Die Wirtschaftskrise und ihre humanitäre Auswirkung auf Europa

Die Wirtschaftskrise und ihre humanitären Auswirkungen auf Europa

Was berichtet uns die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften?1

von Katrin Schulte-Holtey

Grosse Teile der Bevölkerung quer über den Kontinent leiden unter massiven Folgen der Wirtschaftskrise. Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften fungieren als sozioökonomisches Barometer, welches schneller reagiert als irgendwelche Statistiken. Eine zunehmende Zahl von Menschen, einschliesslich solcher, die normalerweise niemals daran denken würden, eine karitative Organisation um Hilfe zu ersuchen, wendet sich heute an die lokalen Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaften, um dort um Unterstützung bezüglich grundlegender, zum Leben notwendiger Güter zu bitten. Viele nationale Gesellschaften werden um Bargeld gebeten von Menschen, die Schulden abbezahlen oder Stromrechnungen begleichen müssen. Die  nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften kämpfen darum, dem Ruf nach vermehrter Hilfeleistung zu folgen in einer Zeit, in der ihre eigenen Ressourcen unter Druck geraten. Sie tun alles erdenklich Mögliche, um den Menschen in ihren Ländern in dieser neuen Situation zu helfen. Während Regierungen Billionen von Dollar aufwenden, um Banken und Finanzstrukturen zu retten, gibt es wenig Hinweise auf ein gleiches Engagement gegenüber der sozialen Krise.

Eine der Hauptfolgen des wirtschaftlichen Niedergangs ist der sinkende Beschäftigungsgrad. Die Krise hat Millionen von Menschen ihren Arbeitsplätzen verdrängt. Allein in der EU, so schätzt man, haben 21,8 Millionen Frauen und Männer ihre Arbeit verloren. Besonders gefährdet und verzweifelt ist die Jugend, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt findet. Von der Jugendarbeitslosigkeit waren 2010 20 Prozent der unter 25jährigen Europäer betroffen. Noch viel mehr Menschen haben ihre Arbeit in den angrenzenden Ländern und ausserhalb der EU verloren. Zählt man die Angehörigen der Arbeitslosen hinzu, kann man davon ausgehen, dass gegenwärtig etwa 50 Millionen Bürger allein in der EU infolge von Arbeitslosigkeit vulnerabel2 sind. Und diese Zahl trägt nicht einmal jenen Rechnung, die gar nicht nach Arbeit suchen. Die nationalen Gesellschaften orten die Arbeitslosigkeit als Hauptfaktor für Vulnerabilität, aber auch Lohnkürzungen, Reduktion der Arbeitszeit, der Verlust von Gelegenheitsarbeiten und die unilaterale Veränderung von Arbeitsverträgen sind Ursachen für die zunehmende Not. All dies führt zu einer nachlassenden Kaufkraft der Haushalte, was in einigen Ländern mit einer weitverbreiteten Verschuldung zusammentrifft. Diese Verschuldung ist häufig verbunden mit der Finanzierung der Wohnung. Viele Menschen haben mit Hilfe von Krediten Häuser und Autos gekauft und befürchten bei Verlust ihrer Arbeit, ihr Heim für ihre Familie zu verlieren, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen können. Auch die Verschuldung trägt zu einem Anwachsen der Vulnerabilität bei. Es wird deutlich, dass Europa seinen Bürgern mehr Hilfe leisten muss, um eine Situation zu verhindern, in der sich das soziale Elend etabliert.

