Mexiko – ein Land in Bewegung

Mexiko – ein Land in Bewegung

von Lisz Hirn

Wer Mexiko kennenlernen will, kommt an Tenochtilán, aztekisch für Mexiko City, nicht vorbei. Die Stadt ist der perfekte Beginn für eine Reise durch Mexiko. Hier schlägt das Herz des Landes, hier wurde und wird Geschichte geschrieben. Wer in dieser Stadt ankommt, wird überrascht werden. Sie ist ganz anders und doch genauso, wie man es sich vorgestellt hat: laut, stickig und voller Menschen. Aber vor allem: voller Widersprüche.
Wie kann sich das Zusammenleben so vieler unterschiedlicher Gruppen von Menschen gestalten? Rund 112 Millionen Einwohner hat ganz Mexiko, davon wohnen rund 21 Millionen in Mexiko City. Es erscheint selbstverständlich, dass es in solchen bevölkerungsreichen Lebensräumen zahlreiche Probleme zu bewältigen gibt: Drogen, Smog, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Armut, Naturkatastrophen, Diskriminierung, Kriminalität. Auch die «gringos», sprich US-Amerikaner, haben ihre Rolle in der mexikanischen Misere; beide Länder sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch historisch miteinander eng verwoben. Eines ihrer grössten Probleme ist der Drogenhandel. Diesem einen Riegel vorzuschieben, hat sich Präsident Felipe Calderón verschworen. Der Kampf gegen die Drogenbanden hat bis jetzt Abertausende Menschenleben gefordert. Solange jedoch Geld von seiten der USA fliesst, wird dieser auch weitergehen, denn das Angebot richtet sich bekanntlich nach der Nachfrage. Ausserdem bestreiten unzählige Mexikaner dadurch ihren Lebensunterhalt; der Drogenhandel stellt quasi ihre Lebensgrundlage dar und sichert ihre Zukunft. Der Staat konnte das bis dato nicht.

Revolution und La Calaveria Catrina

Kaum ein anderes Land hat in seiner Geschichte so viele «Revolutionen» erlebt wie Mexiko. Ein politisches System löst das andere gewaltsam ab, nur um seinerseits wiederum korrumpiert und gewaltsam abgeschafft zu werden. Es gab indigene Könige, hispanische Vizekönige, eine französische Besatzung, einen Kaiser habsburgischer Herkunft, den ersten indigenen Präsidenten Amerikas, eine Diktatur und eine Einparteienherrschaft, und seit 2006 gibt es Felipe Calderón (PAN: christdemokratisch-konservativ) an der Staatsspitze.
Es gibt aber nicht nur gewaltsame Revolutionen und Umbrüche, auch eine Art von intellektueller Rebellion ist vielerorts feststellbar. Als Reisender wird man in Mexiko immer wieder seltsame und oft pompös bekleidete Skelette sehen. Als Erfinder dieser satirischen Gestalten gilt José ­Guadalupe ­Posada, der diese zur Kritik der Eliten und der politischen und sozialen Ordnung im vorrevolutionären Mexiko einsetzte. Das berühmteste ist wohl das Skelett mit breitem Hut und feinem Kleid – La Calavera Catrina. Diese Dame trifft man im Laufe der Reise an vielen Orten wieder. Sie ist fixer Bestandteil der vielfältigen mexikanischen Kulturlandschaft wie auch die «cocina mexicana».

Mole und Machismo

An Mexikos Küche kommt man als Feinschmecker nicht vorbei. Selten sind Kultur und Essen so verschmolzen wie in Mexiko, wo jede Region ihre eigenen Spezialitäten, ihre eigenen Rezepte und die dazugehörigen Geschichten bietet. Das indigene Erbe zeigt sich an der Vorherrschaft des Mais in der mexikanischen Küche, der einfach überall und in grossem Ausmass angebaut wird. Mais ist das Grundnahrungsmittel Nummer eins; die verschiedenen Salsas und Moles verraten die regionale Herkunft des Koches. In Mexiko isst man scharf, vor allem wer ein richtiger Mann sein will. Haushalt und Küche ist Frauensache. Auch wenn nicht jeder Mexikaner einen Sombrero trägt, bewahrheiten sich noch immer viele Klischees in bezug auf die Geschlechter. Die Frau ist für Haus und Kinder verantwortlich, der Mann traditionellerweise für den Haupterwerb und den Erhalt der Familie. Obgleich sich die Fronten lockern, sind Frauen noch immer benachteiligt, ob in der Ausbildung, im Beruf oder im Alltagsleben. Bedenklich ist vor allem die Gewalt gegen Frauen in grossen Städten wie Ciudad Júarez und in abgelegenen Dörfern. Dieser Problematik versucht sich die jetzige Regierung und ihr Präsident Felipe Calderón anzunehmen, denn sie hat längst erkannt: Auch wenn die Frauen noch oftmals ihre alten, prachtvollen, bestickten Trachten tragen und die Männer traditionellerweise die Hosen anhaben, läuft in Mexiko ohne Frauen nichts mehr – weder Wirtschaft noch soziales Zusammenleben.

