«Wenn ich den Studenten nicht mehr in die Augen schauen kann...»

«Wenn ich den Studenten nicht mehr in die Augen schauen kann...»

Goldman Sachs verliert seine Anziehungskraft

von Kevin Roose

Die Wallstreet, einst ein Magnet für die Besten und Intelligentesten von Amerika, steht vor einem Nachwuchsproblem
Der Verlust an Ansehen, der während der Finanzkatastrophe einsetzte, nahm auf Grund der anhaltenden Konjunkturschwäche und einer Reihe von aufsehenerregenden Skandalen, die ein kritisches Augenmerk auf die Grossbanken lenkten, weiter ab.
Der jüngste PR-Sturm wurde diese Woche durch einen Rücktrittsbrief auf der Gast­kolumnen-Seite der «New York Times» ausgelöst, den Greg Smith, ein früherer geschäftsführender Direktor von ­Goldman Sachs geschrieben hat. Smith, der die Bank wegen ihrer «toxischen und destruktiven» Firmenkultur zur Rede stellte, sagte, der Zeitpunkt seiner endgültigen Erkenntnis sei gekommen, als er den College-Studenten die Vorteile einer Karriere bei Goldman schmackhaft machen sollte.
«Als ich merkte, dass ich den Studenten nicht länger in die Augen schauen und ihnen erzählen konnte, was für ein grossartiger Arbeitsplatz dies sei, wusste ich, dass es Zeit war zu gehen», schrieb er.
Gängige Meinung ist – und das PR-Team bei Goldman fürchtet sich sicher davor –, dass nervöse Kunden und Angestellte, die den Kopf hängen lassen, solche Kontroversen am genauesten verfolgen. Aber Goldman Sachs und andere Finanzunternehmen sollten sich auch darüber Gedanken machen, dass sie College-Studenten und Studenten von Wirtschaftshochschulen abschrecken könnten, von denen manche über die einstigen Prestige-Jobs in der Finanzwelt die Nase rümpfen.
Cory Finley, ein Student, der kürzlich in Yale abgeschlossen hat, bewarb sich während seines letzten Jahres am College um eine Stelle bei Bridgewater Associates, einem grossen Hedgefonds mit Sitz in Connecticut. Finley, 23, sagte, dass Struktur und Prestige eines hochbezahlten Jobs in der Finanzwelt «sicher etwas Verlockendes» haben. Aber er entschloss sich schliesslich, statt dessen seinen Traum zu verwirklichen und Theater­autor zu werden.
«Das erfüllt mich mit tiefer Befriedigung», sagte Finley, der ein Stück mit dem Titel «Die Privatwirtschaft» verfasst hat, das vom Rücktritt eines Hedgefonds-Angestellten handelt. «Ich verurteile Menschen nicht, die in die Finanzwirtschaft gehen, aber für mich persönlich ist das nichts.»
College-Studenten, die einst von prestigeträchtigen Banken angezogen wurden wie die Motten vom Licht, wenden sich auf der Suche nach Erfolg zunehmend anderen Wirtschaftszweigen zu. Insider sagen, dass pein­liche Zeugnisse aus dem Alltag der ­Finanzwelt die Möchtegern-Banker sogar davon abhalten können, sich für Stellen bei den auserwähltesten Firmen zu bewerben.
«Das ist ein bedeutendes Problem für Goldman», sagte Adam Zoia, CEO der Stellenvermittlungsfirma Glocap Search, deren Kunden viele Anwärter für Arbeitsplätze in Grossbanken und Hedgefonds sind. «Ihr Ruf als Investmentbank, zu der man unbedingt gehen muss, ist eindeutig in Gefahr.»
Ein früherer Börsenfachmann bei Goldman entschloss sich kürzlich, die Firma zu verlassen, nachdem die Boni für einen Finanz-Job den Aufwand nicht mehr aufwogen. Er arbeitet jetzt für weniger Geld in einem kleinen neugegründeten Technologie-Unternehmen.
«Vielleicht ist Smith ein Katalysator», sagte der Angestellte, der anonym bleiben wollte, weil viele seiner Freunde noch bei der Bank arbeiten.