Besonders Gefährdete

Praktisch alle Länder in der europäischen Zone sind von der Krise getroffen, zwei oder drei Länder spüren die Folgen in einer relativ milden Form, viele Länder jedoch leiden unter schwerwiegenden Konsequenzen: Mindestens 75 Prozent der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften sind Augenzeugen der signifikanten Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die verwundbarsten Menschen in ihren jeweiligen Ländern. Am meisten gefährdet sind spezifische Gruppierungen, die dem Risiko ausgesetzt sind, über längere Zeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden.
Laut einem Drittel der nationalen Gesellschaften ist eine besonders verwundbare  Gruppierung die der Kinder und jungen Menschen. Junge Menschen, die besonders grosse Schwierigkeiten haben, eine Arbeit zu finden, sind dem Risiko ausgesetzt, Menschenhändlern in die Hände zu fallen (v.a. im Osten) und in Drogen, Alkohol und Kriminalität verstrickt zu werden. 95% der nationalen Gesellschaften bezeichnen die Gruppe der Arbeitslosen als diejenige, die am meisten gefährdet ist. Gemäss einem Drittel sind vor allem Migranten und ihre Familien besonders betroffen: Migrant zu sein, ist ein Risikofaktor für Vulnerabilität, was mit dem Rückgang von Geldsendungen der Migranten in ihre Heimatländer und der Vulnerabilität der Migranten selber zusammenhängt, insbesondere derjenigen, die über keine Papiere verfügen und die bereits im Schatten der Gastgebergemeinden leben. Ein grosses Problem sind die geschwächten Arbeitsmärkte in den Gastländern, von denen die Migranten zunehmend verdrängt werden, aber auch ihre Rückkehr in ihre Heimatländer, in denen sie eine andauernde Arbeitslosigkeit erwartet. 30 Prozent der nationalen Gesellschaften sehen die älteren Menschen als besonders gefährdet an. Diese haben Kürzungen ihrer Pension zu befürchten, die Armen haben schmalere Margen zum Überleben, was zu sozialer Deprivation führt. Laut 20% der nationalen Rotkreuz-und Rothalbmondgesellschaften sind die Flüchtlinge und Asylsuchenden gefährdet, und über 60% sehen die bereits bestehenden Vulnerabilitäten sich unter der Krise verschärfen. Menschen, die bereits arm, schwach oder marginalisiert sind, werden von der Krise überproportional getroffen. Familien und Alleinerziehende sind mit speziell schwierigen Umständen konfrontiert. In der EU sind Gelegenheitsarbeiten immer weniger verfügbar, was die Schwächsten der Gesellschaft ihres Einkommens beraubt. Angehörige von Minderheiten, bereits marginalisiert und oftmals ärmer als der Durchschnitt, sind häufig in besonderer Not. Auch Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen oder die von einem regelmässigen Zugang zur Gesundheitspflege abhängig sind, gehören dazu. Eine nationale Gesellschaft erkannte in der Mittelschicht, möglicherweise auf Grund des Schuldenproblems, eine verwundbare Gruppierung innerhalb der EU, und sieht darin das Risiko, dass eine soziale Schicht innerhalb der Gesellschaft abnimmt.

Nahrungsmittelhilfe

Besonders frappierend ist die Tatsache, dass mehr als zwei Drittel der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften Nahrungsmittelhilfe in ihr Programm aufgenommen haben, mit der sie versuchen, der Krise zu begegnen. Selbst in einem der Länder, in der das Pro-Kopf-Einkommen zu den zehn höchsten der Welt zählt, ist man dabei, Nahrungsmittelhilfe-Programme in Betracht zu ziehen. Länder, die zu den reichsten der Welt gehören, sind unter denen zu finden, die schwerwiegende Auswirkungen der Krise zu spüren bekommen. Besonders schwierig ist die Situation in Teilen Osteuropas, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der EU-Länder, in denen die Menschen weniger Abfederungsmöglichkeiten in Form von Ersparnissen und Vermögen haben und in denen die Sicherheitsnetze oft schwächer sind.

Psychosoziale Folgen und Abbau der Gesundheitsdienste

Die grosse Mehrheit der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften berichtet aus ihren Ländern, dass eine steigende Erwerbslosigkeit und ein Niedergang der Kaufkraft zusammentreffen mit den daraus folgenden psychosozialen Nöten. Die Menschen verspüren eine wachsende Unsicherheit auf Grund des Mangels an finanzieller Sicherheit und der Erwartung bevorstehender schwieriger Zeiten. Dies trägt dazu bei, dass mehr und mehr Probleme mit ihrer psychisch-geistigen Gesundheit bekommen. Alkoholmissbrauch und andere Gesundheitsprobleme, soziale Isolation und Stress nehmen zu, und dies inmitten einer Situation der abnehmenden Kontingentierung von Regierungen im Bereich des Gesundheitswesens und anderer sozialer Netzwerke. Der Abbau der Gesundheitsdienste in einigen Ländern und die schrumpfenden Ressourcen auf der Haushaltsebene sind Teil davon, dass das Wohlergehen der Menschen erodiert. Fehlende  Investitionen im Sozialwesen bergen das Risiko, dass sich Armut und Angst ausbreiten und verfestigen.

