Auszüge aus dem Vorwort des Buches «La Suisse avant et pendant la Seconde Guerre mondiale» von Christian Favre
Ich habe mich daran gemacht, alles zu lesen, was ich in die Hände bekommen konnte: Biografien, offizielle und persönliche Berichte, Interviews usw. (deren Liste am Ende dieses Buches zu finden ist), weil ich mehr über die Realität und die Wahrheit unserer Geschichte während des Krieges wissen wollte.
Während der ganzen Dauer der Polemik um die jüdischen Vermögen wurde das Wort vor allem den revisionistischen Historikern und Politikern gegeben, die viel Raum erhielten, um die negativen Aspekte dieser Zeit darzustellen. Mein Text versucht aufzuzeigen, dass es andere persönliche Berichte gibt und dass heute, 2008, schweizerische und ausländische Historiker das Blickfeld erweitern, indem sie uns die Komplexität dieser Geschichte aufzeigen, ohne jedoch so weit zu gehen, die negativen Tatsachen zu verleugnen. Die Geschichtsschreibung gewinnt wieder die Oberhand über Subjektivität und Interpretation, jetzt muss man sich nur noch dafür interessieren. Diese Geschichte ist nämlich tausendmal interessanter, als was darüber berichtet wurde.
Beim Stöbern in einem Antiquariat stiess ich auf das Buch von Werner Rings «Schweiz im Krieg 1933–1945». Ich hatte Glück, denn dieses Buch, obwohl es nicht wieder aufgelegt worden ist, ist das vollständigste, mit Ausnahme der «Geschichte der schweizerischen Neutralität» von Edgar Bonjour. Weil ich mehr darüber wissen wollte, habe ich weiter in den Antiquariaten herumgestöbert und bin jedes Mal wieder mit einem anderen, im Buchhandel nicht mehr verfügbaren Buch herausgekommen. Dann habe ich verschiedene Bibliotheken besucht und einige aktuelle Bücher gekauft, um mein Wissen zu vervollständigen. Im Internet konnte ich auch einige Berichte und Doktorarbeiten lesen oder darin nachschlagen. Eines Tages, als ich von Geschichte genug hatte, habe ich in einem Gestell für Taschenbücher gestöbert, um dort einen Roman zu suchen, und ich bin gestossen auf … Allen Dulles: «Les secrets d’une reddition» (Die Geheimnisse einer Kapitulation)! Selbstverständlich haben alle diese Lektüren meine Meinung stark beeinflusst, es könnte ja gar nicht anders sein. Wenn mein Text die Leser dazu ermutigt, einige dieser Grundlagenwerke zu lesen, ist mein Ziel erreicht: damit die wahre Geschichte der Schweiz während des letzten Krieges endlich bekannt wird. Die Zurückweisungen an der Grenze und der Handel mit Deutschland sind Teil dieser Geschichte, genauso wie der Wehrwille, die diskrete Hilfe der Armee für die Alliierten und die Widerstandsbewegungen, der Einsatz der Schweiz als Schutzmacht für 43 Länder, die humanitäre Hilfe und der Einsatz des IKRK, ganz abgesehen von der Spionage. Der politische Zusammenschluss in der Mitte und die Zurückweisung extremer Positionen verdienen auch, bekannt zu werden.
Da der grössere Zusammenhang wichtig ist, bin ich von der Gründung der Eidgenossenschaft ausgegangen, um dann zum Ersten Weltkrieg und dem Verlauf der ersten deutschen, sowjetischen und italienischen Angriffe und Annexionen zu kommen. All dies natürlich nur sehr knapp, wie sollte es auch anders sein. Deshalb ist mein Text nicht dafür bestimmt, die Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs neu zu schreiben, sondern er soll einzig den Leser anregen, ein oder mehrere der Grundlagenwerke zu lesen.
Die Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges wurde für ideologische Zwecke missbraucht. Indem die linksextreme politische Minderheit vorgab, die politischen und militärischen Behörden seien nazifreundlich gewesen, hat sie ihre Stärke gezeigt und die Schwäche der politischen Mehrheit hervorgehoben. Es folgt eine Stellungnahme in einem Blog, die deutlich macht, was dieser Kampf bedeutete:
Man erkennt, dass eine Seite den Krieg der Ideen verloren hat, wenn alle ihre Anstrengungen darauf hinaus laufen, unendlich oft die alten verlorenen Kämpfe zu wiederholen […].