Soziale Stabilität und Fiestas

Und das soziale Zusammenleben gestaltet sich – wie bereits mehrfach angedeutet – äusserst schwierig. Ein Mittel, dieses zu vereinfachen, sind die ausgiebig und lautstark gefeierten Fiestas. Diese dienen aber nicht nur dem persönlichen Vergnügen, sondern auch der sozialen Stabilität und Solidarität der Indigenas und der vorwiegend aus Mestizen bestehenden Bevölkerung. Im Jahreszyklus gibt es zahlreiche Anlässe, die gefeiert werden, jedoch werden neben den traditionell katholischen Festen vor allem zwei Tage besonders begangen:
Am 15. September, an dem 1810 die Unabhängigkeit Mexikos von Spanien sprichwörtlich eingeläutet wurde, wird wohl die grösste Fiesta Mexikos gefeiert. Seit diesem Tag gilt der revolutionäre Priester Miguel Hidalgo aus dem Dorf Dolores als Staatsheld und sein Name findet sich auf Plätzen und Strassen in allen Städten Mexikos wieder. Die Feierlichkeiten werden ausufernd in jedem Teil des Landes begangen. Der Präsident nimmt rituell einen wichtigen Platz in den Zeremonien ein, da er dem Volk offiziell zur Mitternacht den sogenannten Grito de Dolores («Schrei von Dolores») – «Viva Mexiko!» – verkündet. Schon Wochen vorher laufen die Vorbereitungen zur Dekoration öffentlicher Plätze und der Verkauf von Billig-Preziosen wie Fahnen, Pfeifen, Luftballons in den Farben der mexikanischen Flagge.
Der zweite November, der sogenannte Dia de los Muertos («Tag der Toten»), wird ebenfalls gross gefeiert. Gräber der verstorbenen Verwandten werden besucht und mit allerlei selbstgebackenem und gekauftem Süsswerk dekoriert, die Kinder mit Kleinigkeiten beschenkt und im grossen Rahmen wird gegessen und gezecht. Ursprünglich kommt der Feiertag aus der indigenen Tradition, in der man glaubte, dass an einem Tag des Jahres die Toten zu den lebenden Verwandten zurückkehren würden und ausgiebig gespeist werden müsste, um sich von der langen Reise aus dem Totenreich zu erholen. Was als Feiertag Allerseelen in der christ­lichen Tradition Mitteleuropas in ruhiger und besinnlicher Atmosphäre begangen wird, wird in Mexiko zu einem farbenfrohen und freudigen Spektakel, welches im Laufe der Jahrhunderte erfolgreich indigene und christliche Elemente in sich aufgenommen hat.

Zuckersüsse Totenköpfe und die Macht des Katholizismus

Nachdem die spanischen Konquistadoren unter Hernán Cortes das Land 1521 für die spanische Krone (Reina Isabel la Catolica) in Besitz nahmen, versuchten die spanischen Missionare die indigene Bevölkerung zum christlichen Glauben zu bekehren. Dies gelang ihnen durch die Aufnahme und Transformation präkolumbianischer Rituale und Feste in das katholische Brauchtum. Die zuckersüssen Totenköpfe, die es rund um den Dia de los Muertos zu kaufen gibt, zeugen von der erfolgreichen Mischung zweier unterschiedlicher religiöser Anschauungen. Heutzutage ist die Macht der katholischen Kirche nach wie vor ungebrochen: 90 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur Staatsreligion, nur in Brasilien gibt es noch mehr Gläubige. Kathedralen und Kirchen sind stets gut besucht, der Verkauf von religiösen Souvenirs bietet ein gutes Auskommen für viele Familien.

Cortes’ politisches Erbe

Ein anderes gutes Auskommen bietet der Tourismus, den vor allem die Gringos auf der Halbinsel Yucatán antreiben. Montezuma hielt Cortes’ Ankunft für die Rückkehr seines lang ersehnten Stammesgottes; eine Bewunderung, die ihm und seinem Volk zum Verhängnis wurde. Nur eine der vielen negativen Erfahrungen, die die indigene Bevölkerung mit den «weissen» Besatzern machen sollte. Als solche werden heute vorwiegend die urlaubenden US-Amerikaner empfunden. Viele (indigene) Mexikaner, vor allem in ruralen Gebieten, wahren deshalb Distanz zu den Gringos und den Europäern und begegnen ihnen mit einem fühlbaren Misstrauen, welches sich in den Jahrhunderten der Diskriminierung und Unterdrückung aufgebaut hat. Man liebt und hasst die Gringos, vor allem weil man sie braucht. Sei es für die Export- und Importbeziehungen, sei es für den Tourismus. Letzterer wird für den Wohlstand der Mexikaner immer wichtiger, vielleicht haben auch deshalb rigorose Polizeimassnahmen gefruchtet, die vor allem Touristenzentren sicherer machen sollen. Wie sich das Land weiterentwickeln wird, steht in den Sternen. Mexiko ist ein Land, das nicht zur Ruhe kommt. Vielleicht liegt darin seine Stärke, auf jeden Fall aber sein Reiz.    •

Mag. Dr. phil. Lisz Hirn ist als Schriftstellerin und Philosophin sowie als Referentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Weiter ist sie als freiberufliche Künstlerin an diversen internationalen Projekten und Ausstellungen beteiligt. Die Vielreisende lebt derzeit in Österreich. Kürzlich von der Autorin im Verlagshaus Hernals erschienen: «Friedrich Nietzsche» (2009), «Global Humanism – Möglichkeiten und Risiken eines neuen Humanismusmodells» (2010) und «Vernünftige Wege zum Glück – ein philosophisches Arbeitsbuch» (2011).
E-Mail: lisz.hirn@gmx.at
Aus: International. Die Zeitschrift für internationale Politik IV/2011. www.international.or.at

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