Etablierung der Armut

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die sozialen Schichten, ethnischen Gruppierungen und verschiedenen Regionen sind ungleich verteilt. Bereits bestehende Vulnerabilitäten, verbunden mit Armut, Alter, Ethnie und Migrantentum verschärfen die Auswirkungen. Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften befürchten, dass sich die neuen Vulnerabilitäten wie Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Marginalisierung, wenn sie negiert und vernachlässigt werden, verhärten und zu einer dauerhaften sozialen Benachteiligung der betroffenen Menschen führen, und dass die sozialen Errungenschaften aus der Zeit des Wachstums verloren gehen. Die Gefahr besteht, dass Vulnerabilitäten sich in den sozioökonomischen Strukturen einzelner Länder und Regionen etablieren und den sozialen Zusammenhalt der Schichten und ethnischen Gruppierungen der Gesellschaften quer durch Europa gefährden, sofern nicht spezifische Massnahmen ergriffen werden, um ein Minimum an Würde für die Menschen zu wahren.

Die einzelnen Länder und ihre Situation: gefährdete Gruppierungen

Südosteuropa – Hinterlassenschaft konfliktreicher Jahre
Während eine der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften Südosteuropas die ganze Gesellschaft als verwundbar bezeichnet, ist der bei allen gemeinsam vorherrschende Eindruck, dass die Arbeitslosigkeit und der damit einhergehende Rückgang des Einkommens der dominierende Faktor ist. Eine andere nationale Gesellschaft schätzt, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung einer Form der Unterstützung bedarf, um wenigstens ein Minimum an Würde der Menschen wahren zu können.
Die unmittelbaren Konsequenzen des Rückgangs der Geldsendungen von Migranten, die im Ausland arbeiten, und die Rückkehr der Migranten in ihre Heimatländer gefährden die betroffenen Familien. Ältere Menschen, die bereits pensioniert sind, kristallisieren sich als Gruppe mit wachsenden Bedürfnissen heraus. Die Zahl der Bedürftigen, die Hilfe bei der Versorgung zu Hause benötigen, die auf Suppenküchen angewiesen sind, steigt, während die nationalen Gesellschaften befürchten, mit den wachsenden Anforderungen nicht Schritt halten zu können.
Die Hinterlassenschaften der vielen konfliktreichen Jahre und die Instabilität der Region setzt eine grosse Zahl von Flüchtlingen und intern Vertriebenen der Vulnerabilität aus, die sich durch die Wirtschaftskrise noch verschärft. Die nationalen Gesellschaften in Südosteuropa berichten von rapid ansteigenden Preisen für grundlegende Bedarfsgüter, von steigender Arbeitslosigkeit und den Schwierigkeiten der Menschen, ein regelmässiges Einkommen zu erhalten bzw. überhaupt zu finden. Diese Faktoren erschweren es noch, den  Herausforderungen zu begegnen, die mit der hohen Zahl von vulnerablen Menschen verbunden sind.

Ungarn – Nahrungsmittelhilfe und Bargeld
Das Ungarische Rote Kreuz verteilt grosse Mengen von Nahrungsmitteln, um der wachsenden Nachfrage nach Lebensmittelhilfe nachzukommen. Mehr und mehr Menschen bitten um finanzielle Unterstützung bei der Begleichung ihrer Schulden und Stromrechnungen.3