Die Revision der Geschichtsschreibung war also ein Krieg der Ideen und nicht die Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Möge dies gehört werden …
Erinnern wir uns zunächst kurz daran, wie die schweizerische Eidgenossenschaft sich gebildet hat. Es hat mit einem Bund angefangen, der zwischen den Bewohnern der Täler rund um den Vierwaldstätter See, d.h. anfänglich Uri, Schwyz und Unterwalden, abgeschlossen wurde. Dies hat sich im August 1291 ereignet, unmittelbar nach dem Tod des Kaisers Rudolph von Habsburg am 15. Juli desselben Jahres. Diese Täler waren damals den Habsburgern untergeordnet. Nach mehreren Schlachten haben es die Waldstätte – so nannte man diese Region – geschafft, sich allein aus der Vormundschaft der Habsburger zu befreien und so vollständig frei zu werden. Man muss hinzufügen, dass der Kaiser ihnen zuvor die Reichsunmittelbarkeit zugesprochen hatte, die im Normalfall eher ein Lehensgebiet als eine bäuerliche Gemeinschaft betraf, aber hier war es vor allem das Interesse des Kaisers, sich mit einer Bevölkerung zu verbünden, die über die Gotthard-Achse wachte. Diese Tatsache ist kein Mythos, sondern schlicht und ergreifend die Realität eines Befreiungskrieges. Diese Leute waren vor allem Bauern und Hirten. In der Folge gelang es auch Orten, sich entweder von Lehensherren oder auch den österreichischen Habsburgern zu befreien; dies geschah genauso mit Hilfe der Waldstätte, wenn auch oft mit Verlusten. Ziemlich komplexe Ereignisse führten später die ersten Schweizer dazu, den Herzog von Burgund, Karl den Kühnen, zu bekämpfen und zu besiegen. Dies hatte zum einen die Ausweitung in Richtung französischsprachige Schweiz und zum anderen den Frieden mit Österreich zur Folge. Die Konsequenzen aus den Burgunderkriegen waren sehr schlecht für die Jugend der eidgenössischen Kantone, da sie die Bewirtschaftung der Felder abbrachen, um sich in den Armeen aller Prinzen Europas zu engagieren. Das Kämpfen war ihr Vergnügen, Plünderungen zu oft ihre Belohnung. Zum Problem der Aufteilung der Schätze Karls des Kühnen kam die Anfrage Freiburgs hinzu, in die Eidgenossenschaft einzutreten. Es war für die Waldstätte nicht selbstverständlich, ein frankophones Element in ihrem Bund zu akzeptieren – man kann es verstehen, und zwar umso mehr, als Freiburg das Gewicht der Städte gegenüber dem des Landes verstärken würde. Es wäre beinahe zu einem Bürgerkrieg gekommen. Das Wunder kam in der Person eines vollständig asketischen Eremiten daher: Niklaus von Flüe. Er schaffte es, innerhalb kürzester Zeit alle zur Einigung zu bringen. Angesichts der Umstände und der ausserordentlichen Anzahl von Meinungsverschiedenheiten kann man tatsächlich von einem Wunder sprechen.
Eine solche Kriegstüchtigkeit konnte die anderen europäischen Mächte nicht gleichgültig lassen; aus diesem Grund engagierten sie zahlreiche Schweizer als Söldner. Diese alles in allem ungesunde Tätigkeit wurde zu einer wahrhaften Industrie; Offiziere besassen ein Söldnerregiment wie ein Chef eines Unternehmens seine Arbeiter. Diese Männer, die ihre Dörfer verliessen und dort ihre unerlässlichen Arbeiten aufgaben, hatten bei ihrer Rückkehr keinen Gefallen mehr an ihrer Arbeit, insofern sie denn zurückkehrten … Man sagt, dass das Söldnerwesen und das Geld, das es einbrachte, die Grundlage für die Schweizer Banken waren. Vielleicht. Die Schlacht bei Marignano im Jahre 1515, die mit dem Sieg Franz I. endete, setzte den kriegerischen Aktivitäten der Schweizer ein Ende. Die Neutralität wurde zum ersten Mal im Jahre 1674 proklamiert während der Eroberung der Franche-Comté (Freigrafschaft Burgund) durch Frankreich. Bis zur Französischen Revolution setzte sich die Eidgenossenschaft nicht aus Kantonen oder Regionen gleichen Rechts zusammen. In der Tat besassen die Schweizer Kantone «Kolonien»: die Waadt und der Aargau gehörten Bern, das Unterwallis dem Oberwallis (das Wallis gehörte jedoch noch nicht zur Eidgenossenschaft), das Tessin gehörte mehreren Kantonen der Zentralschweiz. Des weiteren lag die