mw./ts. «Vergiss es nie, und rufe es auch deinen Freunden in Erinnerung: Die Gemeinde, in der man lebt, von Grund auf zu kennen, bedeutet gleichzeitig, das gesamte Gefüge unserer Demokratie zu verstehen.» Dieser Satz bringt auf den Punkt, welches Anliegen das Staatskundelehrmittel hat, das im Kanton Tessin unter dem Titel «Voglio fare il Cittadino», zu deutsch «Ich will ein Bürger werden», herausgegeben wurde. Der Satz zeigt, dass der Leser mit diesem Werk viel mehr als ein staatskundliches Lehrmittel an die Hand bekommt. Dieses kostbare Werk gibt eine Einführung in die Grundlagen der direkten Demokratie, die nicht nur den Verstand anspricht, sondern auch das Herz berührt. Es will den jungen Menschen das lebendige Gefüge der direkten Demokratie am Beispiel einer Tessiner Gemeinde bis in die feinsten Facetten vermitteln, so dass sie fähig werden, ihre Stellung als aktive Bürger in Gemeinde, Kanton und Bund auszufüllen. Und es will uns Schweizern, ob jung oder alt, in Erinnerung rufen, an welch einzigartiger Demokratie wir teilhaben dürfen: einer Demokratie, die allein dadurch lebt, dass die Bürger ihre politischen Rechte und Pflichten wahrnehmen und ihren Beitrag zu einem menschenwürdigen Zusammenleben leisten. Auch unseren Freunden in anderen Staaten wird «Voglio fare il Cittadino» den Zugang zum Verständnis der direkten Demokratie erleichtern. Denn in der Gemeinde, im kleinsten staatlichen Gemeinwesen, muss der Aufbau der direkten Demokratie beginnen.
Um diese wertvolle Errungenschaft zu erhalten, muss unser grösstes Anliegen sein, den Willen und die Fähigkeit zum Bürgersein bei unserer Jugend zu legen. Eros Ratti, ein Kenner der Tessiner Gemeinden, wie es kaum einen zweiten gibt, stellt sich dieser Aufgabe auf herrliche Art und Weise. Im Zwiegespräch mit dem 18jährigen «Cittadino», der den dringenden Wunsch hat, Bürger zu werden, nimmt er seine Aufbauarbeit als Staatskundelehrer mit grossem Verständnis für den jungen Menschen und mit einer guten Prise Humor in Angriff. Eine zutiefst berührende und köstliche Lektüre für jeden, der Italienisch liest – und ein Muss, dieses einzigartige Grundlagenwerk zum Verständnis der direkten Demokratie in die anderen Landessprachen zu übersetzen.
In 16 Unterrichtseinheiten bringt Eros Ratti den Schülern und den anderen Lesern das Funktionieren der Tessiner Gemeinden näher, in abwechslungsreicher und ansprechender Weise, mit vielen anschaulichen Beispielen und wunderschönen Illustrationen. Nachdem Zeit-Fragen bereits die vierte Lektion zur Gemeindeversammlung als eines der Kernelemente der direkten Demokratie in Auszügen vorgestellt hat (vergleiche Nr. 17 vom 23.4.2012), soll in den nächsten Ausgaben das von einer Übersetzergruppe der Genossenschaft Zeit-Fragen ins Deutsche übertragene Buch kapitelweise abgedruckt werden.
Wir stellen an den Beginn die Einführungslektion mit dem Titel «Ich will ein Bürger werden: aber wie?» Der geneigte Leser erfährt da, was elektrisches Licht und Wasser mit Bürgersein zu tun haben und wie zentral die gleichwertige Behandlung der Bürger bezüglich der Nutzung der öffentlichen Dienste ist. Aber auch, wie Pflichtsinn und die Fähigkeit, eigenständig Beschlüsse zu fassen, die auch andere Menschen betreffen, zum Bürgersein in einer Demokratie gehören.
Mein Name ist «junger Bürger», und ich bin gegen Ende des 20. Jahrhunderts geboren, so dass ich in wenigen Tagen achtzehn Jahre alt werde.
Seit meiner Kindheit habe ich eine fixe Idee: Ich will ein «Bürger» werden. Vielleicht wegen meines Namens; vielleicht weil das Schicksal es so will; vielleicht weil ich anders als die andern war.
Fest steht, dass ich es trotz vielen Widrigkeiten geschafft habe.
Was mich in gewissem Sinne erstaunte und meine anfängliche Begeisterung etwas dämpfte, war das Fehlen jeglichen Anhaltspunktes, um das Bürgersein zu lernen.
Ich klopfte in Bellinzona an Türen (Regierungsgebäude); ich erkundigte mich bei einigen Gemeindeverwaltungen; ich telefonierte mit bekannten Leuten, ich versuchte es mit dem Internet und mit E-Mails.
Niemand konnte mir die gewünschten Auskünfte geben.
Warum wohl?