Schweden und Finnland – rapide steigende Jugendarbeitslosigkeit
Schweden war immer bekannt für seinen hohen Beschäftigungsgrad unter der Jugend und gehörte innerhalb der EU zu denjenigen Ländern, deren Sozialpolitik vorbildlich war. Doch stieg die Jungendarbeitslosenrate im Jahr 2009 auf 9,6 Prozent, womit Schweden das Land mit der zweithöchsten Jugendarbeitslosigkeitsquote der EU ist. Innerhalb der nordischen Länder scheint Schweden kein Einzelfall zu sein: Von Erwerbslosigkeit sind junge Menschen in Finnland überproportional getroffen: Innerhalb eines Jahres sprang dort die Jugendarbeitslosigkeit von 16,5 auf 22,6 Prozent. Um Beratung für Langzeitarbeitslose in den Bereichen Gesundheit, Sozialhilfe und allgemeinen Wohlfahrt anbieten zu können, wurden 44 Gesundheits- und Wohlfahrtszentren aufgebaut.
Etwas scheint sich bezüglich der Möglichkeiten der nordischen Wohlfahrtsstaaten, für ihre junge Generation Arbeitsplätze zu schaffen, geändert zu haben. Auch die vermeintlich «unberührbaren» nordeuropäischen Länder sind in die Folgen der Rezession hineingerissen worden.

Island – ganzes Land Opfer der globalen Wirtschaftskrise
Im Jahr 2008 begann die Arbeitslosigkeit anzusteigen, und das ganze Land wurde Opfer der globalen Wirtschaftskrise. Demonstrationen und soziale Unruhen waren die Folge. Jeder gewöhnliche Haushalt war betroffen und Menschen, die nie zuvor etwas mit der nationalen Rotkreuzgesellschaft zu tun hatten, baten um Hilfe. Als Reaktion darauf schnellte die Zahl der vom Roten Kreuz eingerichteten psychosozialen Programme in die Höhe, eine 24-Stunden-Hotline wurde eingerichtet. Nahrungsmittelhilfe und Unterstützung in Form von Kleidern wurden nötig. Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften von Norwegen, Schweden und Finnland unterstützten das Isländische Rote Kreuz darin, seinen Verpflichtungen nachkommen zu können.

Italien – neue urbane Armut
Das Italienische Rote Kreuz bekommt besorniserregende Signale von seinen lokalen Anlaufstellen, vor allem derjenigen aus den grossen Städten, wegen der zunehmenden urbanen Armut und dem wachsenden Bedürfnis nach Nahrungsmittelhilfe.4

Spanien – soziale Abwärtsspirale mit ungewissem Ausgang
In Spanien wurden vor allem zwei Gruppierungen von Hilfsbedürftigen identifiziert: Die eine ist diejenige der Menschen, die herkömmlicherweise, auch in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums, von sozialen Organisationen erfasst wird. Die andere ist eine neue Gruppe, die nun einer sozialen Abwärtsspirale mit einem ungewissen ökonomischen Ausgang gegenübersteht. Alarmierend ist die Arbeitslosenrate, die sich entsprechend der Wirtschaftskrise im August 2009 auf einem Niveau von 18,9 Prozent bewegte: Betroffen sind vor allem Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, Langzeitarbeitslose, Menschen, die nie Teil des Arbeitsmarktes waren, Menschen mit besonderen Arbeitsbedingungen, Familien, in denen die meisten Mitglieder ihre Arbeit verloren haben, behinderte Menschen, Allein­erziehende, hier vor allem die Frauen, Schulabgänger ohne Abschluss, Immigranten, v.a. die Papierlosen, ältere Menschen mit den von ihnen abhängigen Anverwandten und Kinder von Familien, die in sehr vulnerablen sozialen Umständen leben. Die Jugendarbeitslosigkeit betrug Anfang letzten Jahres 40,7 Prozent.5

Zentralasien – Rückkehr von Migranten belastet Familien und Gemeinden
In Zentralasien sehen sich die nationalen Gesellschaften nicht nur einer steigenden Anzahl von Hilfsbedürftigen gegenüber, die wegen grundlegender täglicher Bedürfnisse Hilfe bei ihnen suchen, sondern auch den bereits bekannten Unterstützungsempfängern wie Tuberkulosepatienten, älteren Menschen oder Opfern von Naturkatastrophen, die verwundbarer werden bei einem abnehmenden Einkommen der nationalen Gesellschaften. Eine wachsende Anzahl von Migranten kehrt zurück und findet keine Arbeit, was die Zahl der Gefährdeten anschwellen und die Last auf Familien und Gemeinden zunehmen lässt.