Macht innerhalb der Eidgenossenschaft in den Händen von Patrizierfamilien. Die Französische Revolution heizte den Aufstand in der Schweiz an. Die Schweiz verdankt Napoleon, dass er den föderalistischen Geist des Landes verstanden hat, trotz der heroischen Kämpfe der Nidwaldner Männer und Frauen gegen die französische Armee. Die von Napoleon auferlegte Mediationsakte stellte die Grundlage der neuen Eidgenossenschaft dar. Die Schweiz hatte jedoch ihre Freiheit verloren und zahlte einen hohen Tribut an Geld und Männern (16 000) an Frankreich. Ihre Freiheit verdankt die Schweiz der Ankunft der Koalitionsmächte – Österreich, Preussen und Russland – gleich nach dem Fall Napoleons. Sie verjagten die Franzosen und hinderten die «Kolonial-Kantone» daran, ihre alten Untertanengebiete wieder zu erobern. So verdanken die Waadt und der Aargau Zar Alexander I. die Wahrung ihrer Unabhängigkeit gegenüber Bern. Genf und das Wallis, die zuvor schlicht und einfach zu Frankreich gehörten, wurden zu Schweizer Kantonen. Am 30. Mai 1814 schlossen die Koalitionsmächte in Paris ein erstes Abkommen mit Frankreich ab. Artikel 5 des Vertrages besagte, dass «die Schweiz unabhängig weiterhin sich selbst regieren wird», aber ein Geheimartikel fügte hinzu, dass sie «unschädlich gemacht und unter die Aufsicht und den Schutz der Grossmächte gestellt wird». Die Schweizer versammelten sich in Zürich, wo sie einen neuen Bundesvertrag ausarbeiteten, den sie am Wiener Kongress den Grossmächten vorlegten. Dieser Kongress anerkannte die Neutralität der Schweiz und ihre neue Verfassung, die unter dem Namen Bundesvertrag von 1815 bekannt wurde.
Nach der Niederlage von Napoleon stellten die Koalitionsmächte so gut wie möglich die Staaten, die Regierungen und die Institutionen, so wie sie vor der Revolution existierten, wieder her. Daher kommt die Bezeichnung «Restauration» für diese Zeit. Es ist selbstredend, dass diese Zeit der Restauration alles andere als demokratisch war: Die alten Patrizierfamilien gelangten wieder zu ihren Ämtern; die Folter, die in der Revolution abgeschafft worden war, wurde wieder praktiziert … Das konservative Regime gewann Oberhand. Man muss also jene Politiker dieser Zeit würdigen – im besonderen die Radikalen –, die das Land nach und nach zur modernen Demokratie geführt haben.
Die aktuelle Verfassung basiert auf jener von 1848. Im 19. Jahrhundert ist auch die Gründung des Roten Kreuzes durch Henri Dunant von Bedeutung. Diese Institution gibt dem, was man die Schweizer Werte (jedes Land hat seine eigenen Werte) nennen kann, eine welsche Note. Im 19. Jahrhundert, genauer 1859, vollzieht sich auch das Verbot der fremden Dienste: Die Schweizer haben sich definitiv von den Tötungsakten losgesagt, die nicht im Zusammenhang mit der Landesverteidigung standen, und man kann sich gut vorstellen, dass das Rote Kreuz im Inneren des Landes ein Mitgefühl für die Kriegsopfer zu entwickeln half. Ab dieser Zeit hat sich im Geist der Schweizer eine Abneigung entwickelt, sich an einer Aktion ausserhalb ihrer Landesgrenzen zu beteiligen, die zivile oder militärische Opfer nach sich ziehen könnte. Aber gleichzeitig hat sich eine ausserordentliche Fähigkeit der geistigen Landesverteidigung ausgeprägt, bei welcher jedes Schuldgefühl verschwindet, wenn es darum geht, einen feindlichen Soldaten zu töten. Dies ist schliesslich eine Haltung, die mit dem Denken des Theologen Erasmus von Rotterdam übereinstimmt, einem erklärten Pazifisten, der die Existenz einer Armee allein zur Verteidigung zugestand. Man wird im übrigen feststellen, dass die Schweizer, als sie während der Zeit der Schlachten von Grandson und Murten die grösste militärische Macht in Europa waren, zu keinem Zeitpunkt irgendein Streben nach Ausweitung ihres Territoriums hatten bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Bern im Hinblick auf die Waadt. Es handelt sich also um eine ganz spezifische, besondere Haltung, die man Schweizer Neutralität nennt, die genauso gut negativ wie positiv interpretiert werden kann.