In der Finanzwelt «hat es immer unglückliche Menschen gegeben», fügte er hinzu, «aber in diesem Jahr merken die Leute, dass die Dinge strukturell bedingt anders sind.»
Die kleineren Gehälter machen manchen Studenten, welche die Wallstreet nicht mehr länger als schnellsten Weg zu siebenstelligen Löhnen ansehen, die Entscheidung leichter. Im vergangenen Jahr reduzierten die Gewinnrückgänge vieler Firmen an der Wallstreet einige der Abgeltungen von Bankern von stratosphärischen Höhen auf nur noch grosszügig. Bei Morgan Stanley wurden die Spesen auf USD 125’000 gedeckelt; für einige Goldman-Angestellte wurden die jährlichen Gewinnausschüttung um die Hälfte reduziert.
Zum Chor des Unmuts kommt hinzu, dass Studenten auf ihrem eigenen Campus der Kritik ausgesetzt sind. Vergangenen Herbst standen in Yale und Harvard Gruppen von Protestierenden draussen bei den Anwerbe­veranstaltungen der Banken, riefen Slogans und hielten Schilder hoch mit Sprüchen wie «Nutze Deine Chance, gehe nicht in die Finanzwelt». In Princeton unterbrach eine Gruppe, die der Occupy Wall Street Bewegung nahesteht, Sitzungen von JP Morgan Chase und Goldman Sachs und drängte ihre Mitstudenten zur Auflehnung gegen «die Campus-Kultur, welche die krummen Geschäfte der Wall Street als prestigeträchtigen Weg für die Karriere weisswäscht».
Karen Ho, ausserordentliche Professorin für Anthropologie an der Universität von Minnesota, die die Kultur der Wall Street studiert hatte, sagte: «Alles, von Occupy Wall Street bis zu grösseren kritischen Diskursen von überbezahlten Topmanagern, all das hatte einen ‹trickle-down effect› [Auswirkungen nach unten].»
Die schwindende Anziehungskraft der Finanzwelt wurde durch das explosive Anwachsen der Technologie-Industrie beschleunigt, die sich an einige der Spitzen-Hochschul­absolventen heranmacht, die einst blind in die New Yorker Grossraumbüro-Zellen marschierten. Bei einer Umfrage der Beratungsfirma Universum im Jahr 2011 stuften 6 700 junge Berufstätige Google, Apple und Facebook als begehrteste Arbeitsplätze ein; JP Morgan Chase, diejenige Bank, die bei der Umfrage den höchsten Platz erreichte, schaffte es nur auf Platz 41.
Bei der diesjährigen interaktiven SXSW (South by Southwest) Konferenz in Austin, Texas, wurde ein Panel durchgeführt zum Thema «Hält junge Leute von der [Wall] Street ab: Wall Street versus Firmenneugründungen», um sich unter anderem damit zu befassen, ob die Finanzindustrie dafür verantwortlich ist, was die Veranstalter einen «Mangel an Förderung einer Innovationskultur» nannten. Chris Wiggins, ausserordentlicher Professor für angewandte Mathematik an der Columbia Universität, der auf dem Podium sass, sagte, er beobachte, dass die Studenten vor der Wall Street zurückscheuen und sich vermehrt Branchen zuwenden, wo sie arbeiten und profitieren können, ohne dass ihre Moralität unter die Lupe genommen wird.
«Die Behauptung des Investment-Bankings, es diene einem sozialen Zweck, indem es ‹den Kapitalismus ölt›, hat ausgedient», sagte Professor Wiggins. «Es ist einfach sehr schwierig für junge Menschen zu glauben, dass sie heute irgendeinem sozialen Zweck dienen.»
An Top-Colleges und Wirtschaftsschulen, welche die Wall Street einst als heiligen Boden betrachteten, hat sich der Schwerpunkt verlagert. Im Jahr 2008, dem letzten  Einstellungsjahr vor der Finanzkrise, nahmen 28% der Abgänger der Abschlussklasse in Harvard eine Stelle in der Finanzwirtschaft an. Im vergangenen Jahr fiel diese Zahl auf 17%.     •

Quelle: International Herald Tribune. © IHT, 16. März 2012
(Übersetzung: Zeit-Fragen)

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