Lettland – wachsende Bedürfnisse des Volkes
Die Wirtschaftstätigkeit in Lettland verharrt weit unter demjenigen Niveau, das vor der Wirtschaftskrise bestand. Ende August 2009 hatte der lettische Staat 1,11 Milliarden  Lettische Lats von den 2,08 Milliarden erhaltener internationaler Finanzhilfe aufgezehrt. Die Kredite werden benötigt, um die Schulden und das Budgetdefizit der Regierung zu begleichen und die Stabilität im Finanzsektor zu fördern, während das Gesundheitssystem und das Sozialwesen kaum noch in der Lage sind, den wachsenden Bedürfnissen des lettischen Volkes nachzukommen. Lettland hatte im 4. Quartal von 2009 eine Jugendarbeitslosigkeitsquote von 41,3 Prozent. Das Rote Kreuz versucht zu helfen, Kleider zu liefern und den Familien Nahrungsmittelhilfe zu leisten.

Die Situation der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften

Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften ringen darum, den wachsenden Bedarf zu decken, und die Not der Menschen zu mildern und nicht nur trotz, sondern auch wegen der immer knapper werdenden ­finanziellen Mittel neue Ansätze entsprechend der neuen Situation zu entwickeln und umzusetzen. Manche bauen ihr Angebot an psychosozialen Unterstützungsprogrammen aus, die ursprünglich für Opfer von Katastrophen entwickelt worden waren. Jetzt werden diese auf jene Menschen ausgeweitet, die von der wirtschaftlichen Krise getroffen sind. Solche Unterstützungsprogramme, inkl. Beratungsdienste, sind laut den nationalen Gesellschaften ein Entwicklungsbedürfnis, auch wenn in der Mehrheit der Fälle die nationalen Gesellschaften in Europa auf ihre bewährten Hilfsprogramme zurückgreifen können, um zusätzliche Dienste anzubieten. Die traditionellen Programme sind oft gut etabliert und vor allem auch den Bedürftigen und gegenwärtigen sowie potentiellen Partnern gut bekannt. Deshalb sind sie meist nachhaltiger als neue und unerprobte Initiativen.
Viele Gesellschaften betonen die Notwendigkeit, Bargeld in die Hände der Bedürftigen geben zu müssen, damit diese ihre Gas- und Stromrechnungen zahlen können.
Das Schwierigste für die Nationalen Gesellschaften ist die mangelnde finanzielle Unterstützung angesichts des wachsenden Bedarfs an Hilfeleistungen. Die operativen Mittel, um die humanitäre Hilfe leisten zu können, sind vorhanden, aber die Güter müssen finanziert werden – und dies ist die grösste Herausforderung. Mit zusätzlichen finanziellen Mitteln könnten die Gesellschaften mehr tun. In Belarus, Moldawien, Russland und der Ukraine beispielsweise unternehmen die Netzwerke der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften beachtliche Anstrengungen, um die Situation unter Kontrolle zu behalten. Neue oder bereits vorhandene Ansätze beinhalten auch hier u.a. psychosoziale Unterstützungsprogramme für Menschen, die unter der Wirtschaftskrise leiden. Man bemüht sich darum, die Haushalte mit Bargeld zu unterstützen, damit Stromrechnungen gezahlt und Lebensmittel gekauft werden können, so dass auch hier die beschränkten ­finanziellen Mittel das Hauptproblem für die nationalen Gesellschaften sind.
95% der nationalen Gesellschaften müssen einen Rückgang ihres Einkommens als Organisation zur Kenntnis nehmen, und etwa zwei Drittel einen schwerwiegenden Einbruch. Besonders die finanzielle Unterstützung durch Unternehmen und Firmen, durch die eigene Regierung und die internationale Unterstützung nahmen ab. Im Hinblick auf individuelle Unterstützungsleistungen ist das Bild unterschiedlich: Mehr als die Hälfte der Gesellschaften berichtet von einem Rückgang an Spenden, der aber noch nicht dramatisch sei. Auffallend ist die Grosszügigkeit einzelner Individuen, die bemüht sind, mit ihrem Beitrag anderen Menschen zu helfen.
Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) ist die weltweit grösste humanitäre Organisation. Das IFRC bildet zusammen mit den nationalen Gesellschaften und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung. Das einzigartige Netzwerk der nationalen Gesellschaften, das heute nahezu alle Länder der Welt umspannt, ermöglicht die Erreichbarkeit jeder einzelnen Gemeinde durch die IFCR. Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften verkörpern die Arbeit und Prinzipien der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung. Den wachsenden Herausforderungen stellen sich die 186 nationalen Gesellschaften durch ständige Anpassung an die neue Situation und stetigen Ausbau ihrer Kapazitäten. So leistete das Rote Kreuz und der Rote Halbmond im Jahr 2009 44,8 Millionen Menschen Hilfe, 2008 waren es noch 22,8 Millionen Menschen gewesen. Die Bewegung repräsentiert 97 Millionen Freiwillige, die Hälfte davon sind junge Menschen, die menschliches Leid lindern und die dem Recht eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde und Frieden Nachachtung verschaffen.    •