Im 19. Jahrhundert kamen Revolutionäre in die Schweiz, sei es um dort Zuflucht zu finden oder um die Revolution in ihrem Land vorzubereiten. Dies traf auf zahlreiche Russen zu, von denen der berühmteste Lenin war. Der deutsch-französische Krieg von 1870 wurde mit der blutigen Episode der Commune beendet, die einen Exodus von Kommunarden in die Schweiz zur Folge hatte. Es kamen anarchistische Bewegungen auf, vor allem in den Neuenburger Bergen. Die Aufnahme eines etwas speziellen Schlags von Menschen war nicht gerade dazu angetan, den Machthabern in den Herkunftsländern der künftigen Revolutionäre zu gefallen. Sie bezeugten mehr als einmal ihren Ärger über die Schweiz, die sie als Kloake Europas bezeichneten. Lesen Sie zu diesem Thema: die «Memoiren eines Revolutionärs» (von Peter Kropotkin).
Dies sei nur erwähnt, um zu verstehen, weshalb die Schweiz am Vorabend des Ersten Weltkrieges bei ihren Nachbarn auf wenig Verständnis traf, als es um die Verhandlung ihrer Versorgung ging, abgesehen davon, dass sie darauf in keiner Weise vorbereitet war.
Gleich nach Ausbruch des Krieges im Jahr 1914 wurde die Schweiz von den Kriegsparteien strengster Kontrollen aller Art unterworfen, die darüber wachten, dass ihre Lieferungen nicht dem Feind dienen konnten. Ausländische Kontrolleure überprüften im Inneren des Landes alles, was sie nur konnten, und schränkten so unsere Freiheit stark ein. Während dieser Zeit lieferten die USA den grössten Teil der Kohle. Die Lieferschwierigkeiten zogen Versorgungslücken in allen Bereichen nach sich und verschlimmerten die Situation der Arbeiter. Zur selben Zeit, wie es überall und immer in Kriegszeiten vorkommt, bereicherten sich gewisse Profiteure trotz der Erhöhung der Kriegssteuer. Dies war eine Situation, die ihren Höhepunkt bei Kriegsende im Oktober 1918 erreichte, als der Generalstreik ausgerufen wurde. Da die russische Revolution bereits ein Jahr zuvor stattgefunden hatte, war dies nun die Gelegenheit, ihren Jahrestag zu begehen. Die grosse Mobilisierung der Armee setzte diesem Konflikt ein Ende. In den darauffolgenden Jahren prägte dieses Ereignis die Gemüter stark, sowohl auf linker als auch auf rechter Seite – zum Beispiel auf rechter Seite beim Freiburger und künftigen Bundesrat Jean-Marie Musy, der Speerspitze des Antikommunismus, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an Nationalsozialismus und Faschismus als Gegengift zum Kommunismus glaubte.
Wir können also während des Ersten Weltkriegs von einem deutlichen Antagonismus zwischen links und rechts sprechen. Hinzu kommt ein weiterer Antagonismus: die Schweiz war deutlich in pro-deutsche und pro-französische Lager gespalten. Eine Spaltung, die sich anlässlich des Angriffs auf Belgien verschlimmerte, da er von den Deutschschweizern wenig bedauert wurde. Dieses Nichtbedauern liess sich sehr gut erklären, da die Ursachen des Konflikts nicht die Schweiz selbst betrafen und weil es, wie später mit dem Nationalsozialismus, keine totalitäre Ideologie gab, die es zu verwerfen galt. Es gab keine Beeinträchtigung der französischen und/oder deutschen Kultur. Die Neutralität wurde von den Briten wenig akzeptiert – allen voran von Churchill, der diese Haltung nicht verstehen konnte, trotz der zahlreichen Dienste, die die Schweiz leistete, vor allem mit dem Internationalen Roten Kreuz. Das Beispiel des Ersten Weltkriegs zeigt auf besonders deutliche Weise, dass ein militärischer Einsatz auf der einen oder anderen Seite sogleich einen Bürgerkrieg in der Schweiz nach sich gezogen hätte … Wir hatten keine andere Wahl, als den Weg der Neutralität zu gehen. •
Quelle: Christian Favre, La Suisse avant et pendant la Seconde Guerre mondiale, Lyon 2011, S. 7–14,
ISBN 978-2-35508-841-4
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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