    •

Der Text und die Bilder sind Auszüge aus dem Bildband «Bergers et transhumance» (De Borée, 2007) von Anne-Marie Brisebarre
(Übersetzung Zeit-Fragen)

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