1    Quelle: The economic crisis and its humanitarian impact on Europe. Testemonies from the Red Cross Red Crescent. Oktober 2009
2    «In der geographischen Entwicklungsforschung wird das Konzept der Vulnerabilität/Verwundbarkeit seit den 1980er Jahren verwendet und hat seither verschiedene Weiterentwicklungen erfahren. Verwundbarkeit ist inzwischen zu einem zentralen Begriff in der Entwicklungsforschung und der Entwicklungszusammenarbeit geworden. Im Prinzip ist das Verwundbarkeitskonzept eine Erweiterung herkömmlicher Armutsansätze. Man erkannte, dass mit Armut allein die Entwicklungsprobleme und gesellschaftlichen Krisen in der sogenannten ‹dritten Welt› nicht hinreichend beschrieben und erklärt werden können. Armut – also der Mangel an Geld und Vermögenswerten – ist nur eine von vielen Ursachen und Ausdrucksformen gesellschaftlicher Benachteiligung. Robert Chambers hat 1989 in einer Definition von Vulnerabilität dargelegt, dass Verwundbarkeit weit über Armut hinausreicht: Vulnerabilität meint nicht nur Mangel und ungedeckte Bedürfnisse, sondern einen gesellschaftlichen Zustand, der durch Anfälligkeit, Unsicherheit und Schutzlosigkeit geprägt ist. Verwundbare Menschen und Bevölkerungsgruppen sind Schocks und Stressfaktoren ausgesetzt und haben Schwierigkeiten, diese zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten resultieren nicht nur aus Mangel an materiellen Ressourcen, sondern weil den Betroffenen die gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme an Wohlstand und Glück verwehrt wird, weil ihnen Unterstützung vorenthalten wird oder weil sie nicht ausreichend in soziale Netzwerke eingebunden sind. Vulnerabilität besitzt folglich nicht nur eine ökonomische bzw. materielle Dimension (Armut), sondern auch eine politische und soziale. Verwundbar sein heißt also: Stressfaktoren ausgesetzt sein (externe Dimension), diese nicht bewältigen zu können (interne Dimension) und unter den Folgen der Schocks und der Nichtbewältigung leiden zu müssen […] Zitat: Wikipedia
3    2010 betrug die Arbeitslosenquote der 20-24jährigen in Ungarn etwa 25 Prozent, die der 25-30jährigen 13 Prozent. Auch viele Studienabgänger finden keine Arbeit. Die Gesamtquote lag bei etwa 11 Prozent. Quelle: NZZ vom 29. Januar  2011.
4    Die NZZ vom 24.1.11 berichtet vom Exodus der intellektuellen Elite: Allein im Jahr 2009 verliessen 42 000 Abiturienten wegen fehlender Perspektiven Italien.
5    Laut NZZ vom 10.1.11 haben in den letzten drei Jahren 200 000 vorwiegend junge, v.a. hochqualifizierte Spanier ihr Land verlassen – notgedrungen. Wohin? Die Arbeitslosenrate der unter 25jährigen ohne jegliche Qualifikation beträgt heute 62%.

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