In Wahrheit kam ich zum Schluss – und das ist bereits eine Antwort auf meine Frage –, dass der «Beruf» des Bürgers in keinem noch so genauen Verzeichnis von Berufsausbildungen zu finden ist.
Es handelt sich um einen Beruf, der ganz langsam und selbständig erlernt werden muss, auf Grund der wenigen Informationen, die dir deine Familie oder die Schule mitgegeben hat, oder dem wenigen, das du von der Gesellschaft, in der du lebst, erfährst.
Ich kann aber sagen, dass ich im Unterschied zu vielen anderen Glück gehabt habe. Ein Herr aus Ascona, dem ich bei einem Spaziergang mit meiner Freundin auf der Seepromenade zufällig begegnet bin, empfahl mir, mich mit meinem Anliegen an Herrn Eros Ratti, wohnhaft in Gambarogno, zu wenden.
Ich begegnete diesem Herrn einen Tag später; das Ergebnis könnt ihr auf der nächsten Seite und allen folgenden entdecken, die seine Antworten enthalten.
Dank ihm lernte ich tatsächlich, «ein Bürger zu sein». Ich wünsche auch euch dieses Glück und deshalb gute Lektüre.
Euer «junger Bürger»
Lieber «junger Bürger»,
Gerne beantworte ich deine Fragen, denn ich erinnere mich tatsächlich, dass ich (welcher Zufall) bereits in der Primarschule von Indemini, den Wunsch verspürte, ein Bürger zu sein.
Und das nicht auf Grund des gewissenhaften und sorgfältigen Unterrichts von Lehrer Pedroni, sondern da ich in jener Zeit, den Dreissigerjahren, in der Familie und in der Schule, täglich Zustände erlebte, die viele Fragen aufwarfen.
Ich beziehe mich in meiner Antwort dabei vor allem auf das elektrische Licht und auf das Trinkwasser: Wenn du das liest, denkst du sicher, aber was haben Elektrizität und Wasser mit dem Wunsch, ein Bürger zu sein, zu tun?
Sicher gibt es da Zusammenhänge.
Als kleiner Junge besuchte ich jeweils in den Sommerferien meine Grossmutter in der Ebene, in Gerra Gambarogno, und ich fragte mich, warum es in ihrem Haus elektrisches Licht und Trinkwasser gab. Schon damals schienen mir diese Unterschiede nicht richtig.
Warum musste ich, um Wasser zu trinken, zum Brunnen am anderen Ende des Dorfes gehen?
Warum war es notwendig, dass ich mit viel Mühe die Petrollampe anzünden musste, um am Abend ein wenig Licht zu haben, um meine Aufgaben zu erledigen?
Die Antworten auf diese Fragen habe ich erst viel später gefunden, als ich gelernt hatte, ein Bürger zu sein.
Wenn du es ebenso machen willst, lies die Seiten, die ich diesem Brief beilege; mehrmals und immer wieder, bis zum Überdruss; nur so wirst du lernen, ein Bürger zu sein.
Viel Vergnügen beim Lesen, lieber «junger Bürger», und ich gratuliere dir für die wunderbare Wahl, die du getroffen hast.
Eros
Die erste Antwort und vor allem die Schilderung der Erlebnisse des Schülers Eros weisen in ihrer ganzen Fülle und Dramatik den Weg einer Erziehung zum demokratischen Bürger. Sie erklären die «Unterschiede», die es zwischen den Bürgern eines Staates geben kann, je nachdem, ob man in dieser oder in jener Gemeinde wohnt.
Unterschiede, die sich in diesem Fall auf zwei verschiedene öffentliche Dienste beziehen, die Wasser- und die Stromversorgung; Unterschiede, die heute in der Schweizer Demokratie nicht mehr vorkommen, die es aber leider an anderen Orten dieses Planeten noch gibt.
Diese Feststellung macht uns sofort auf einen der zentralen Punkte, die zu den Grundlagen der Erziehung zum demokratischen Bürger gehören, aufmerksam: die gleichwertige Behandlung der Bürger bezüglich der Nutzung der öffentlichen Dienste.
Diese Gleichbehandlung darf nicht nur auf dem «Papier» formuliert sein, sondern muss durch die konkrete Verfügbarkeit der Dienste für die Bürger auch wirklich umgesetzt werden. Diese Ziele gilt es zu verwirklichen, sei es durch eine bewusste und verantwortliche Entscheidung der interessierten Bürger innerhalb der Strukturen ihrer örtlichen Gemeinschaft oder in besonderen Fällen durch die Entscheidung der Gesamtheit der Bürger eines Staates in den bekannten Formen der Solidarität.
Abschliessend kann gesagt werden, dass Demokratie – hier und in anderen Bereichen – seitens des Bürgers folgendes bedingt: «einen ausgewogenen Pflichtsinn als Anreiz, die ihm zustehenden Entscheidungsmöglichkeiten bewusst wahrzunehmen und gleichzeitig die nötigen Fähigkeiten mitzubringen, um je nach den Umständen eigenständig Beschlüsse zu fassen, die auch seine Mitmenschen betreffen.»
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